Ein verhängn i svolles Frühstück

70. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel

Nasiima atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus. Schon wieder. Seit dem Morgengrauen versuchte sie, sich zu beruhigen, aber wie an den Tagen zuvor kaute sie stattdessen an der erlittenen Schmach herum wie ein Hund an seinem Lieblingsknochen. Sie war dem Triumph schon so nahe gewesen, und dann hatte der irrwitzige Zufall des Lebens ihr alles wieder weggenommen – ausgelöst durch eine Intrige, die die Feinde ihrer Familie gesponnen hatten. Aber das gehörte zum Alltag eines jeden Adelshauses von Evenbor, dem ältesten Königreich des Kontinents.

Nur dass die Feehlenwerks, ihre Familie, besondere Vorsicht bei allem walten lassen mussten, was sie taten.

Nasiima schnaubte, öffnete die Augen und erhob sich aus dem Lotussitz, in dem sie seit ihrer Ankunft in Grubenstedt mehr Zeit verbracht hatte, als ihr lieb war. Immer noch aufgewühlt griff sie nach ihrem Facett, das an einer goldenen Kette um ihren Hals hing, und starrte in den honigfarbenen Stein, der Myriaden winziger Einschlüsse in seinem Inneren verbarg, die je nach Lichteinstrahlung und Winkel des Betrachters aus den Tiefen des kristallartigen Objekts aufzutauchen oder darin zu verschwinden schienen. Sie strich mit dem Fingernagel über die glatte Oberfläche, knapp neben dem ersten Zeichen, das sie schon als Kind hineingeritzt hatte. Das Zeichen, das ihr den Weg zu ihrer Facette der Magie geleitet hatte. Jenes Zeichen, das leider im Facetterium mit dem Wort Tod assoziiert wurde …

»Nasiima Patricia Feehlenwerk!«, ertönte die ungehaltene Stimme ihrer Mutter aus dem Treppenhaus herauf. »Der zweite Frühstücksgong wurde bereits geschlagen.« Es folgte jene Stille, die die Herrin des Palastes so gern für sich sprechen ließ.

Nasiima hatte keinerlei Probleme damit, die Worte ihrer Mutter im Kopf weiterzuspinnen. Kein Mitglied des Hauses Feehlenwerk verspätet sich! In Evenbor sitzt man vor dem dritten Gong bei Tisch, und wir Feehlenwerks sind ein Teil Evenbors. Trotzig drehte Nasiima sich von der offenen Wendeltreppe fort und sah sich in aller Ruhe um, so als entdecke sie ihre Meditationskammer zum ersten Mal. Aus dem höchstgelegenen Raum im Westturm des Familienpalastes war die Aussicht durch die vier Bogenfenster, gerahmt von fein behauenem grauem Marmor, die das Kuppeldach des Turmes trugen, einfach atemberaubend. Der Wind strich durch die Kammer, die bis auf einen eleganten, schlichten Kreis aus eingelegtem Silber vollkommen leer war. Es gab kein Bleiglas, das den Meditierenden von der Umwelt abschirmte, und Nasiima empfand diesen Umstand bisher als ausgesprochen erfrischend, auch wenn sie sich nicht sicher war, wie sie im Winter darüber denken würde.

Mit zwei Schritten erreichte sie das westliche Bogenfenster und stützte sich auf dessen ebenfalls aus Marmor bestehender hüfthoher Brüstung ab. Der Stein fühlte sich kühl unter ihren Fingern an und löschte einen Teil des lodernden Feuers, das in ihr brannte. Sie blickte auf das Umland Grubenstedts, das sich wie ein welliges Tuch aus Grün und Braun vor ihren Augen erstreckte. Nach Westen hin Marschland, das von den in der Ferne versickernden Ausläufern des Sterbenden Flusses gespeist wurde, im Osten ein Flickenteppich aus Obsthainen, abgeernteten Weizenfeldern und Viehweiden. Hier und dort sah sie ferne Weiler zwischen die Hügel gebettet. Der Landstrich vor ihr bildete die südöstliche Grenze Evenbors, mit Grubenstedt als äußerstem Zipfel. Wenn man denn die Stadt noch zum Königreich dazuzählen will, dachte Nasiima. Das direkte Umfeld Grubenstedts hatte sich in eine Art Niemandsland verwandelt, in dem Gold, Schwert und Lanze gleichermaßen das Schicksal der Bauern bestimmten. Nasiima schlenderte nachdenklich zum nördlichen Bogenfenster der Kammer, und sofort sprang ihr die erhabene Schönheit jenes Felsmassivs ins Auge, das als Arakims Wall bekannt war. Die hohe Gebirgskette bildete seit jeher die Grenze zu den auf seinen Hängen lebenden Völkern, die sich vor langer Zeit zum Reich Arakim zusammengeschlossen hatten. Über Jahrhunderte hinweg dem Reich Evenbor ein friedlicher, ruhiger Nachbar, hatte Arakim seine Taktik subversiver Expansion an anderen, wehrloseren Nationen vervollkommnet. Die frisch erbauten Türme und Festungen am Fuße der Berge gaben beredtes Zeugnis davon ab, dass Arakim beschlossen hatte, sich künftig auch nach Süden auszubreiten. Zweifelsohne, um Grubenstedt irgendwann der sicheren, unentrinnbaren Umarmung des Bergreiches einzuverleiben.

Nasiima drehte sich um und schenkte dem Süden ihre Aufmerksamkeit. Das Licht der Morgensonne spiegelte sich selbst über die vielen Meilen Entfernung in den prachtvollen Bauten der Stadt aus Silber, jenes Handelspostens des fernen Xafror, das in seiner Größe die Nationen an der Kargen Küste bei weitem in den Schatten stellte. Die Stadt aus Silber war ursprünglich ein winziger Handelsposten zwischen den beiden Kontinenten Magnol und Xasraldor gewesen, die durch die Karge See getrennt wurden. Deren Wellen konnten nur während der Monde um die Mittsommerzeit passiert werden, wenn das Wetter mild und gnädig war. Reichtum und Einfluss Xafrors eilten dem Kaiserreich voraus wie bellende Hunde, und als in Grubenstedt die ersten Facettsteine gefunden worden waren, waren mehr und mehr Schiffe aus dem Westen über die See gekommen und hatten in der Stadt aus Silber angelegt, die Bäuche voller Gold und Handelswaren, mit denen überall an der Kargen Küste Abkommen geschlossen und Söldner angeworben wurden, um Einfluss auf Grubenstedt zu gewinnen. Es schien, als wolle auch Xafror sich diese Jauchegrube von einer Stadt nicht entgehen lassen, deren unterirdische Schätze die Magie des gesamten Kontinents Magnol hatten neu erblühen lassen.

Der Gongschlag, der aus dem Inneren des Palastes die Wendeltreppe hochschallte, riss Nasiima aus ihren Betrachtungen, und sie stand schon auf der obersten Stufe, als sie verharrte und einen Blick auf die restlichen Ringe Grubenstedts wagte. Hinab auf den dreckigen, schlammigen Moloch einer Stadt, die den Namen eigentlich nicht verdiente. Grubenstedt war ein Mahlstrom aus verzweifelten Seelen, die allesamt dem Traum vom schnellen Gold oder magischer Macht nachjagten und dabei unaufhörlich in dessen Tiefen gesaugt wurden, wo die meisten von ihnen sang- und klanglos untergingen. Nach Nasiimas Meinung gab es einen simplen Grund, warum nur der Palastring ebenerdig erbaut worden war, während die übrigen fünf Ringe Terrasse für Terrasse in die Tiefe führten, als wolle man ein rundes Tor ins Innerste der Erde aufstoßen. Nur die Nadel ragte mit erhabener Schlichtheit aus dem Krater hervor und warf ihren Schatten auf die unglücklichen Seelen der unteren Ringe, wie just in diesem Moment auf die schäbigen Häuschen des Aschlingsviertels.

»Herrin«, erklang ein hektisches Flüstern vom Treppenaufgang her. »Herrin, kommt bitte! Eure werte Mutter runzelt bereits die Stirn.«

Nasiima kannte die Dienerin nicht, die dort aufgelöst auf den Stufen stand und in ihrem schlichten Kleid aus gebleichtem Leinen die Hände rang. In den Wochen seit ihrer Ankunft hatte die Magierin sich entweder in der Nadel, auf ihrem Zimmer oder in dieser Kammer aufgehalten, wenn sie es irgendwie einrichten konnte. Aber der Umstand, dass das arme Ding die Warnzeichen erkannte, an denen man Mutters Laune ablesen konnte, ließ darauf schließen, dass sie bereits länger als einen Mond im Dienst des Hauses Feehlenwerk durchhielt. Vielleicht war es sinnvoll, sie im Auge zu behalten.

»Wie heißt du?«

Die Angesprochene zuckte zusammen. Normalerweise folgte einer solchen Frage durch eine Adlige nichts Gutes. »Lasvin, Herrin.«

»Ich komme, Lasvin«, sagte Nasiima mit einem huldvollen Nicken und einem letzten Blick über Grubenstedt, hinaus in den fernen Westen und die Ebenen jenseits des Rotflusses, wo der Blutsturm sein Unwesen trieb …

»Herrin«, drängte die Dienerin, und Nasiima hatte ein Einsehen.

Ihre Verspätung war jetzt groß genug, um ihren Standpunkt klarzumachen. Noch länger zu trödeln wäre den zusätzlichen Unmut ihrer Mutter nicht wert. Nasiima war stolz auf ihre effiziente Art. Sie verschwendete niemals die eigenen Gefühle oder die anderer Menschen, wenn es sich vermeiden ließ. Ihr anhaltender Ärger über die Ereignisse am Königshof bildete eine wenig glorreiche Ausnahme. War Mutter vielleicht nur ein willkommenes Ziel für Nasiimas Frustration? Unter dem erleichterten Seufzen der Dienerin stieg sie die Wendeltreppe hinab und schritt durch die mit dicken Teppichen ausgelegten Flure bis zu dem kleinen Saal im Westflügel, den Mutter in diesem Mondumlauf aufgrund des Sonnenstands als Frühstücksraum auserkoren hatte. Das Licht, das durch die hohen Bleiglasfenster einfiel, sprenkelte die weißen Wände mit einem Spektakel zerfließender Farben.

Nasiima stockte einen Herzschlag lang, als sie den Raum betrat und feststellte, dass sich Gäste an der langen Tafel eingefunden hatten, die sich höflich erhoben, als die Tochter der Hausherrin eintrat. Also deswegen hat Mutter derart auf Pünktlichkeit gedrängt .

Sie erwiderte die Grußfloskeln der zwei Männer mit einem eleganten höfischen Knicks und ließ sich dann gegenüber ihrer Mutter am anderen Ende der mit weißem Seidentuch und silbernen Schüsseln voller Speisen gedeckten Tafel nieder. Dabei sah sie für einen Augenblick in die grauen Augen der Hausherrin und legte einen Anflug von Bedauern in ihre Miene. Gerade genug, dass ihre Mutter das Gefühl erkennen konnte, aber nicht so viel, dass die Gäste die Regung bemerkten.

Ihre Mutter Ludmilla Feehlenwerk, eine jederzeit herrschaftlich wirkende Frau in den Vierzigern, zuckte mit den Mundwinkeln, um ihre Missstimmung kundzutun, dann setzte sie ein warmes Lächeln auf, das beinahe ihre Augen erreichte. »Nasiima, Liebes, wie schön von dir, uns doch Gesellschaft zu leisten. Ich dachte schon, wir hätten dich so früh am Morgen bereits an die Nadel verloren.«

»Es bleibt Zeit für ein kurzes Frühstück, Mutter«, erwiderte Nasiima lächelnd und musterte die beiden einzigen anderen Personen an der langen Tafel, in der Hoffnung, sich an sie zu erinnern, sollte sie sie bereits kennengelernt haben. Die eine war ein älterer Mann von mindestens fünfzig Jahren, mit einem stattlichen grauweißen Haarkranz, einer Nase, um die ihn jeder Greifvogel beneidet hätte, und blutleeren dünnen Lippen, die der Fremde beständig zusammenkniff, als wolle er die ganze Welt tadeln. Wer ist der Kerl noch gleich? Nasiima hatte ihn schon mehrfach gesehen, aber Mutter unterhielt so viele Gäste, jonglierte mit so vielen Allianzen …

»Du erinnerst dich sicher an Culnibert Breitpfalz?«, sagte Ludmilla, ohne zu Nasiima hinüberzuschauen.

»Selbstverständlich«, log sie und ließ dabei ihren Blick über die Kleidung des Mannes gleiten, der ihr ein dünnes, beinahe geistesabwesendes Lächeln zuwarf. Ein ockerfarbenes Wams von solidem Schnitt aus mittelmäßiger Seide, deren stumpfer Glanz auf regelmäßiges Tragen hindeutete. »Ihr seid doch jener charmante Händler, mit dem unsere Familie eine Übereinkunft bezüglich des Veräußerns minderwertiger Facettsteine getroffen hat, die nach der Reinigung durch die Nadel nicht mehr als einen Zauber binden können.«

»Ihr meint sicher, Facettsteine von einzigartiger Qualität, Herrin«, sagte der Mann mit einem öligen Lächeln. Sein Blick irrlichterte zu dem Stein, der zwischen ihren Brüsten hing .

Und nicht nur zu dem Stein, dachte Nasiima düster, ohne die Miene zu verziehen.

»Nicht jeder ist in der Lage, für ein so makelloses Exemplar zu zahlen, wie Ihr es tragt«, fuhr der Händler fort. »Und ich darf hinzufügen, dass die Preise für jedweden Facettstein – gepriesen sei der Spender  – nur eine Richtung kennen, seit die Minen nicht mehr jede Woche ein neues Kleinod preisgeben.«

»Manchmal ist weniger mehr«, sagte Ludmilla Feehlenwerk lächelnd.

»Vor allem mehr Gewinn«, erwiderte Culnibert, und Nasiima bemerkte, dass ihre Mutter ein Augenrollen unterdrückte. Der Mann versuchte zwar, sich den Anschein von Kultiviertheit zu geben, aber die Art, wie er über Gold sprach, verriet ihn als gewöhnlichen Krämer.

Du denkst schon genau wie bei Hofe, ermahnte sie sich. Jeden herabzusetzen, der nicht dazugehört …

Unter dem Tisch ballte Nasiima die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Nägel tief in die Haut bohrten. Sie wollte nicht an ihre Schmach denken. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den zweiten Gast, einen blassen, schmächtigen Jungen von kaum mehr als zwanzig Jahren, der das Wappen Evenbors trug: einen gehörnten Adler mit einem Schwert in den Krallen auf blauem Grund. Nasiima fand, dass die Königsfamilie der Evenbecks bei der Heraldik zu dick auftrug, aber wer auf dem Thron saß, konnte sich nun mal jedwede Extravaganz leisten. Im Gegensatz zu den Feehlenwerks. Der bittere Gedanke ging so schnell, wie er gekommen war, und Nasiima lächelte den Höfling an, der die weiße Armbinde eines Emissärs trug.

»Welche Ehre bringt uns denn einen Abgesandten des Palastes an den Frühstückstisch?«, fragte Nasiima mit echtem Interesse, während sie zum Herrn der tausend Facetten betete, dass es nicht um jene irrwitzige Intrige ging, die ihre Zeit am Hofe so abrupt beendet hatte.

»Der König ersucht die Acht Häuser um einen vollständigen Bericht bezüglich der Lage in der Stadt«, sagte der junge Mann mit dem verzärtelten Gesicht. »Die Botschaften, die uns von Pambrecht Dregelberg erreichen, sind … vage, um es vorsichtig auszudrücken. Das Königshaus erhofft sich von den hier ansässigen Adelsfamilien ein aufschlussreicheres Bild.«

Viel Glück dabei, dachte Nasiima, bevor sie sagte: »Welch weiser Entschluss unseres Monarchen.« Dabei neigte sie vorsorglich das Haupt, falls ihre Miene ihre wahren Gedanken verriet.

»Ich habe gerade damit begonnen, dem Emissär von unseren Fortschritten in den Minen zu berichten, und ihm von dem Artefakt erzählt, an dem du gerade arbeitest.« Ihre Mutter schickte einen erwartungsvollen Blick in ihre Richtung.

Nasiima unterdrückte ein irritiertes Stirnrunzeln. Eigentlich mochte Ludmilla Feehlenwerk es nicht, auf die magische Gabe ihrer Tochter zu sprechen zu kommen. Das war schon früher so gewesen, bevor die Feinde ihrer Familie die junge Adelige vom Hofe verbannt hatten. Warum lenkte ihre Mutter also jetzt das Thema darauf? Zögerlich legte sie eine Hand auf ihr Facett, und die Matriarchin nickte bedächtig. Also dann, dachte Nasiima.

»Wie Ihr sicherlich wisst, bewahren wir alle Funde aus den Minen in der Nadel auf, dem arkan bestgesicherten Gebäude der Stadt.« Am Lächeln Ludmillas erkannte Nasiima, dass ihr der Beginn des Gesprächs durchaus behagte. »Dort werden sie analysiert und katalogisiert, bis sie anschließend ihrem Finder zurückgegeben werden.«

»Gegen eine hohe Gebühr«, warf Culnibert ein, der sich gerade eine weitere gekühlte Traube in den Mund steckte. Offensichtlich reichte sein angeblicher Wohlstand nicht für frisches Obst.

»Danke für die nebensächliche Ergänzung«, sagte Nasiima höflich, jede Silbe ein scharf geschliffenes Schwert. Mutter brauchte diesen Tölpel vielleicht, um die Truhen des Palastes mit Gold zu füllen, aber trotz alledem sollte der Händler seinen Platz nicht vergessen. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »wird so gewährleistet, dass niemand ein Stück Zauberwerk in die Hände bekommt, welches die Sicherheit des Reiches bedrohen könnte.«

»Und der König kann sich die Zauberrosinen herauspicken, bevor es ein anderer tut«, krähte Culnibert munter dazwischen.

»Nehmt noch eine Traube«, sagte der Emissär kühl. »Sie scheinen Euch zu munden.«

Der Händler sank in sich zusammen, und Nasiima hoffte, von dem Mann heute Morgen nichts mehr zu hören. Dass der Botschafter des Königs seinen eigenen Namen nicht verraten hatte, ließ darauf schließen, dass die Ergebnisse seiner Mission tauben Ohren zugeflüstert werden sollten, wie es so schön bei Hofe hieß. Der zu erstellende Bericht war demnach so vertraulich, dass keine Namen erwähnt werden würden, um ein Mindestmaß an Ehrlichkeit der befragten Adeligen zu gewährleisten. Es würde trotzdem ein Hauen und Stechen geben, dessen war sich Nasiima bewusst. Jede kleine Schwäche wurde am Hof gnadenlos ausgenutzt. Und ihre Mutter, der gerissene Drache, bereitete den nächsten Hieb anscheinend mit Hilfe ihrer Tochter vor.

»Nach dem Brandregen in einem Privathaus eines Magiers minderer Macht, durch den beinahe der halbe Staubring eingeäschert worden wäre, wurde beschlossen, dass die Artefakte einzig von qualifizierten Magiern begutachtet werden dürfen – am besten durch solche, die ein Facett zu meistern wissen«, erläuterte Nasiima. »Und es zeigte sich, dass die darauffolgende Entscheidung, sämtliche Relikte aus den Tiefen der Minen in den durch Bannzauber gesicherten Kammern der Nadel aufzubewahren, Leben rettete. Erst letzte Woche hat die fehlerhafte Aktivierung eines Artefaktes ein Zimmer der Nadel vollkommen geleert. Nichts war übrig geblieben, keine Möbel, keine Aufzeichnungen – kein Magier. Nur das Relikt lag vollkommen unversehrt in der Mitte des Raumes. Man stelle sich vor, dies wäre in einer der belebten Tavernen Grubenstedts durch einen unwissenden Tölpel geschehen, der keine Ahnung von Facetts hat.«

Der Emissär sah bei diesen Worten aus dem Fenster und schluckte. Die Kuppel, die die Stadt umgab, war heute kaum sichtbar, und Nasiima hatte sich bereits derart an den Anblick gewöhnt, dass sie das Phänomen nur noch selten wahrnahm. Natürlich hoffte jeder, ein Artefakt von der Mächtigkeit des Schildsteins, aus dem die Schutzkuppel der Stadt hervorging, zu finden und sich vom König mit Gold überschütten zu lassen. Oder es für den doppelten Preis an einen seiner Feinde zu veräußern. Der Schmuggel in der Stadt blühte, und selbst die Nadel war vor Korruption nicht gefeit.

»Dein Artefakt, Liebes«, erinnerte ihre Mutter sie, und Nasiima erkannte, dass sie zu weit ausgeholt hatte.

»Es handelt sich um eine Kette aus versteinertem Holz«, erklärte sie und fing dabei den Blick des Emissärs ein. »Laut den Runen, die ich darauf entziffern konnte, soll sie die Macht des Firmaments sichtbar machen. «

»Ihr meint, sie kann die Kraft der Sterne vom Himmel holen?«, fragte der Botschafter mit großen Augen, und auf einmal brach seine Jugend durch die Fassade aus Überlegenheit und Distanziertheit.

Der klingt ja schon wie mein Vetter, dachte Nasiima mit einem innerlichen Seufzer. Als Nächstes redet er mit mir darüber, wie der Käse uns alle beherrschen will. Oder waren es die Ratten?

»Bitte bedenkt, dass die Übersetzungen unpräzise sind«, sagte sie beschwichtigend. »Die Bedeutung der Runen wurde von anderen Artefakten abgeleitet, deren Wirkung wir entschlüsseln konnten.« Sie rang einen Moment um Worte. »Es ist, als würde ein Taubstummer einem Blinden die Farbe von Wolken erklären wollen.«

»Sehr blumig«, warf ihre Mutter ein. »Und so bescheiden.« Sie schenkte Nasiima einen Blick, aus dem diese einen Tadel herauslesen konnte. »Vielleicht enträtselt sie jedoch auch die nächste Waffe gegen den Blutsturm, wer weiß?«

Also darauf willst du hinaus, dachte Nasiima und lehnte sich zurück. Die loyale Magierin, die dem Königshaus einen unbezahlbaren Dienst erweist.

»Eine solche Fügung wäre allerdings höchst vorteilhaft«, sagte der Emissär mit einem vielsagenden Blick zu Nasiima. »Vor allem in Anbetracht der jüngsten … Anschuldigungen.«

»Die jeder Grundlage entbehren«, entgegnete Ludmilla Feehlenwerk mit eiserner Stimme. »Eine Lüge, hervorgebracht von Emporkömmlingen, die den guten Namen unserer Familie in den Dreck ziehen wollen, und das aufgrund eines lächerlichen Zufalls.«

Ein Teil in Nasiima freute sich über den Rückhalt ihrer Mutter, aber das schwache Lächeln des Botschafters machte ihr klar, dass er nur mit ihnen spielte. »Wollt Ihr den Stein des Anstoßes sehen?«, fragte sie daher und griff an ihr Facett.

»Wenn Ihr so freundlich wärt«, sagte der Mann mit blitzenden Augen und bestätigte damit ihre Vermutung. Der Botschafter würde nicht gehen, ohne einen Blick auf das Objekt des neuesten Tratsches bei Hof geworfen zu haben.

Nasiima drückte auf die goldene Fassung, die ihr Facett auf der gesamten Rückseite umschloss, und mit einem leisen Klicken löste sich der Kristall aus dem Schmuck. Ein talentierter Goldschmied hatte ihr die Konstruktion am ersten Tag ihrer Ankunft in Grubenstedt verkauft. Diese Stadt liebte Geheimnisse – und ebenso das Wissen darum, wie man sie verbarg.

»Mein erstes Zeichen«, sagte sie und hielt das Facett ins Licht, so dass jener Teil offenbar wurde, der stets für die Öffentlichkeit sichtbar war. »Der Tod«, sagte sie leichthin, und das Frösteln des Mannes gab ihr ein Gefühl von Macht, das sie nach den letzten Tagen der Selbstkasteiung vollauf genoss. »Mein zweites Zeichen«, sagte sie und drehte das Facett so, dass jene deutlich komplexeren Muster erkennbar wurden, die sie vor drei Jahren darauf angebracht hatte, als ihr Facett sie erneut gerufen hatte.

»Was bedeutet es?«, fragte der Botschafter, jetzt ganz offen fasziniert.

Nasiima überlegte, ob ihm für das Erfüllen dieser Mission vielleicht ebenfalls ein Facett versprochen worden war.

Sie wackelte ablehnend mit einem Finger. »Jeder weiß, dass Magier nur einen ihrer Zauber öffentlich machen. Und selbst den nur zur Abschreckung. Die anderen beiden bleiben nach Möglichkeit geheim. Wie sollen wir uns sonst unserer Haut erwehren können, wenn all unsere Mysterien aufgedeckt werden?« Und jeder sich auf unsere Zauber vorbereiten kann, fügte sie im Geiste hinzu.

»Man sagt, Ihr könnt mit den Toten reden«, raunte der Emissär.

Nasiima seufzte. »Man sagt viel«, erwiderte sie ausweichend. »Und wenn Ihr Euch ein Pläuschchen mit einem Verstorbenen erhofft habt oder ein wohlgehütetes Geheimnis aus dem Grab zerren wollt, so muss ich Euch leider enttäuschen.«

Unmut verdunkelte das Gesicht des Botschafters wie eine Wolke, die sich vor die Sonne schob. Dieser Junge hatte offenbar noch seltener das Wort Nein zu hören bekommen als Nasiima. Zur Ablenkung drehte sie ihr Facett bis zum dritten Zeichen, das sie erst vor wenigen Wochen in den Kristall graviert hatte. Jenes Zeichen, das sonst sicher in der Goldfassung eingebettet ruhte.

»Das Wappen von Xafror«, flüsterte der Emissär mit großen Augen und sah Nasiima ungläubig an. »Es ist also wahr.«

»Nein, eben nicht. Es ist nur ein dummer Zufall, der über alle Maße aufgebauscht wurde«, widersprach Nasiima mit einem Anflug von Müdigkeit. »Kein Zeichen auf einem Facett gleicht dem auf einem anderen. Zwei Magier, die einen Blitz herbeibeschwören können, nutzen dafür trotzdem individuelle Zeichen. Deswegen gibt es das Facetterium, die Aufzeichnung aller bekannten Zeichen und ihrer Effekte. In der Nadel ist es eines unserer vordringlichsten Ziele zu entschlüsseln, wie Zeichen und Wirkung zusammenhängen. Das Facett … ruft uns, wenn wir so weit sind, ein Zeichen zu gravieren. Das Einritzen der Linien und Kurven geschieht in Trance. Der Kristall wählt die Form des Zeichens, nicht wir.« Nasiima drehte das Facett, bis sie selbst auf ihren neuesten Zauber hinabblickte. »Und das Wappen von Xafror sieht vollkommen anders aus«, fügte sie unwirsch hinzu. »Der Halbmond hier ist krumm und schief, und die Sonne, die ihn verschlingt, ist auf meinem Facett ein Oval.« Sie verzichtete auf den Zusatz, dass nur fehlgeleitete Narren und böse Zungen eine Ähnlichkeit zum kaiserlichen Wappen ihres Abstammungslandes – einem der schärfsten Konkurrenten Evenbors – herstellen würden. Am Hofe gab es wahrlich genug von beidem. Genug, um sie als vermeintlichen Spitzel des Kaisers davonzujagen und hierhin ins Exil zu schicken, wo ihre Mutter bereits seit Jahren ihr Glück zu machen suchte. Auch sie war vom Hof vergrault worden, doch mit anderen Mitteln. Wenn der eigene Ehemann vergiftet wurde, konnte dies das Machtstreben selbst der entschlossensten Frau lähmen. Nasiima war zu jener Zeit in magischer Ausbildung gewesen und hatte von dem Mord durch Briefe erfahren. Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Nasiima ihre Ausbildung beendete, und jetzt hatte ihre Gabe sie über Umwege wieder an die Seite jener Frau geführt, die so große Hoffnungen in ihr Kind gesetzt hatte. Nicht viele Magier meisterten das dritte und letzte Zeichen eines Facetts so früh wie Nasiima. Wären die Linien auf dem Kristall nur ein wenig anders geraten …

Sie schalt sich selbst für ihre Grübelei. Es gab nur eines, das dabei half, mit einer Intrige fertigzuwerden: eine eigene zu schmieden. Sie schob ihr Facett wieder in die Fassung und brach damit den Bann der Faszination, der den Emissär bisher bei Laune gehalten hatte.

»Ihr wolltet doch einen Bericht«, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. »Vier der Acht Häuser zahlen in Grubenstedt mit Münzen aus Arakim oder der Stadt aus Silber. Vielleicht möchtet Ihr Euch auf dem Bronzering einmal umhören, wie es in deren Truhen gelangt ist. Es gibt laut der Dienerschaft viele Wege, um wankende Loyalität gegenüber dem Thron in klingende Münze zu verwandeln.«

Bei diesen Worten verschluckte sich Culnibert an einer weiteren Traube, und sein Hustenanfall lähmte die Unterhaltung für einige Herzschläge.

»Und Eure Schätze sind rein von solchen … Verlockungen?«, fragte der Botschafter des Königs.

»Wie frisch gefallener Schnee.« Ludmilla Feehlenwerk übernahm wieder das Gespräch, so dass sich Nasiima erleichtert ihrem Teller widmen und bei süßem Kompott und frisch gebackenem Brot der Unterhaltung lauschen konnte. »Die Historie unserer Familie beweist, dass unsere Loyalität niemals brüchig wurde. Ihr seid eingeladen, unsere Goldkammern zu besuchen, wenn Ihr dies wünscht.«

Der Botschafter schüttelte lächelnd den Kopf.

Unsere Historie … Die Worte drehten Nasiima den Magen um, und sie ließ ihre Gabel auf den Teller sinken. Vor knapp einhundert Jahren hatte eine Familie aus Xafror beschlossen, ihr Glück in der Ferne zu suchen, auf der Flucht vor einer mittlerweile lange vergessenen Fehde. Mit einer Schiffsladung Waren und Gold waren Nasiimas Urahnen an der Kargen Küste angekommen und hatten begonnen, sich in Evenbor ein neues Leben aufzubauen. Mit ihrer gelblich schimmernden Haut, den schräg stehenden Augen und dem schwarzen glatten Haar als Fremde geächtet, wurde die Familie Feilung-Wak nach zwei Generationen zur Familie Feehlenwerk, in der Hoffnung, sich dadurch besser in die Gepflogenheiten Evenbors einfügen zu können. Nach und nach ebnete ihnen ihr Reichtum einen Weg in den Niederadel, da die Oberhäupter der Feehlenwerks mit der Ausdauer und dem kritischen Auge eines Pferdezüchters darauf achteten, die Sprösslinge der Familie weiter und weiter mit den Adelshäusern Evenbors zu verbinden. Nach fünfzig Jahren der Vernunftehen waren die Feehlenwerks im Dunstkreis des Königshauses angekommen – und wurden seitdem massiv durch Intrigen und Verleumdungen bedrängt. Da es Gerüchte über Expansionspläne Xafrors gab, das angeblich über die Karge See hinaus nach frischem Land schielte, waren die Feehlenwerks der perfekte Sündenbock, wenn es um Bezichtigungen der Illoyalität und vermutete Spionage ging. Und dann erinnerte Nasiimas drittes Zeichen plötzlich an das Wappen des Großreichs – die Flucht vom Hof in die Arme ihrer Mutter war ihre einzige Chance gewesen.

»Ansonsten kann ich Euch nur mit dem allgemeinen Wissen versorgen, das Ihr sicher schon besitzt«, fuhr Ludmilla Feehlenwerk indes fort. »Der Blutsturm setzt in unregelmäßigen Abständen über den Rotfluss, wird von den Truppen Evenbors zurückgeschlagen und formiert sich neu. Diese fanatischen Barbaren sehen in der Kuppel Grubenstedts wohl so etwas wie eine Herausforderung. Ab und zu marschieren sie in Richtung der Stadt aus Silber, die sich entweder freikauft oder genug Söldner aufbietet, um die Plünderer zu entmutigen.«

Die Augen des Emissärs wurden schmal. »Wie groß ist die Präsenz der Stadt aus Silber in Grubenstedt?«, fragte er. »Alle Welt weiß, dass sie nur ein schlecht verhohlener Außenposten Xafrors auf unserem Kontinent ist.«

»›Gold findet seinen Weg in jede Tasche‹«, zitierte Ludmilla Feehlenwerk ein beliebtes Sprichwort der Stadt. Je nach Stadtring wurde es angepasst auf Silber oder gar Kupfer. »Es gibt keine zwei Handvoll Händler aus der Stadt aus Silber in Grubenstedt, aber die Münzen seines Kaiserreiches sind weit verbreitet – auch unter der Schildwache.«

Der Emissär nickte seufzend. »Und Arakim?«

»Bewegt sich mit der alles zermalmenden Beharrlichkeit eines Gletschers unaufhörlich die Berge hinab, Befestigung um Befestigung«, sagte die Hausherrin. »Die Bauern scheinen sie zu lieben, denn im Schatten der Türme des Bergreichs gibt es keine Verbrechen.«

»Und auch sehr wenig Freude«, warf Culnibert ein, der wohl einen Teil seines Selbstvertrauens wiedergefunden hatte. »Ihre Gesetze sind drakonisch.« Der Händler strahlte, als ihm niemand widersprach, und belohnte sich selbst mit einer weiteren Traube.

»Der Botschafter Arakims hat dem König versichert, dass keine weitere Landnahme mehr erfolgen wird«, sagte der Emissär, und Nasiima hörte heraus, dass der Mann selbst nicht daran glaubte. Arakim pfiff schließlich seit über zehn Jahren dasselbe Lied, um dann die nächste Burg zu bauen, wieder zwei Meilen weiter im Gebiet Evenbors und wieder mit einem Haufen im Wams versteckter Ausreden.

»Und in der Stadt?«, fragte der Emissär und erhob sich dabei. Anscheinend war die Befragung endlich zu Ende. Nasiima stand gemeinsam mit ihrer Mutter und dem bedauernd auf die restlichen Trauben schielenden Culnibert auf. »Wird der Friede des Königs eingehalten?«

»Der Friede Bürgermeister Dregelbergs, meint Ihr wohl«, sagte die Hausherrin lachend. »Der alte Kupferklauber nutzt die Schildwache als willfährige Schläger und erlässt Gesetze, von denen der König wahrscheinlich noch nie gehört hat.« Sie warf dem verdutzten jungen Mann einen wissenden Blick zu. »Natürlich alles im Sinne der Stabilität der Stadt, um sie vor äußeren Einflüssen zu schützen, bei all dem Gesindel, das auf der Suche nach dem großen Glück durch die Bresche hereinströmt.«

»Natürlich«, echote der Mann konsterniert. Anscheinend begriff der Emissär erst jetzt, an was für einem Ort er den Reichen und Mächtigen auf den Zahn fühlen sollte. Ein Anflug von Mitgefühl erfasste Nasiima. Es gab eine nicht zu unterschätzende Wahrscheinlichkeit, dass der Botschafter des Königs in einer rauchigen Nacht im Schlamm der Stadt verschwand, nachdem er arglos den falschen Leuten die falschen Fragen gestellt hatte.

Der junge Höfling verabschiedete sich mit einigen gestelzten Worten, während Ludmilla Feehlenwerk dem Händler Culnibert mit einem Stirnrunzeln zu verstehen gab, dass sein Frühstück ebenfalls zu Ende war. Die Matriarchin des Hauses schien guter Dinge zu sein, und als die beiden Gäste endlich verschwunden waren, ließ Nasiima sich wieder auf einen der hochlehnigen Stühle fallen und fischte nach einem Brocken Brot, den sie großzügig in das Kompott tauchte.

»Etwas Haltung, bitte«, protestierte ihre Mutter, die sich erneut kerzengerade auf ihren Stuhl setzte. »So benimmt sich eine Adelige nicht.«

Instinktiv gehorchte Nasiima und ärgerte sich umgehend darüber. »All das Getue, nur damit uns die Höflinge dann doch ausschließen«, knurrte sie. »Sogar meinen Vornamen habt ihr angepasst.«

Ludmilla seufzte. »Ich hätte dir nie davon erzählen dürfen. Es hat dich bockig werden lassen.«

»Vaters Ermordung hat mich bockig werden lassen«, rief Nasiima leidenschaftlich und hob dann umgehend die Hand zu einer stummen Entschuldigung, während sie sich sammelte. »Ich bin nicht ich selbst«, sagte sie in ruhigerem Ton. »Dieser Sturz aus der Gunst des Königs …«

»…kann rückgängig gemacht werden, Nasiima«, sagte ihre Mutter sanft und sprach den Namen ihrer Tochter aus wie sonst kaum jemand. Nasi-i-ma. Der Großvater hatte Ludmilla nach einer berühmten verstorbenen Königin Evenbors benannt, um sie attraktiver für einen potenziellen Bräutigam erscheinen zu lassen. Ludmilla hatte ihrer Tochter zumindest dieses Schicksal erspart.

»Finde ein mächtiges Relikt, das wir dem König überreichen können, und alle Schandmäuler werden verstummen«, sagte sie nun.

»Leichter gesagt als getan«, erwiderte Nasiima. »Die Nadel gleicht einer Schlangengrube – in der die Schlangen zaubern können, gedungene Mörder anwerben und mit großzügigen Spenden an die Finder die potenziell mächtigsten Artefakte an sich reißen.«

Ludmilla verzog das Gesicht. »Man kann eine Metapher auch zu Tode reiten, Liebes«, tadelte sie. »Und wenn du Goldpfennige brauchst, um dir einen Vorteil zu sichern, dann sage es mir einfach.«

Nasiima schüttelte den Kopf. »Mein Gespür für Zauberei ist fein genug ausgeprägt, dass ich Relikte auswähle, die die anderen übersehen. Aber wenn die Funde noch seltener werden, komme ich auf dein Angebot zurück.«

Ihre Mutter nickte und verfiel dann in ein Schweigen, das Nasiima nur zu gut kannte. »Heraus damit, Mutter«, sagte sie schicksalsergeben.

»Es geht um deinen Vetter Gunter …«, begann Ludmilla, und Nasiima schnaubte.

»Was hat er jetzt wieder getan? Behauptet, der Himmel wäre eigentlich grün und wir alle nur farbenblind? Oder hat er einen Schuster bezichtigt, dass seine Schuhe aus der Haut von Fröschen genäht wurden?«

Die Matriarchin lächelte kurz, was Nasiima als persönlichen Erfolg verbuchte. »Er erzählt jedem in der Familie, und die Götter wissen, wem sonst noch, dass eine Pflanze aus einer Leiche gewachsen ist – und zwar als die arme Seele noch lebte.«

»Also das ist sogar für Gunter sehr versponnen«, erwiderte Nasiima. »Und ich soll ihn jetzt wieder zum Schweigen bringen?«

»Auf dich hört er noch am ehesten«, sagte Ludmilla in beinahe bittendem Ton. »Ich dachte, in der Schildwache auf dem Schlammring könnte er dem Namen der Familie nicht weiter schaden, aber …«

»Schon gut.« Nasiima ergab sich in ihr Schicksal und stand auf, um den Raum zu verlassen. Kaum war sie an der Tür, drehte sie sich noch einmal um. »Warum war dieser Händler anwesend? Normalerweise verstehe ich deine Ränke, aber hier bin ich ratlos.«

»Unterschätze nie die Macht eines Narren an deiner Seite«, sagte die Matriarchin verschwörerisch. »Er kann als Ablenkung oder als Opfer dienen, je nachdem, wie sich ein schwer einzuschätzendes Gespräch entwickelt.«

Nasiima nickte und musste wieder an Gunter denken. Ihr Tölpel von einem Vetter könnte vielleicht ebenfalls noch einmal nützlich werden, wenn die Schakale erneut auf ihre Familie losgingen.

Entweder als Ablenkung – oder als Opfer.

»Was für ein Saustall«, schimpfte Nasiima vor sich hin, als sie in der Unterkunft stand, die Gunter im Ostflügel des Palastes, direkt neben dem Gesindeflur, sein Eigen nannte. Die Vollrüstung, die Mutter extra für ihn hatte anfertigen lassen, setzte bereits Flugrost an, weil er sich offensichtlich nicht um sie kümmerte und auch keinem Diener gestattete, sein Gemach zu betreten. Überall hingen Pergamentfetzen an den Wänden, mit Nägeln achtlos in die Fugen des kostbaren Steins getrieben, auf denen seine abstrusen Thesen zu bewundern waren, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte.

Linkshänder können Zahlen nicht begreifen!

Sätze, die das Wort wirklich enthalten, sind immer Lügen!

Die eigene Pisse, noch warm gegurgelt, ist das zuverlässigste Heilmittel gegen Halsentzündungen!

Das Böse kommt von den Sternen und beobachtet uns unablässig!

Für Nasiima war klar, dass Gunters Urahnen ein paarmal zu oft innerhalb der eigenen Familie geheiratet hatten, und sie dankte dem Herrn der tausend Facetten dafür, dass ihre Verwandtschaft zueinander nur der zehn Jahre zurückliegenden Ehe zwischen einem Mitglied der Feehlenwerks und einer attraktiven Braut aus dem uralten Geschlecht derer vom Adlerstein geschuldet war. Sie trat gegen eine alte Silberschüssel voller eingetrocknetem Haferschleim, die auf dem Boden stand. Als hätte man ein quiekendes Ferkel in der Familie, dachte sie abschätzig, als sich hinter ihr die Tür öffnete und eine wohlbekannte Stimme sie aus ihren Gedanken riss.

***

»Ich dachte, ich sei in dieser Familie dafür zuständig, die Nase tief in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.« Gunter Hyazinth vom Adlerstein musste an sich halten, um seine Base nicht wesentlich schärfer zurechtzuweisen.

Nasiima fuhr herum, aber sie wirkte nicht im mindesten verlegen, weil er sie ertappt hatte, sondern führte sich so auf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass sie in den Dingen herumschnüffelte, die ihn im Innersten bewegten. »Wenn ich an Eurer Stelle wäre, mein lieber Vetter, dann würde ich meine wirren Gedanken nicht auch noch aufschreiben und an die Wand heften. Für das Ansehen unserer Familie wäre es besser, wenn Eure … Versponnenheit … nicht für alle sichtbar Pergamentblüten triebe.«

Er ahnte, dass sie statt Versponnenheit lieber Irrsinn oder etwas Ähnliches gesagt hätte. Dass sie sich bemühte, ihm gegenüber zumindest einen Rest Höflichkeit zu wahren, kam ihm verdächtig vor. »Ihr wart lange fort, deshalb erkläre ich Euch gerne noch einmal die Regeln in diesem Haus, die meine Gemächer betreffen und an die sich jeder hier hält. Diese Räume betritt niemand außer mir. Nicht einmal das Gesinde.«

Sie nickte herablassend. »Dass hier schon lange niemand mehr war, um Euren Dreck wegzuräumen, ist unübersehbar. Ist das der Einfluss des Schlammrings? Beginnt man, Unrat schätzen zu lernen, wenn man dort lange genug Dienst tut?«

»Verliert man das Gefühl für den Umgang mit den Lebenden, wenn man sich so sehr mit dem Tod beschäftigt wie Ihr, geschätzte Base?«

Wobei … Ihre Magie …

Womöglich konnte sie ihm nützlich sein.

Er sollte etwas höflicher zu ihr sein.

»Es hat doch gewiss einen Grund, dass Ihr meine Gemächer aufsucht.« Gunter schob mit dem Fuß eine Schale mit eingetrocknetem Haferschleim unter das Bett. Er sollte hier wirklich etwas mehr Ordnung halten. »Kann ich Euch dienlich sein, meine liebe Base?«

Sie bedachte ihn mit einem honigsüßen Lächeln. »Danke der Nachfrage, mein lieber Vetter. Es ist in der Tat nur ein Höflichkeitsbesuch. Wir haben uns so schrecklich lange nicht gesehen, und an der Tafel gibt es nie Gelegenheit für ein … sagen wir, ein persönlicheres Gespräch.«

Er glaubte ihr kein Wort. Sie wollte also nicht damit herausrücken, warum sie hierhergekommen war. Nun gut … Mit ihrem höfischen Geplänkel gab sie ihm die Möglichkeit nachzusetzen. »Ich finde, es ist immer eine hervorragende Basis für ein gütliches Auskommen, wenn man sich einander verpflichtet fühlt und Geheimnisse miteinander teilt.«

Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen, und schon wandte sie sich zum Gehen.

»Wartet, Nasiima. Ich wollte Euch in etwas Vertrauliches einweihen und würde Euch gerne um einen Gefallen bitten.«

Sie sah ihn wieder an. Und erneut spielte dieses honigsüße Lächeln um ihre Lippen, als habe sie nicht gerade eben noch vor seiner vermeintlichen Neugier flüchten wollen. »Ich bin ganz Ohr.«

»Ich habe im Schlammring einen ungewöhnlichen Toten gefunden …« In wenigen Worten erzählte er ihr von den Ereignissen und seiner Sorge, dass es sich um einen Ritualmord handele. Auch wenn er einen leichten Plauderton anschlug und sich bewusst ein wenig naiv gab, beobachtete er aufmerksam ihr Mienenspiel. Sollte sie von diesen Morden gewusst haben, so verriet sie sich durch nichts. Sie lauschte ihm mit angespannter Neugier.

»Tatsächlich ungewöhnlich … Aber wie könnte ich Euch helfen, mein lieber Vetter? Ihr habt ja schon eine«, sie rümpfte die Nase, »Dame, die Euch die Leichen aufschneidet, und reichlich kräftige Handlanger, die die Wahrheit aus Verdächtigen herausprügeln können. Da erscheine ich doch eher überflüssig.«

Gunter überlegte, wie er es taktvoll ansprechen konnte. Facettträger waren in Bezug auf ihre Fähigkeiten schwierig. Stets machten sie ein Geheimnis darum. Ihn erinnerte dieses Gebaren an das Geschäft der Rosstäuscher. »Wir treten im Moment auf der Stelle … Dabei ist die Sache dringend. Ich weiß so gar nicht, womit ich es bei diesem Toten zu tun habe. Vielleicht ist es ein Ritualmord, begangen von gelangweilten Adeligen, verrückten Bauern oder halb verhungerten Schlammkriechern. Womöglich ist es auch der Beginn einer Seuche. Sollte dies der Fall sein, müssen wir diese so früh wie möglich eindämmen.«

Die arrogante Hofschranze hob einfach nur die Brauen, als würde sie immer noch nicht verstehen.

Dann würde er eben direkter werden müssen. »Innerhalb der Familie redet man über Eure Fähigkeiten, liebe Base. Ihr könntet mir sehr helfen …«

Sie sah ihn abwägend an. »Und Ihr würdet mir dann einen Gefallen schulden, Vetter.«

Er nickte, auch wenn er ahnte, dass sie den Lohn für ihren Dienst mit Wucherzinsen einfordern würde.

***

Genoveva mochte Magier nicht. Sie machten ein Gehabe um ihre undurchsichtigen Praktiken, das ihr zutiefst zuwider war. Und diese Nasiima gab sich alle Mühe, den schlechten Leumund der Zauberer zu untermauern. Schon beim Betreten des Leichengewölbes in der Gelben Burg hatte sie abfällig die Nase gerümpft. Was erwartete sie denn? Der Geruch von Toten wurde mit der Zeit nicht besser. Jedenfalls nicht in den ersten paar Wochen.

»Und es bringt wirklich Erkenntnisse, wenn man eine Leiche derart ausweidet?« Nasiima deutete nachlässig auf die geöffnete Bauchhöhle.

Der Hauptmann warf Genoveva über Nasiimas Schulter hinweg einen entschuldigenden Blick zu.

»Nun, erst dadurch, dass ich die Leiche geöffnet habe, konnte ich mir sicher sein, dass diese Weizenhalme tatsächlich innerhalb des Toten verwurzelt sind.« Genoveva bemühte sich, sachlich zu klingen. »Wie es scheint, hat er Körner mit einer geringen Menge Alkohol zu sich genommen. Bier, so wie es riecht.« Sie deutete auf eine kleine Schale, die neben dem Toten auf dem Steintisch stand. »Ich konnte einige Körner aus seinem Magen bergen. Es sieht aus, als seien sie geröstet worden.« Sie hob mit der Pinzette eines an, aus dem ein langer Schössling spross. »Das hier ist in der letzten Stunde gewachsen.« Sie sah zum Hauptmann. »Seit wir ihn hierhergebracht haben, hat es mehrere Wachstumsschübe gegeben. Das ist seltsam –«

»Weil er tot ist?«, unterbrach sie die Magierin. »Die Pflanzen haben doch immer noch ihren Dünger. Warum sollten sie nicht wachsen?«

»Seltsam ist die Art, wie sie wachsen«, fuhr Genoveva eisig fort. »Es geschieht in Schüben. Man kann dann zusehen, wie sie größer werden und neue Wurzeln treiben. Anschließend verändert sich wieder über Stunden nichts. Ich habe Euch ja bereits während des Aufstiegs zur Gelben Burg berichtet, dass die Pflanzen weiterwachsen, Hauptmann.«

»Und wie genau nützt diese Erkenntnis dabei herauszufinden, wer diesem armen Kerl ein Weizenfeld in den Bauch gepflanzt hat?«

Diese stichelnde, mandeläugige Schlampe, dachte Genoveva. Sie war sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber diese Nasiima … »Es ist wie mit einem Mosaik. Jeder Stein für sich betrachtet ergibt kein Bild. Erst wenn man –«

»Verschont mich mit Euren Metaphern! Ich verstehe Euch auch ohne wortreiche Erklärungen.« Nasiima machte eine Geste, als wollte sie eine lästige Fliege verjagen. »Ich nehme an, ich weiß, was Ihr wollt. Ich soll die Totenrede nutzen.«

»Es heißt, Ihr könntet all jene Geräusche noch einmal erklingen lassen, die der Verstorbene während seiner letzten Herzschläge vernahm«, sagte Genoveva skeptisch.

»So heißt es also …« Die Magierin verbarg ihre Geheimnisse hinter einem Lächeln.

»Das wäre sehr hilfreich, werte Base«, sagte der Hauptmann mit einer Freundlichkeit, die an Speichelleckerei grenzte.

»Zieht Euch ein wenig zurück und wendet Euch ab. Ich mag es nicht, wenn man mir auf die Finger schaut, während ich meine Kunst ausübe.«

Genoveva biss sich auf die Unterlippe, um nichts zu sagen. Sie wusste, was sich der Hauptmann erhoffte, aber diese Arroganz seiner Verwandten war einfach unerträglich. Sie steckte die Nase in alles, und ihr durfte man nicht auf die Finger schauen … Gegen jede Vernunft wünschte sich Genoveva, dass der Zauber fehlschlug und Nasiima bis auf die Knochen blamiert dastand.

Die Stimme der Adligen klang seltsam hohl, während sie hinter Genovevas Rücken sprach. Genoveva kam es vor, als würde es kälter im Gewölbe. Die Flammen der Öllichter tanzten, als wollten sie sich vor dem Dunkel fortducken.

Plötzlich erklang ein seltsam schnarrendes Geräusch links neben ihr. Hinter ihr heulte ein Hund, und sie vernahm ein ersticktes Röcheln aus der Richtung des Toten, während unmittelbar vor ihr die lallende Stimme eines trunkenen Sängers erscholl.

»…und ist es mit dem Liebchen aus,

dann wandre ich zum Roten Haus.«

Eine Gänsehaut legte sich über Genovevas Arme. Die Stimme war so nah, als stünde der Kerl unmittelbar vor ihr. Doch da war nur das nackte Mauerwerk, aus dessen Fugen der Kalk in weißen Schlieren sickerte.

Dann war es wieder still.

Genoveva blickte über die Schulter. Nasiima wirkte erschöpft. Sie stützte sich mit beiden Händen auf der Steinplatte des Seziertischs ab. »Hat Euch das weitergeholfen?«, fragte sie leise. »Was ist das Rote Haus ? Ist er dort gestorben?«

»Nein.« Der Hauptmann klang geradezu euphorisch. »Das Rote Haus ist ein Ort, den Ihr in Eurem ganzen Leben nicht betreten werdet, meine liebe Base. Das war nur ein Lied. Unser Toter war nicht einmal in der Nähe dieses Hauses, als er seinen letzten Atemzug tat. Er war ganz woanders. Und ich weiß jetzt auch, wo.«