Plopp und Plepp

Wann auch immer in der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel

Auf allen vieren kroch sie durch den Matsch. Die schwarze, stinkende Brühe stand ihr bis zu den Ellenbogen. Es scherte sie nicht, sie kannte es kaum anders. So wie immer ertrug sie die innige kühle Umarmung, alsbald würde der Schlamm auf Haut und Kleidung trocknen und ein Teil von ihr werden. Sie legte ihn sich an wie ein dickes Fell, er gehörte in ihr Leben. Leben?

Klingt nach mehr, als es ist, dachte sie.

Sie fristete ein Dasein ganz unten, hauste in einem Verschlag aus Öltüchern und Brettern auf dem tiefsten Ring dieses elendigen Schlundes, der sich Grubenstedt schimpfte. Eine Stadt in der Form eines gigantischen Trichters – alle anderen guckten und kackten auf sie herab.

Dieses Drecksloch verdankte seine Existenz den Schätzen unter ihm. In einem unüberschaubaren Geflecht aus Gräben, Tunneln und Schächten bohrten sich die Grubler auf der Suche nach Erzen, Artefakten und Facettsteinen für die Zauberspucker in die Erde wie Maden in fauliges Fleisch. Und es gab einige wenige, die ließen bohren. Sie residierten ganz oben, ebenerdig, umgeben von weißem Marmor, im Palastring.

Doch egal aus welchem Ring – unentwegt sickerte die stinkende Kloake durch Rillen, Rinnen und Riefen in den Schlammring hinunter, in die Heimat des Abschaums.

Mein Zuhause. Und da es seit Tagen regnet, wird es immer schlammiger und abschaumiger.

Was sie besaß, führte sie mit sich: Leinenlumpen an Armen und Beinen. Angesichts ihres Zustandes verbot sich der Gebrauch der Wörter Hemd und Hose von allein. Darüber trug sie ein zerfetztes Wams und eine Gürteltasche aus Rattenfell, gehalten von einer um die Taille gebundenen zerfransten Kordel. Und nicht zu vergessen: Zwischen ihren Zähnen klemmte der Haltebügel ihres wertvollsten Besitzes – eine Öllaterne, die einen bleichen Schein in die Schwärze warf. Der einzige Lichtblick hier unten. Die beiden offenen Seiten konnte sie mit Blenden zuschieben, was sie schon einige Male davor bewahrt hatte, von Schildwachen, Bergarbeitern, Glücksrittern oder schlimmeren Gestalten entdeckt zu werden. Denn natürlich dürfte sie nicht hier sein. Illegales Betreten, Graben, Schürfen wurde streng bestraft.

Sie war weder kräftig, noch konnte sie gut kämpfen, daher blieb sie lieber im Verborgenen.

»Kröte, alles an dir ist klein bis auf deine Klappe«, behauptete ihr bester und einziger Freund Wacker – ein ehemaliger Söldner, der nun als blinder Bettler in der Bresche seinen Lebensunterhalt verdiente. Eine solche Bemerkung ausgerechnet aus Wackers Mund – von einem Mann, der sein Augenlicht verloren hatte und gar nicht genau wissen konnte, wie sie aussah. Lediglich ihre Hände hatte er vor einigen Monden betastet, das schien ihm einen Eindruck verschafft zu haben.

Ja, ihr Freund nannte sie Kröte. Ihre Feinde auch. Von Letzteren gab es etliche Hände voll, in dieser Beziehung war sie reich gesegnet – von wem auch immer.

Kröte wand sich durch den engen Tunnel. Nur sie benutzte diesen Weg – einen stillgelegten, halb verschütteten Nebenstollen –, denn wie sonst sollte sie an den Schildwachen vorbeikommen, die selbst bei diesem Dreckswetter den Haupteingang zur Mine bewachten?

Vor ihr löste sich ein Teil der Wand. Sie hielt inne. Lehmbrocken rutschten gurgelnd in den Schlamm. Stirnrunzelnd legte sie den Kopf in den Nacken und betrachtete den First, wie die Grubenarbeiter die Stollendecke nannten.

Gegen die Regenmassen kamen auch die Schraubpumpen nicht an, egal wie schnell sich deren Treträder drehten. Die Röschen, tiefe Rinnen in der Stollensohle, die das Wasser ableiten sollten, waren hoffnungslos überflutet. Schwarzes Wasser von oben, von rechts und links – hartnäckig suchte es sich seinen Weg. Und fand ihn immer – und zwar bergab. Wenigstens darauf konnte sie sich verlassen.

Wie auch immer – wenn der ganze Müll über ihr zusammenkrachte, würde sie sich keine Sorgen mehr um ihre nächste Mahlzeit machen müssen. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, knurrte ihr Magen wie ein Wachhund. Dabei hatte sie sich doch vorgenommen, derlei Wörter aus ihrem Kopf zu verbannen: Mahlzeit, Nahrung, Essen, satt. Nichts als Wunschblasen, zu schön, um wahr zu sein.

In dieser Enge hatten Träume keinen Platz.

Also weiter durch diesen verschissenen Kriechtunnel.

Endlich weitete sich der Gang sowohl zur Seite als auch nach oben. Sie richtete sich auf, nahm die Laterne in die Hand und watete durch die kniehohe Pampe des Bruchs. Der Zutritt zur gefährlichsten Mine war streng reglementiert. Bis auf Schlammschippen, Schlammschleppen und Schlammpumpen war den Siebtringlern so gut wie alles verboten. Und das Betreten des Bruchs noch verbotener; eines Ortes voller Geheimnisse aus vergessenen Zeiten – so tief wie gefährlich. Vor einigen Jahren waren hier geheimnisvolle Artefakte gefunden worden, was Schatzsucher und Glücksritter aus dem ganzen Reich angelockt hatte. Kreuz und quer war gebuddelt, gehackt, gebohrt worden. Und gestorben. Viele waren im Schlamm und im Wildwuchs der ungesicherten Tunnel verschwunden – und die Überlebenden mit leeren Händen, dafür voller Albträume, wieder aus den Löchern herausgekrochen. Der Ruf der Minen hatte gelitten, der Gewinn auch, denn immer weniger Menschen waren nach Grubenstedt gekommen. Daher hatte die Obrigkeit den Bruch gesperrt und vergab nur noch Schürfrechte für die offiziellen Bereiche der Mine.

Obgleich in diesem Teil der Mine seit Jahren kein Artefakt mehr gefunden worden war, glaubte Kröte fest daran, dass es hier noch magische Gegenstände gab. Glücklicherweise kannte sie – dank ihrer zahlreichen Erkundungstouren hier unten – verborgene, von der Natur im Schwammstein geschaffene Tunnel, die in keiner Karte verzeichnet waren und mit deren Hilfe sie unbehelligt in die Tiefen vorstieß.

Natürlich erzählten die Grubler auch gern von Dämonen und Monstern, die tief im Bruch hausten und am liebsten das Fleisch von Menschen fraßen, die sie zuvor, des guten Geschmacks wegen, möglichst lange gequält hatten. Kröte pfiff auf das Gerede. Gebrabbel füllte keinen Magen.

Ganz nach unten würde sie es heute nicht schaffen – zu viel Schlamm, zu wenig Zeit. Doch dazwischen gab es genügend Örtlichkeiten, wo das viele Wasser Schätze aus dem Dreck hervorspülen mochte. Niemand kannte dieses finstere Labyrinth so gut wie Kröte. Irgendwann würde sie ein Stück magisches Glück ergattern und ans Tageslicht befördern.

Sie erreichte den Grottenschacht, ein seigeres Loch, so breit wie der Gang, das senkrecht nach unten führte. Wasserfallartig ergoss sich der Modder in die Tiefe. Normalerweise ermöglichte ein Baumstamm mit Trittkerben den Zugang zu tieferen Regionen. Dort unten verbarg sich eine Grotte mit wundersamen Steinzapfen, die von der Decke hingen. War der Untergrund so rutschig wie heute, konnte niemand dort hinuntersteigen. Nicht einmal Kröte.

Eine rutschige Planke führte auf die andere Seite, flink balancierte sie darüber hinweg. Zum ersten Mal seit Betreten des Bruchs spürte sie trockenen Boden unter den Füßen. Sie folgte dem Gang, bog dann zweimal links und einmal rechts ab, wobei sie etliche abzweigende Tunnel ignorierte. Das Rauschen des fließenden Wassers verebbte langsam, wodurch vereinzelte Tropfgeräusche in den Vordergrund traten, die unterschiedlich klangen, je nachdem, in welcher Tiefe sie auf welchen Untergrund trafen. Ein vertrautes Lied in stets neuem Rhythmus: plopp, plepp, plopp, plipp.

Kröte erreichte eine Kreuzung, wo ein frischer Hauch ihre Nase und Wangen umwehte – für eine bessere Luftzirkulation hatten die Grubenleute diesen Tunnel durch einen schmalen Schacht mit dem darüberliegenden Stollen verbunden. Egal, wo man sich in der Grube befand – zwei Dinge waren stets lebensnotwendig: Luft und Licht.

Von hier zweigten drei weitere Wege ab. Der rechte Gang führte in vielen Windungen zurück zum Hauptstollen, der linke tiefer in die Grube hinein, und direkt vor Kröte tat sich ein ehemaliger Schürftunnel auf, von dem sie wusste, dass er als Sackgasse endete. Ausgerechnet diese Richtung schlug sie ein, warum, wusste sie nicht genau. Etwas Undefinierbares lockte sie. Instinkt oder vielleicht nur der Steinhaufen, der die Passage verengte und an den sie sich nicht erinnern konnte? Einige Schritte später erkannte sie den Grund für ihre Neugierde: Unter ihren Füßen schmatzte der Matsch.

Interessant! Dieser Bereich des Bruchs ist bisher stets trocken geblieben, selbst beim heftigsten Gewitter. Woher kommt auf einmal das Wasser?

Sie erreichte das Ende des Ganges. Verflucht sei – wer auch immer. Sackgasse, was sonst. Gerade als sie umkehren wollte, fiel ihr rechter Hand eine dunkle Stelle in der Tunnelwand auf. Sie hob die Laterne, um den Bereich besser auszuleuchten. Tatsächlich – hier hatte die Feuchtigkeit einen Teil der Seitenwand abrutschen lassen, so dass sich in Hüfthöhe eine Öffnung aufgetan hatte, etwas größer als der Zugang zu einem Fuchsbau. Werkzeugspuren an den Wänden verrieten, dass dieses Loch Teil eines künstlich angelegten Durchganges gewesen war. Der wohin führt?

Kröte rätselte nicht lange, ließ sich auf die Knie nieder, schob die Laterne in den Tunnel und kroch mit den Armen voran hinein. Sie war von zierlicher Gestalt mit schmalen Schultern und Hüften wie ein Aal. Fast überall konnte sie sich hindurchquetschen, was ihr schon manches Mal den knochigen Hintern gerettet hatte. Stück für Stück robbte sie durch den engen Gang, die Laterne immer eine Armlänge vor sich herschiebend. Und eine weitere Armlänge, erst die Lampe, dann ihr Körper. Und noch eine. Die Röhre verengte sich. Und noch ein wenig.

Mit Grummeln im leeren Bauch musste sie sich schließlich eingestehen: Sie kam nicht weiter. Schlimmer noch: Sie steckte fest. Stein und Lehm umklammerten ihren Rumpf wie liebestoll, als wollten sie die junge Frau nicht mehr freigeben. Mit den Ellenbogen stemmte sie sich zurück. Ohne Erfolg. Erneut versuchte sie es vorwärts, doch ihr Becken rutschte kein Stück weiter durch die Enge – wie Widerhaken ragten gezackte Steine aus den Wänden hervor und stachen ihr ins Fleisch. Sie hätte die Gürteltasche ablegen sollen.

Puh, erst einmal durchatmen. Und ruhig bleiben, dachte sie.

Kröte atmete durch und blieb ruhig. Es schmerzte, als sie ihren Körper nach rechts bewegte. Nicht dass diese Bewegung ihr Platz verschafft hätte, den gab es nirgendwo in diesem Drecksloch, dennoch gelang es ihr, sich eine Daumenbreite weiter vorzukämpfen. Sie keuchte. Die Laterne eine Armlänge vor ihr hatte es bereits in einen geräumigeren Abschnitt der Röhre geschafft. Mit Händen und Füßen krallte sie sich ins Gestein und schob ihren Körper unermüdlich vor, bis sie wieder frei war.

Auf einmal konnte sie ohne Anstrengung weiterkrabbeln und erreichte wenig später einen Hohlraum mitten im Gestein. Sogar stehen konnte sie hier. Ihr Herz klopfte, als sie mit dem Fuß über den Boden strich. Auffällig glatt. Sie drehte den Docht der Laterne etwas höher – mit gemischten Gefühlen, denn Öl war kostbar und allzu viel schwappte nicht mehr darin. Sie ging in die Knie und strich mit der freien Hand über eine ausgewaschene Granitplatte. Diese passte überhaupt nicht zum übrigen Gestein. Sie war offenbar hierhergebracht und verlegt worden. Erstaunlich. Hatte sich hier einst eine Kammer befunden? Wofür? Für wen? Behutsam drehte sie den Docht wieder herunter, nur nicht zu weit, auf keinen Fall durfte sie die Flamme ersticken. Licht und Luft!

Neugierig leuchtete sie die Wände ab, hoffte auf eine Nische mit einem ganzen Nest voller zauberhafter Artefakte oder Facettsteine. Notfalls würde sie sich auch über etwas Magieloses freuen, wie ein edelsteinbesetztes Amulett oder ein Armband aus Gold oder eine knusprig gebratene Schweinekeule, doch Kröte konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Ihr Blick fiel auf … ja, auf was? Es sah aus wie ein kleines Gestrüpp.

Gestrüpp?

Sie blinzelte. Tatsächlich – in dieser finsteren, versteckten Felskammer wuchs eine Pflanze. Vier, fünf, sechs Knospen zählte sie an den wildwuchernden Stängeln. Unterhalb der Blütenansätze wölbten sich merkwürdige Knubbel, halb so groß wie Taubeneier. Ohne zu überlegen, griff Kröte nach einem davon. Der Knubbel löste sich zäh vom Stängel und blieb an ihren Fingern haften. Im ersten Reflex schüttelte sie die Hand, doch das Zeug klebte wie Pech. Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Dasselbe Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie sich für die Sackgasse entschieden hatte – nur noch intensiver. Ein lieblicher Duft machte sich breit, wie das Parfüm einer Adligen aus dem Palastring. Neugierig roch sie an ihren Fingern. Lecker, kam ihr in den Sinn. Wieder der Hunger! Sowohl knusprig gebratene Schweinekeule als auch lecker sollte sie ganz schnell auf die Liste der verbotenen Ausdrücke setzen. Sie konnte sich nicht beherrschen, ihre Zungenspitze schnellte zwischen den Lippen hervor und betupfte neugierig die fremdartige Substanz. Ein süßlicher, geradezu betörender Geschmack machte sich in ihrem Mund breit. Kröte löste ein kleines Stück aus der klebrigen Masse heraus und drehte es zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Popel.

Was so gut riecht, kann nicht giftig sein, beschloss sie und steckte es sich in den Mund.

Dennoch blieb sie vorsichtig, biss weder in die harzige Kugel hinein, noch schluckte sie sie hinunter, sondern ließ sie unter ihrer Zunge liegen.

Schnell strich sie den Rest der klebrigen Masse von ihren Fingern in die Gürteltasche ab – er würde für zwei oder drei weitere Kügelchen reichen.

Kröte sah sich genauer in der Kammer um, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches mehr entdecken.

Es wurde allerhöchste Zeit für den Rückweg, obgleich ihr davor graute, sich erneut durch die Enge zu zwängen. Dazu verspürte sie Müdigkeit am ganzen Körper. Die Anstrengungen der letzten Stunden forderten ihren Tribut, doch es gab noch einen viel entscheidenderen Grund, das Loch so schnell wie möglich zu verlassen. Das Lampenöl ging zur Neige, sie hatte zu viel Zeit in dem engen Tunnel verloren. Einer ihrer regelmäßigen Albträume erfasste sie: Sie allein im Bruch, im Dunkeln, was in dieser Tiefe den sicheren Tod bedeutete.

Aus der anderen Richtung kriechend, bereitete ihr die schmale Stelle kaum Probleme; leichter als erwartet quetschte sie sich durch den Engpass und erreichte die Sackgasse. Anstatt weiterzulaufen, stutzte Kröte beim Anblick des geheimen Zugangs. Sollte sie ihn besser verbergen? Diese seltsame Kammer mit der noch seltsameren Pflanze verstecken? Vielleicht hatte sie ja doch etwas übersehen, und das könnte ihr jemand anderes wegschnappen. Sie beschloss, später noch einmal vorbeizuschauen, stellte die Blendlaterne ab und schaufelte mit beiden Händen Schlamm in die Öffnung. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk: Ein gut versiegelter Tunneleingang, nur bei genauer Untersuchung zu entdecken. So bleibt mein Geheimnis mein Geheimnis.

Beim Schritt zur Seite stieß Kröte versehentlich mit der Fußspitze gegen die Blendlaterne auf dem Boden. Es schepperte leise, als die Lampe umfiel. Halb so wild, dachte sie noch, das Ding ist stabil gebaut.

Ein richtiger Gedanke, dennoch nur die halbe Wahrheit. Die Laterne blieb unversehrt, doch im nächsten Augenblick verlosch die Flamme.

Schön, wenn Albträume wahr werden. Vielleicht würde sie sich in Zukunft weniger davor fürchten. Falls es eine Zukunft gab.

Von allen Seiten gleichzeitig griff die Dunkelheit nach ihr. Eine Dunkelheit, die sich nicht einmal bei Neumond blicken ließ, eine Dunkelheit, noch tiefer als der Bruch. Eine Dunkelheit, die sich in Gemüt, Körper und Seele fraß. Eine Dunkelheit, so kalt wie endgültig.

Ihr Herz hämmerte. Sie kniff die Lider zu, als wäre es nun ihre Entscheidung, nichts mehr sehen zu können. Panisch ging sie im Kopf den Rückweg durch. Verflucht sei – wer auch immer. Zu viele Abzweigungen, zu viel Schlamm, zu viele Gefahren, um von hier blinder als ein Maulwurf aus dem Loch herauszufinden. Natürlich trug sie Feuerstein und Zunder in der Gürteltasche bei sich, aber nicht in einer wasserdichten Dose, wie sie einige der anderen Schlammkriecher verwendeten. Solchen Luxus konnte sie sich nicht leisten. Spätestens seit ihrer Krabbelei durch den überschwemmten Nebenstollen war der Zunder nass und unbrauchbar. Es würde eine Ewigkeit dauern, ihn wieder trocken genug zu bekommen, um ein Feuer zu entfachen. Kröte machte sich nichts vor – das war ihr Ende.

Ohne es zu merken, rutschte sie mit dem Rücken die Wand hinunter, bis ihr Hintern auf der Erde ankam. Eine Weile blieb sie starr sitzen, dann tastete sie nach der Laterne, als wollte sie ihren wertvollsten Besitz mit in den Tod nehmen. Wie Kriegshelden, denen bei der Bestattung ihr Schwert in die Hände gedrückt wurde – so hatte es ihr Wacker jedenfalls erzählt. Welch ein Trost. Sollte sie fluchen? Nee, das half wenig. Sollte sie weinen? Nee, das half noch weniger. Sollte sie beten? Nee, das half am wenigsten. Nichts von alledem brachte sie durch die erbarmungslose Finsternis zurück an die Oberfläche.

In der Ferne hörte sie etwas, denn die Ohren konnte sie nicht zukneifen. Und so lauschte sie dem Lied des tropfenden Wassers. Plipp, plepp, plipp, plopp. Ein höhnisches Lied in vier kurzen Strophen. Kröte – im Schlamm geboren, durch den Schlamm gekrochen, im Schlamm gestorben, um Schlamm zu werden.

Sie könnte um Hilfe rufen. Auch wenn das Betreten des Bruchs offiziell verboten war, wurden immer wieder Sondergenehmigungen erteilt, gegen besonders viel Gold natürlich. Oder die Schildwachen wurden kurzerhand bestochen und gewährten den Schatzsuchern Einlass. Auch bei dem Wetter? Nein, sie machte sich nichts vor. In dieser Tiefe war die Chance auf Rettung äußerst gering, und wenn die Schildwachen sie hörten, hatte sie eine drastische Strafe zu erwarten. Mindestens drei Monde Tretrad. War es dann nicht besser zu sterben? Nein! Blödsinn! Noch schlug ihr Herz, noch gab es Luft zum Atmen.

Noch geht der Kampf weiter.

Sie erhob sich und öffnete die Lider. Die Dunkelheit starrte sie an, sie starrte zurück. Ebenso wie der Tod war die Dunkelheit ein Gleichmacher. Wand, Schacht, Stollen, Boden, Decke, Stein, Loch – was spielte es für eine Rolle? Alles schwarz. In ihrem Kopf drehte es sich, oben, unten, links, rechts, vor, zurück – einerlei in dieser Finsternis. Vielleicht wurde sie langsam verrückt. Sie erinnerte sich an Grubenbuddler, die es zwar herausgeschafft, aber nur noch sinnloses Zeug geplappert hatten. Alle Überlegungen halfen nicht, sie konnte sich nur selbst retten. Kröte stolperte los, ließ die Konturen des söhligen Stollens vor ihrem inneren Auge entstehen. Wo sie Boden unter den Fußsohlen spürte, war unten, wo sie sich den Kopf anstieß, oben.

Vor ihr verengte die Silhouette eines Steinhaufens den Tunnel. Verdutzt riss Kröte die Augen auf. Die Schatten und Formen waren keine Einbildung, es gab sie wirklich, und sie konnte sie sehen, was zur Orientierung reichte. Wo kam das verdammte Licht her? Das rettende, heilige, unbegreifbare Licht? Sie verrenkte den Kopf in alle Richtungen, fand jedoch keine Erklärung. Erstaunt machte sie ein paar weitere Schritte, wobei sich die totale Schwärze um sie herum auflöste, so als trüge sie eine schwach glimmende Lampe auf dem Kopf. Krötes Angst ließ nach, ihre Muskeln entkrampften, und ihr Atem flachte etwas ab. Verwundert hob sie die Finger vors Gesicht. Sie befand sich immer noch tief im Bruch – ohne Flamme in der Laterne, ohne Sonne oder Mond, und sie konnte ihre Hand vor Augen sehen. Wie war das möglich?

Als wolle er ihr bei der Antwort helfen, schien sich der süßliche Geschmack in ihrem Mund zu verstärken. Sie spürte den kaum kleiner gewordenen Harzknubbel unter der Zunge. Lag es an dem klebrigen Pflanzenzeugs? Sie hatte von der rauschartigen Wirkung des Mohnsaftes gehört, der zu Halluzinationen führen konnte, doch dies hier schien etwas anderes zu sein. Schnell weiter, raus hier, bevor ihre Augen oder der Knubbel oder was auch immer es sich anders überlegten.

Wie eine Ratte auf der Flucht huschte sie durch die Gänge, Tunnel und Stollen. Raus hier, nur raus hier!

Zurück in ihrem Bretterzelt im Schlammring kauerte sich Kröte unter einer löchrigen Pferdedecke zusammen. Frierend trocknete sie vor sich hin, zitternd ob des Grauens und der Kälte. Von dieser Tortur musste sie sich erst einmal erholen – anders konnte sie ihren heutigen Ausflug in den Bruch nicht bezeichnen, zumindest im Augenblick. Sie wusste, dass sie es schon morgen ein Abenteuer nennen würde.

Sie hatte das restliche Stück Pflanzenharz aus dem Mund genommen und in der Gürteltasche verstaut. Was für ein merkwürdiges Zeug! Über ihrem Kopf hörte sie den Regen und in der Ferne das Schnurren des Alten Katers. Das gewohnte unaufhörliche Drehen des Tretrades beruhigte sie.

Nach einer Weile ging es ihr besser, eine Kröte war hart im Nehmen. Sie rappelte sich hoch und kaute an einer verschimmelten Brotrinde herum. Plötzlich vermisste sie das Prasseln über sich. Sie steckte den Kopf aus ihrer Bude – tatsächlich hatte es aufgehört zu regnen. Die Abendsonne tauchte den Schlamm in ein rostiges Rot, was den Anblick der Kacke in den Sickergräben nicht besser machte. Sie beschloss, ihren einzigen Freund zu besuchen.

Kurze Zeit später marschierte Kröte die Treppenstufen der Bresche nach oben. Den Kopf voller Gedanken vergaß sie ihre Erschöpfung. Weiter oben auf der Höhe zwischen Staub- und Kupferring fand sie Wacker an seinem Lieblingsplatz. Die hölzerne Almosenschale vor und den langen Blindenstock neben sich, saß er an die Mauer gelehnt bei der Arbeit. Ganz praktisch, dass er nicht sehen konnte, wie hoffnungslos verdreckt und verlottert sie daherkam.

»Hallo, Kröte. Du siehst scheiße aus.«

»Grüße, Wacker. Ich frage mich, woher eine blinde Nuss wie du das weiß.«

Der Bettler kräuselte die Nase und grunzte wie ein Schwein mit Schnupfen. »Ich rieche den Schlamm auf deiner Haut.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Und zwar den von tief unten.«

»Erwischt! Einmal Schlammpe , immer Schlammpe .« Sie zuckte mit den Schultern, mehr für sich als für ihn.

»Hihi, welch Selbstironie.« Wacker ließ nicht locker. »Ich schnüffele außerdem Schweiß, Angst und Tod.« Seine Brauen, die zum Teil über die leeren Augenhöhlen wucherten, hoben sich. »Und etwas Süßes, ein Geschmack wie Honig, ein Geruch wie Parfüm.«

Kröte schwieg. Sie musste ihre Gedanken ordnen.

»Aber ich bin froh, dass du da bist, ich habe dich schon vermisst«, sagte Wacker.

»Du hast das richtige Näschen. Um ein Haar«, Kröte senkte die Stimme, »hätte mich das Drecksloch verschluckt.« Sie ließ sich neben ihm nieder und streckte die Beine aus. Noch vor kurzer Zeit nichts als Schwärze und Tod vor Augen, kam ihr diese alltägliche Bewegung in Gesellschaft ihres Freundes vor wie das wertvollste Geschenk. Bewusst wie lange nicht genoss sie den Moment.

Eine in bunte Seide gekleidete Dame spazierte auf dem erhöhten Schuhstieg die Bresche hinauf. Ihr Blick flackerte über Wacker und Kröte hinweg. Die Adelige fingerte in ihrem Geldbeutel herum und warf im Vorbeigehen eine Münze in die Almosenschale, woraufhin ein helles Klirren ertönte.

»Seid gesegnet für Eure Großzügigkeit «, bedankte sich Wacker bei ihrem Rücken.

Krötes Blick folgte der feinen Dame. »Woher weißt du, ob sie großzügig war?«

»Einen ganzen Silberpfennig nenne ich sehr großzügig. Ich erkenne es am Klimpern.«

Kröte beugte sich über die Holzschale. Tatsächlich, darin befanden sich eine Handvoll Kupfermünzen und obenauf der Silberling.

»Schon hast du mir Glück gebracht. Ich könnte noch einen Lehrling gebrauchen. Wie wäre es?«, fragte Wacker.

Kröte grinste, wie nur Kröten grinsten. »Eine Bettlerlehre? Ich denke darüber nach.«

Wacker zog einen Apfel aus seinem Flickenmantel. Einen großen, glatten roten. »Willst du?«

»Bist … bist du satt?«, stotterte sie und starrte auf das Stück Obst wie die Schlange auf das Kaninchen.

»Na klar, sonst würde ich dir nichts anbieten. Du weißt, wie jeder rechtschaffene Grubler denke auch ich stets zuerst an mich.«

So war ihr Freund. Natürlich wusste Kröte, dass der Bettler es nicht leiden konnte, wenn sie unter der Erde herumkroch. Doch er verzog nicht das Gesicht, er meckerte nicht. Und er hielt ihr keine Vorträge, sondern einen Apfel hin. Den sie ergriff und mit wenigen Bissen verschlang, selbst den Stiel kaute sie gut durch, bevor sie ihn herunterschluckte.

»Den hättest du ausspucken können«, kommentierte Wacker.

»Ich hätte auch als Prinzessin im ersten Ring geboren werden können, dann würde ich Honigschnecken mit Wachteleiern speisen. Und wir uns nicht kennen.«

»Das wäre schade.«

»Das wäre es! Also esse ich auch den Stiel.«

»Krötenlogik« nannte Wacker dies sonst, diesmal hielt er den Mund.

Sie sprang auf und umarmte den alten Söldner. »Ich bin froh, so wie es ist.« Ganz unangekündigt regte sich etwas in ihrer innersten Seele, etwas, das so tief verschüttet war wie die zahlreichen toten Glücksritter im Bruch. Zuerst wollte sie es kaum wahrhaben, weil es so wenig in ihr Leben im Schlamm passte und sie genau wusste, dass es furchtbar scheu war und schnell wieder verschwand, sobald es bemerkt wurde. Doch jetzt erwärmte es sie. Das Glücksgefühl.

Der Bettler spürte offenbar die tiefe Ehrlichkeit in ihren Worten. Über sein Gesicht zog sich ein Lächeln, das die Schatten aus den vernarbten leeren Augenhöhlen vertrieb. Vor vielen Jahren hatte der Söldner Wacker Pech gehabt, und zwar während seiner Arbeit auf dem Schlachtfeld. Ein Pfeil war durch die Schläfe in den Schädel eingedrungen, hatte seinen rechten Augapfel durchbohrt, die Nasenwurzel durchschlagen und das linke Auge erwischt, so dass es ausgelaufen war. Opfer eines wahren Kunstschusses, wie er nur alle paar Jahrhunderte gelang.

»Und ich habe noch etwas für dich.« Wacker schmunzelte.

»Schenke mir nicht so viel. Ich weiß schon jetzt nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen soll«, murmelte Kröte.

»Ach was. Ich tue das für mich. Ich fühle mich dann immer großzügig und überlegen«, behauptete er und griff hinter sich, um einen Beutel aus grobem Leinen hervorzuziehen. Umständlich nestelte er an der Verschlusskordel herum.

Kröte wartete geduldig, bis er sie aufgeschnürt hatte, schließlich hasste er es, wenn man ihm zur Hand ging, als wäre er blind.

Schließlich hatte er es ohne jede Hilfe geschafft und wühlte darin herum. »Schau mal!«

»Ein Schuh!«, stellte Kröte in einem Ton fest, als hätte sie gerade ein wahnsinnig schweres Rätsel gelöst.

»Ja, jedoch kein normaler Schuh, der erst auf links gefertigt und anschließend gewendet wurde, sondern ein rahmengenähter. Das merkst du an der festen Sohle.«

»Du kennst dich mit Schuhen aus?«

»Ganz früher wollte ich mal Schuster werden – aber das spielt jetzt keine Rolle. Sieh ihn dir mal an.«

Kröte drehte das gute Stück in ihren Händen und bog sanft die aus einem ihr unbekannten Hartleder gefertigte Sohle durch, die sorgfältig mit dem Rindsleder des Oberschuhs vernäht worden war. »Der ist unglaublich. Und was ist das hier?« Sie legte seine Hand auf den Schuh und sein Daumen glitt über die drei hervorstehenden Metallspitzen, die vorn in die Sohle eingearbeitet waren.

»Mit diesen Dornen kannst du besser klettern. Oder deinen Feinden äußerst schmerzhaft gegen das Schienbein treten.«

Oder ein Stück höher, was bei Männern eine wahrlich umwerfende Wirkung hat, dachte sie.

»Und damit ich mich noch großzügiger und überlegener fühle, hat der noch ein Brüderchen.« Schon hielt er den zweiten Schuh in der Hand. Seine Stimme wurde ernst. »Ich mache mir oft Sorgen, wenn du die Breschenwand hochkletterst oder, noch schlimmer, dich an irgendwelchen Fassaden versuchst. Da ich weiß, dass ich dir das Kraxeln nicht ausreden kann, muss ich zu anderen Methoden greifen. Mit diesen Schuhen hast du mehr Halt und stürzt nicht so schnell ab. Dadurch kannst du mich weiter bei der Arbeit besuchen und mir ganze Silberpfennige bescheren. Siehst du, ich denke nur an mich.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ohne diesen Blinden wäre sie längst verhungert oder verzweifelt oder beides. Nicht nur unzählige Äpfel, Birnen, Tomaten, Gurken, Maiskolben, Käse- und Brotstücke hatte sie ihm zu verdanken, sondern vor allem ihren Glauben, dass inmitten von Dreck, Gier und Hass auch so etwas Weltfernes wie Güte und Freundschaft Bestand hatte. Seit Wochen zerbrach sie sich den Kopf, was sie im Gegenzug für Wacker tun könnte, und nun rutschte sie noch tiefer ins Nehmen.

»Schlüpf hinein. Sie gehören dir.«

»Ich …« Sie zog die Knie an.

»Los jetzt! Wir wollen doch sehen, ob sie passen.«

Kröte löste die Lederlappen, die sie um ihre Füße gewickelt hatte, und zog die Schuhe an. Sofort fühlten sich ihre kleinen Füße wohl darin. Ergriffen flüsterte sie: »Wie angegossen.«

»Schön.«

»Das ist doch kein Zufall.«

»Nein, Zufälle gibt es nicht. Zumindest nicht in den Städten, die ich bisher in meinem Leben besucht habe.«

»Dann … dann hast du sie speziell für mich anfertigen lassen?«

»Jetzt, wo du es sagst …« Er hob die Schultern. »Ich mag die niedlichen Fußabdrücke, die du im Lehm hinterlässt.«

»Und diese Schuhe schenkst du mir einfach so?«

»Iwo! Du bist nicht einfach so, sondern meine Freundin. Also mach dir darüber keine Gedanken. Ich kann es mir auch nicht mehr anders überlegen, denn die kleinen Dinger passen nur dir, was gut so ist.« Wacker nickte zufrieden.

Kröte verstand. In Grubenstedt, vor allem in den beiden untersten Ringen, waren schon Menschen für weniger als ein Paar Schuhe gestorben. Sie sprang auf und machte ein paar Schritte auf dem Schuhstieg die Bresche hoch, die Bresche wieder hinunter. »Danke Wacker, die sind phantastisch. Jetzt darf ich wie die feinen Pinkel sogar offiziell den Schuhstieg benutzen. Komm, sag schon. Woher hast du die?«

Er deutete auf seine leeren Augenhöhlen. »Ich muss nicht alles sehen. Auch nicht alles hören. Und schon gar nicht alles sagen.«

»Die haben sicherlich ein Vermögen gekostet.«

»Stimmt, jetzt bin ich bettelarm.«

Sie kicherte. »Und unglaublich.«

Das ließ Wacker so stehen, während sie eine Weile schwei gend nebeneinandersaßen. Kröte überlegte, ob sie ihrem Freund von ihrem merkwürdigen Erlebnis in der Dunkelheit berichten sollte. Und von der Höhlenkammer mit der Pflanze und dem duftenden Harz. Ungern hatte sie Geheimnisse vor ihm, doch mit einem etwas schlechten Gewissen verschob sie es auf später – sie wollte die feierliche Stimmung nicht verderben. »Hör mal, Wacker, erinnere mich bei Gelegenheit, dass ich dir was erzähle.«

»Gut, mache ich.«

Die Dämmerung brach herein, die Bresche leerte sich allmählich, und Wackers Arbeitstag näherte sich dem Ende. »So, ein alter Mann braucht seinen Schlaf.« Er nahm seine halb volle Schale und erhob sich.

Sie umarmte ihn. »Wir sehen uns morgen. Und danke noch einmal für die unglaublichen Schuhe.«

»Bis morgen, kleine Kröte.« Wacker wandte sich um und ging davon.

Er wohnte zusammen mit anderen Kriegsveteranen in einer ehemaligen Kaserne. Eine heruntergekommene Bruchbude, doch immerhin mit vier Wänden und einem festen Dach.

Zurück in ihrem Bretterverschlag, konnte Kröte kaum die Blicke von ihren Füßen lassen. Was für ein Tag neigte sich dem Ende entgegen! Und noch war er nicht vorbei. Sie streckte den Kopf nach draußen – die Bresche wurde von Laternen beleuchtet. Im Schlammring brannten genau zwei, in den höher gelegenen Ringen wurden sie immer zahlreicher. Ganz oben auf der Palastebene machten Hunderte davon die Nacht zum Tag.

Jenseits der Bresche herrschte Dunkelheit im Schlammviertel. Daneben im Totland ebenso.

Nicht einmal Licht gönnen uns die Pudersäcke.

Sollte sie es noch einmal ausprobieren? Es ließ ihr keine Ruhe. Der Harzpopel klebte an der Innenseite ihrer Gürteltasche. Sie knibbelte ihn ab und legte ihn sich wieder unter die Zunge. Langsam marschierte sie die Bresche in Richtung Schlammtor hoch. Die Treppenaufgänge zu den höheren Ringen wurden von den Schildwachen gut gesichert. Ohne den passenden Breschentaler würden sie Kröte nicht durchlassen, doch sie benötigte keine Stufen. Sie suchte sich eine der Abortnischen in der Breschenmauer, durch den vielen Regen stank es hier lediglich erbärmlich und nicht unerträglich, und kletterte steil nach oben. Jede Fuge, jede Kante diente ihr als Halt für Finger und Füße. Was sie vorher schon gekonnt hatte, fiel ihr mit den neuen Schuhen noch leichter – wie eine Spinne huschte sie die Wand hinauf und betrat den Staubring. Mit wenigen Schritten tauchte Kröte in einer dunklen Gasse unter. Eine Verbesserung ihrer Sehkraft konnte sie nicht feststellen. Vielleicht funktioniert das Harz nur bei absoluter Dunkelheit? Wie ein Schatten bewegte sie sich durch die Straßen. Vor ihrem Ziel, einem zweistöckigen Fachwerkhaus, blieb sie stehen.

Viele Schieferplatten auf dem Dach fehlten, und die Wände waren krumm. Das ehemalige Fleischergebäude wirkte baufällig und verlassen, doch Kröte wusste es besser: Zurzeit diente das Haus der Grubenstedter Diebesgilde als wöchentlicher geheimer Treffpunkt. Das hatte Wacker mal erwähnt, und der erfuhr so einiges. Ihrem Freund fehlten zwar die Augen im Kopf, dafür hatte er jede Menge Ohren, und die überall.

Beherzt trat sie vor die geschlossene Eingangstür und klopfte an. Sie wusste, dass sie längst beobachtet wurde, auf den Dächern ringsherum postierten die Diebe Wachen, denn nichts hassten sie mehr als unliebsame Überraschungen. Umsicht und Vorsicht gehörten zur Dieberei wie Dietrich und Maske.

Die Tür blieb geschlossen, doch schon trat ihr ein Mann aus einer Gasse entgegen. Er trug schwarze Kleidung, einen schwarzen Umhang mit schwarzer Kapuze – was auch sonst. »Was willst du, Kröte?«, raunte er. »Was hast du hier zu suchen? Wenn du die Schildwache auf uns aufmerksam machst, brechen wir dir sämtliche Beine.«

»Ich will in die Gilde aufgenommen werden, das weißt du genau, Baram.«

»Jaja, aber nicht heute Abend. Ernulf wird nicht kommen. Du weißt, ohne ihn geht gar nichts. Also verschwinde.«

So ein Mist . Das hieße eine weitere Woche warten. Seit mehreren Monden versuchte sie, zu Ernulf, dem Gildenanführer, vorzudringen. Nur er konnte sie für das Aufnahmeritual zulassen.

Der Mond kam hinter einer Wolke hervor, Barams Gesicht unter der Kapuze blieb im Schatten verborgen. Kröte konnte weder Mienenspiel noch Augen sehen, dennoch spürte sie, dass er die Unwahrheit sagte. Nein, es war mehr als nur ein Gefühl – sie war sich sicher, dass er schwindelte. Eindeutig. Woher diese Gewissheit kam, wusste sie nicht. Plötzliche Lebenserfahrung? Diebe stahlen, also hatten sie es nicht so mit der Wahrheit. Und dieser Mistkerl log ihr ins Gesicht.

Sie beschloss, sensibel und diplomatisch mit dieser Fest stellung umzugehen. »Du lügst. Spar dir den kümmerlichen Versuch, mich abzuwimmeln, sondern schwing deinen Arsch rein und frag Ernulf.«

Offensichtlich kam das unerwartet. Baram lugte unter seiner Kapuze hervor. Er brauchte eine Weile. »Soll … soll ich dir eine Abreibung verpassen?« Seine Stimme überschlug sich.

»Nicht so laut«, rief Kröte laut.

»Was ist hier los?«, fragte Ernulf, der plötzlich hinter ihr stand. »Von Lärm kriege ich Pickel.«

»Die … die Kröte will …«, stammelte Baram.

»Schnauze jetzt«, unterbrach ihn der Gildenanführer und sah sich kurz um. Dann schielte er auf das Dach des Gebäudes gegenüber, auf dem ein Mann hockte und mit beruhigender Geste bedeutete, dass die Luft rein war. Ernulf zog einen klobigen Schlüssel hervor und schloss die Tür auf. »Los!«

Im Haus stank es nach Salz, Urin und Vergammeltem. Ernulf schob Kröte eine Holztreppe hinunter, sie betraten einen Raum mit gemauerten Wänden und zahlreichen Haken an der Decke – den ehemaligen Räucherkeller. An einem Holztisch saßen acht Männer und würfelten. Zählte sie Ernulf und Baram dazu, machte das zehn Gildenmitglieder, die hier versammelt waren.

Die Spieler ließen den Würfelbecher ruhen und grölten, als sie den Neuankömmling sahen.

»Die kenne ich, das ist Kröte!«

»Was will die hier?«

»Die taugt nicht einmal zum Anschaffen, klein, hässlich und nix dran.«

»Wenn ihr einfach mal das Maul haltet, wird sie uns erzählen, was sie zu uns führt«, sagte Ernulf.

Sofort kehrte Ruhe ein.

»Nun?« Das Wort des Gildenanführers klang kalt, gefährlich und ungeduldig.

Kröte schluckte ihre Angst hinunter. »Ich will Mitglied bei euch werden.«

Zwei Männer lachten laut auf.

Ernulf brachte sie mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Wozu?«

»Einige von euch wissen, dass ich mich im Bruch besser auskenne als jeder andere. Wenn ich dort magische Steine oder Artefakte finde, brauche ich jemanden, der mir hilft, meine Beute zu Gold zu machen. Ihr könnt das.«

Die Diebesbande starrte sie mit dunklen Augen an. Kein Lachen, kein Spott.

»Der Bruch spuckt seit geraumer Zeit nichts mehr aus. Warum solltest ausgerechnet du die Glückliche sein, die dort was findet?«, warf ein Rotschopf ein, den sie vom Sehen kannte. Er blickte nicht einmal auf, sondern pulte mit einem Dolch das Schwarze unter seinen Fingernägeln hervor.

»Weil sich kaum noch einer in die verbotene Zone traut, sondern alle in den neuen Minen rumbuddeln«, erklärte Kröte. »Doch mich schreckt der Bruch nicht ab, ganz im Gegenteil, er birgt weitere Geheimnisse.« Ihre Zungenspitze tastete heimlich nach dem Knubbel im Mund.

»Mir gefällt das nicht. Und Frauen in der Diebesgilde bringen Unglück. Genau wie aufm Schiff! Schlitzen wir sie auf und lassen sie ausbluten«, schlug ein Kerl mit zwei Narben quer über der Stirn vor und deutete auf einen der gemütlichen Haken an der Decke.

Der Drecksack meinte es so, wie er es sagte. Verzweifelt versuchte Kröte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Es hatte immer geheißen, die Grubenstedter Diebesgilde würde niemanden töten. Höchstens aus Notwehr oder um ihre Mitglieder zu schützen. Vielleicht war das hier ein Notfall – vielleicht wusste sie bereits zu viel.

»Sachte, Runzler«, sagte Ernulf. »Ich weiß, dass sie häufig mit Wacker herumhängt. Den will ich nicht zum Feind haben.«

»Was? Der blinde Bettler? Den fürchte ich nicht.« Runzler schlug auf den Tisch.

»Solltest du aber«, sagte der Gildenanführer leise.

»Dann stechen wir den auch ab«, schlug Runzler vor.

»Der da gehört zu euch.« Ohne hinzusehen, deutete Kröte mit dem Daumen auf ihn. »Und bei mir überlegt ihr noch?«

Runzler sprang auf, krachend fiel der Stuhl um. »Das muss ich mir von einer Göre nicht gefallen lassen!«

»Setz dich wieder hin«, befahl Ernulf und heftete seinen Blick auf Kröte. »Wie bist du eigentlich an den Wachen vorbei in den fünften Ring gekommen?«

»Geklettert. Einfach die Breschenwand hoch. Das hatte ich noch gar nicht erwähnt: Keiner kann klettern wie ich.«

Einen Moment knetete der Gildenanführer seine Unterlippe, seine Augen flackerten listig. »Wenn du so versessen auf Artefakte bist, geben wir dir die Gelegenheit, dein Glück zu machen. Stell dir vor, wir wissen genau, wo sich ein unfassbar mächtiges befindet.«

»Etwa im Bruch?«, fragte sie. »Wo dort?«

»Nein, nicht tief in der Erde, sondern hoch in der Luft. In der Nadel. «

Wortlos starrte sie ihn an. Er sprach vom Turm der Magier. Kein Gebäude der Stadt war besser gesichert. Die Nadel galt als uneinnehmbar, unerklimmbar, uneinbrechbar.

Die anderen Diebe dachten dasselbe. Gespannt glotzten sie zwischen ihrem Anführer und Kröte hin und her.

»Lass deiner großen Klappe Taten folgen. Du kletterst die Fassade hoch, schlüpfst durchs Fenster und öffnest uns die Eingangstür. Bis dahin lenken wir die Wachen ab.«

»Damit schickst du sie in den sicheren Tod. Nicht zufällig beginnen die Fenster erst auf halber Höhe des Turms«, sagte Baram.

Für Kröte jedoch war das Unterfangen im Grunde nicht gefährlicher als ein Ausflug in den Bruch. Und in seiner schlichten Einfachheit gar nicht mal so schlecht, abgesehen davon, dass sie ihr Leben riskierte. Doch wenn jemand es schaffen konnte, den Turm emporzuklettern und durch ein Fenster zu steigen, dann sie. »Was ist das für ein Artefakt?«

Ernulf zögerte mit der Antwort.

»Ich sollte wissen, worum es geht«, sagte Kröte und hoffte, dass sie nicht allzu trotzig klang.

»Um eine Kette. Sie wird seit Wochen untersucht, das spricht für ihre Mächtigkeit. Es heißt, sie könne die Macht des Firmaments sichtbar machen. Abgesehen davon bringen die Artefakte immer einen Haufen Gold ein. Doch das hat dich nicht weiter zu interessieren – du bist nur der Türöffner. Entscheide dich! Bist du dabei?«

Nun starrten die Männer nur noch auf sie. Selbst Runzler hielt sein Maul.

»Wenn ich es mache, nehmt ihr mich dann in die Gilde auf?« Kröte zwang sich, Ernulf fest in die Augen zu sehen.

»Klare Sache«, beteuerte der Anführer. »Wenn du das schaffst, gehörst du zu uns.« Er hielt ihr seine schwielige Hand hin.

Nun hatte sie erreicht, was sie wollte. Oder auch nicht. Verflucht sei – wer auch immer. Obwohl sie es gar nicht wissen wollte, wusste sie es doch: Ernulf log. Dieser Mistkerl hatte nicht vor, sie in die Gilde aufzunehmen, selbst wenn sie erfolgreich in die als unbezwingbar geltende Nadel einstieg.

Kröte schlug ein.