70. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel
Mit zitternden Händen sperrte Woulf die Tür zur Knospe auf. Seine nackten Füße waren so kalt, dass sie sich anfühlten, als würden sie nicht zu seinem Körper gehören. Trotzdem hatte er es nach Hause geschafft. Im Laufe der letzten Nacht hatte es mehr als einen Augenblick gegeben, in dem er dies für unmöglich gehalten hatte.
»Na endlich, ich dachte schon, du machst heute gar nicht auf.«
Woulf zuckte zusammen. Jetzt haben sie mich! Mit ängstlich zusammengekniffenen Augen blickte er über die Schulter – und sah in das pockennarbige Gesicht seines Stammgastes Pitter. Ein Seufzer der Erleichterung schlich sich aus seiner Kehle.
»Alles in Ordnung?«, fragte Pitter. Echte Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.
Dankbar lächelte Woulf ihn an. Vielleicht war sein sonst so schweigsamer Dauergast ja jemand, dem er die grässlichen Ereignisse der letzten Nacht gefahrlos offenbaren konnte. Darüber zu reden, würde ihm guttun. Immerhin kannte er Pitter schon sein ganzes Leben lang. Er war bereits der Stammgast seines Vaters gewesen.
Pitters nächste Worte belehrten ihn eines Besseren. »Lass mich rein! Die Sonne ist beinahe zur Hälfte über die Kuppel gewandert, und du hast noch immer nicht geöffnet. Ich brauche dringend ein Bier und einen Brand.« Das rotwangige Gesicht des Trinkers verzog sich zu einer Grimasse reinster Gier.
»Heute bleibt die Knospe leider geschlossen, Pitter.«
Ungläubig ruckten die grauen Augenbrauen des alten Mannes hoch. »Das kann nicht sein! Dein Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie nachlässig du seine Knospe führst. Er hat mich nie im Stich gelassen.«
Im Stich gelassen, dachte Woulf. Jemandem kein Bier zu servieren, fällt wohl eher nicht in diese Kategorie. Angewidert blickte er auf Pitters zitternde Hände. Er zwang sich, dem Säufer in die Augen zu sehen, bevor er sagte: »In den letzten vierundzwanzig Jahren hatte die Knospe unter meiner Ägide genau dreimal zu.« Er erhob seinen linken Zeigefinger. »Das erste Mal, als ich Vater zu Grabe getragen habe.«
Pitter brummte, als würde er das zumindest akzeptieren.
»Das zweite Mal, weil der Bierhumpenaufstand tobte und der Bürgermeister verfügt hatte, dass alle Schenken der Stadt zu schließen haben.« Der Mittelfinger gesellte sich zum Zeigefinger.
Das Brummen seines Stammgastes wurde unwirscher.
»Und das dritte Mal, als ich mir die Hand …« Woulf unterbrach sich. In seinem merkwürdigen Zornesausbruch hätte er Pitter fast sein größtes Geheimnis offenbart. »Ähm … schlimm verbrannt habe.« Sein Daumen wanderte ebenfalls nach oben.
»Mir sind diese dämlichen Ausreden egal. Ich habe jeden einzelnen Tag davon gehasst«, keifte Pitter. »Scher dich an die Arbeit. Sonst verlierst du deinen treusten Kunden.«
»Wie schon gesagt: Heute bleibt die Knospe geschlossen. Du kannst gern morgen wiederkommen.« Woulf hegte keinerlei Zweifel daran, dass Pitter genau das tun würde. Er schob sich ins Innere und schlug seinem Stammgast die Tür vor der rot geäderten Nase zu.
Dumpf dröhnte Pitters unflätiges Fluchen durch die dicken Eichenbohlen. Als es verstummte, konnte sich Woulf endlich der Ruhe und Geborgenheit seines Gasthauses hingeben. Der vertraute Geruch nach schalem Bier, altem Fett und Männerschweiß ließ ihn augenblicklich ruhiger werden. Er war zu Hause.
Die letzte Nacht war die schlimmste seines Lebens gewesen. Ein regelrechtes Abenteuer. Woulf hasste Abenteuer. Die sollten andere Leute bestreiten, um ihm anschließend davon zu berichten. Was hatte er sich nur dabei gedacht, in den Staubring hinabzusteigen, um eine illegale Unheilung vornehmen zu lassen?
Er wankte hinter seinen polierten Tresen und griff nach dem ältesten und damit besten Brand, den er sein Eigen nannte. Ein Becher davon war so teuer, dass seit Jahren keiner seiner Gäste sich einen davon hatte leisten wollen. Vater muss ihn noch vor meiner Geburt angesetzt haben. Mit den Zähnen zog er den Korken heraus und spuckte ihn in den Gastraum. »Auf dich, du elender Gauner!«, prostete er der Heiligenstatue des Spenders und irgendwie auch seinem Vater zu. Mit geschlossenen Augen nahm er einen tiefen Zug. Wie heißes Öl rann ihm der Schnaps die Kehle hinunter. Es war Ewigkeiten her, dass er von seinen eigenen Vorräten getrunken hatte. Sich daran nicht übermäßig zu bedienen, war eine weitere Lehre, die sein Vater ihm unbewusst durch sein Verhalten erteilt hatte. Beroulf und Pitter waren oft die Letzten in der Knospe gewesen – und die Betrunkensten. Unwillkürlich begann Woulf zu husten. Das Zeug schmeckte widerlich! Einen Moment überlegte er, die Tür zu öffnen und Pitter die Flasche hinterherzuwerfen. Stattdessen begab er sich auf alle viere, um den Korken zu suchen. Akribisch verschloss er die Flasche und stellte sie zu ihren Brüdern und Schwestern unter den Tresen. Dieses Gebräu in sich hineinzuschütten, war wahrlich eine Strafe, aber er machte mit Schnaps den meisten Umsatz. Vielleicht würde irgendwann ein Kunde doch einmal ein Becherchen des alten Brands bestellen und ihm damit zu einem ordentlichen Gewinn verhelfen. Woulf hätte sich nicht als arm bezeichnet, aber er schwamm auch nicht gerade im Geld wie die Bewohner des Palastrings. Und in Anbetracht der Tatsache, dass ihn die letzte Nacht eine beträchtliche Summe gekostet hatte, war dies wahrlich nicht der richtige Zeitpunkt, um verschwenderisch zu werden. Er betrachtete seine Hand. Die Finger waren noch immer grau, und ein feiner Schmerz durchwanderte sie beständig.
»Verfluchter Aschling!«, spie er aus. Sein Vater hatte recht gehabt. Auf den beiden untersten Ringen lebte nur Volk. Woulf hatte gut daran getan, sich bisher im Großen und Ganzen von diesem Gesindel fernzuhalten. Die schiere Not hatte ihn in den Staubring getrieben. »Nur um von einem Aschling betrogen zu werden.« Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Was sollte er jetzt tun? Er hatte kein Geld mehr, und seine Finger verrotteten immer noch.
Ein strenger Geruch stieg ihm in die Nase und stieß ihn auf ein naheliegenderes Problem: Er war von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt. Vermutlich stank er wie der Schweinestall, durch den er vor der Schildwache aus dem Kehrichtviertel geflohen war. Die fröhlich grunzenden Tiere waren bei seiner Flucht das geringste Problem gewesen. Aber der Gestank ihrer Pferche hatte ihn zurück bis auf den Kupferring begleitet. Vielleicht hat der mich sogar gerettet. Woulf ließ die Ereignisse der gestrigen Nacht vor seinem inneren Auge erstehen.
Nachdem das Horn der Schildwache erklungen war und Rami sich in Luft aufgelöst hatte, war ihm bewusst geworden, dass er sich im Staubring kaum auskannte. Den Weg zu dem Aschling hatte er nur dank der detaillierten Beschreibung eines Gastes gefunden. Woulf hatte vorgehabt, auf selbigem das schmuddelige Viertel wieder zu verlassen. Es ist alles anders gekommen. Nach der Verabschiedung von den Schweinen hatte ihn die nichtssagende Gleichförmigkeit des Staubrings empfangen. Gedrungene, windschiefe Häuser, die dermaßen mit dem Grubenschmutz vom Ring darunter befleckt waren, dass sie allesamt einen unansehnlichen Ockerton angenommen hatten. Hier machte sich natürlich niemand die Mühe, sein Haus zu reinigen, wie Woulf das regelmäßig tat. Die Bauwerke passten sich in ihrer Scheußlichkeit hervorragend den hässlichen Bewohnern an, die die engen Gassen dazwischen in schieren Massen bevölkerten. Aschlinge. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele von ihnen in Grubenstedt gibt. Zeitlebens hatte Woulf jedweden Kontakt mit den grauen Spitzohren vermieden. Sie waren ihm gleichermaßen unheimlich wie unsympathisch. Unter seinen Gästen befand sich kein einziger Graukopf. Das lag nicht an der Knospe, sondern daran, dass Aschlinge grundsätzlich nicht die Schenken der Stadt besuchen. Man munkelte, sie würden keinen Alkohol vertragen. Woulf war auf seiner Flucht nur zu bewusst gewesen, dass er in dem Meer von zarten Zwergen wie ein roter Apfel in einem Korb voller grüner Birnen gewirkt haben musste. Die Schildwache hätte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Unglücklicherweise konnte man die Unheilzauber anhand des Schildflackerns recht genau lokalisieren. Und wer sollte in dieser verruchten Gegend einen in Anspruch genommen haben, wenn nicht der fremde Rotschopf? Daher hatte Woulf etwas getan, das gänzlich gegen seinen Willen und sein Wesen ging: die Schuhe ausgezogen und in seinem Beutel versteckt.
Missmutig betrachtete er seine verdreckten Füße und die Schlammspuren, die er damit durch sein Gasthaus gezogen hatte. »Danke«, murmelte er. Er selbst hätte nicht sagen können, wem er da gerade mehr dankte: seinen Füßen oder dem Schlamm. Beide hatten ihn gerettet, obwohl gleichermaßen unansehnlich.
Als er gestern Nacht endlich die Bresche gefunden hatte, um in seinen zivilisierten Kupferring aufzusteigen, hatte dort bereits eine breitschultrige Meute Wachen mit aschgrauen Umhängen gelauert. Sie hatten jeden genauer in Augenschein genommen. Dennoch war er so zielstrebig wie barfüßig auf das Torhaus der Bresche zugegangen. Allerdings nicht um hinauf-, sondern um hinabzusteigen. Zuvor hatte er sich den verhassten Schlamm händeweise auf den Körper geklatscht und sich dann einer Gruppe absteigender Schlammkriecher angeschlossen. Niemand gönnte dieser untersten Schicht Grubenstedts mehr als nur einen flüchtigen Blick. So auch in diesem Fall. Woulf war mit der Masse der Dreckschlepper verschmolzen, die die Stadt unablässig vom Unrat befreiten. Er war eins mit diesen armen Seelen und dem sie bedeckenden Schlamm geworden und hatte problemlos die Wachen passieren können. Im Schlammring angekommen, hatte er eine weitere seiner ungeschriebenen Regeln gebrochen und war in das Gasthaus eines Konkurrenten gegangen, um die Nacht hinter sich zu bringen. Zu seiner Schande hatte er dort sogar ein Bier bestellen müssen, nachdem sein Wunsch nach einem kleinen Becher Milch allzu viel Spott erregt hatte. Die Sonne hatte den Himmel über der Kuppel bereits in mysteriöses Purpur getaucht, als er sich am folgenden Morgen an den Wiederaufstieg gewagt hatte. Dank seiner Tarnung und des Breschentalers hatte er problemlos in sein heimatliches Viertel zurückkehren können.
Wie furchtbar das alles war! Woulf beschloss, dass er die letzte Nacht abwaschen musste. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Er lief durch die Küche und die Hintertür hinaus in den versteckten Innenhof der Knospe. Am Brunnen entledigte er sich seiner Kleider und schüttete sich einen Eimer klares, wunderbar frisches Wasser über den Kopf. Wie glücklich er sich doch schätzen konnte, im sauberen Kupferring zu Hause zu sein!
***
Gunter, Rutger und Klas eilten mit langen Schritten über den Wehrgang. Rechts von ihnen lag der Kupfermarkt, wie man den ebenerdigen Teil der Bresche im Kupferring nannte. Er erstreckte sich über knapp hundertfünfzig Schritt und endete vor der Steilwand, auf der hoch über ihm der Bronzering begann.
Sie passierten einen der Wachtürme auf der Mauer. Flüchtig blickte der Hauptmann auf den Markt. Die vereinzelten Stände boten vor allem Essen feil. Wasserverkäufer waren bunte Tupfen zwischen den verdreckten Schlammkriechern, die gebeugt unter ihren Lasten der nächsten Treppe entgegenstampften. Einige hatten sich im Schatten der gegenüberliegenden Festungsmauer niedergelassen. Aus der Ferne sahen sie aus wie lebendig gewordener Schlamm.
»Die Bratwurst riecht gut.« Rutger beugte sich zwischen den Zinnen des Wehrgangs vor und sah sehnsüchtig zu einem Marktstand, an dem ein Grill an Ketten über einer großen Feuerschale schwang.
»Stimmt.« Klas schob sich so weit vor, dass seine Brustplatte über das Mauerwerk schrammte.
Gunter hatte die beiden Wachen mitgenommen für den Fall, dass es Ärger gab, Genoveva und Nasiima aber ausgeredet, sich ihnen anzuschließen. Die Trabantin schien von den unheimlichen Stimmen und Lauten im Gewölbe der Gelben Burg zutiefst erschüttert zu sein. Es war eine Sache, von diesem Zauber erzählt zu bekommen, aber eine ganz andere, dabei zu sein, wenn die letzten Geräusche, die ein Sterbender vernommen hatte, noch einmal erklangen.
Seiner Base hatte er nicht allzu lange zureden müssen. Ihre nie enden wollende Jagd nach Anerkennung durch den König hatte sie zurück zur Nadel und ihrem neuesten Artefakt gezogen.
»Vorwärts!«, drängte Gunter.
»Warum haben wir es denn plötzlich so verdammt eilig?«, maulte Rutger. »Dem Toten wird es egal sein, ob wir seinem Mörder jetzt mit leerem Bauch oder in einer halben Stunde gut gekräftigt auf die Schliche kommen.«
Mir ist es nicht egal, dachte Gunter, ließ sich aber nicht dazu herab, mit den beiden zu diskutieren. Das wäre ein Zeichen von Schwäche, und dieser impertinente Muskelprotz Rutger würde Oberwasser bekommen. Gunter ging einfach weiter. Sollte es kein Ritualmord, sondern der Beginn einer Seuche sein, drängte die Zeit.
Noch zehn Schritt, dann endete der Wehrgang vor der Steilwand. Der Hauptmann betrachtete die mächtigen Scheintürme, die das Kupfertor flankierten. Sie waren lediglich Mauerwerk vor Fels. Eindrucksvolles Mauerwerk. Vor ihnen lagen die beiden Becken, in denen sich das Grubenwasser sammelte, eine schlammbraune Brühe. Zwei große Treträder drehten sich, um die Schraubpumpen in Bewegung zu halten, die das Wasser hinauf auf den nächsten Ring hoben.
Gunter verharrte und lauschte. Er versuchte, all die Geräusche der Stadt auszublenden. Die Rufe der Wasserverkäufer, das Klacken teurer Stiefelsohlen auf dem Pflaster unter ihm, das beständige, leise Murmeln, das von der Menschenmenge in der Bresche ausging. Es gab nur einen einzigen Laut, den er aus dieser Kakophonie des Lebens heraushören wollte. Jenes schnarrende Geräusch, das Nasiimas Magie im Gewölbe unter der Gelben Burg hatte erklingen lassen.
Gunter starrte das große Tretrad unmittelbar unter sich an.
Er hatte mit geschlossenen Augen in dem Gewölbe bei Genoveva gestanden und sich ganz auf sein Gehör eingestimmt. Alle anderen Sinne hatte er versiegelt, um eins mit den Lauten zu sein. Er hatte versucht, alles in sich aufzunehmen, auch die kleinste Kleinigkeit. Nasiimas Zauber hatte die Besonderheit, dass er auch das räumliche Verhältnis der letzten Geräusche abbildete, die an die Ohren des Toten gedrungen waren. Das erstickte Gurgeln war im Zentrum über der Leiche zu hören gewesen. Ohne Zweifel war es das Geräusch der letzten verzweifelten Atemzüge des Mannes, den die Ähren in seiner Kehle erstickt hatten.
Der bellende Hund war links von ihm zu hören gewesen. Ebenso der angetrunkene Sänger. Der Schnarcher rechts. Das Geräusch des Tretrads war der Schlüssel. Der Tote war links von ihm gestorben.
Gunter trat an die von der Bresche abgewandte Seite des Wehrgangs und blickte auf das Stadtviertel. Ein Labyrinth von Gassen, gesäumt von Fachwerkhäusern und kleinen Gärten hinter Mauern. Ein Haus stach zwischen den anderen heraus. Wer immer dort lebte, machte sich die Mühe, regelmäßig die Fassade zu putzen, ja sogar die Dachschindeln. Über allem in der Stadt, auch hier im Kupferring, lag eine feine ockerfarbene Staubschicht. Nur auf diesem Haus nicht. Dem Gasthaus Zur Knospe. Dort, oder ganz in der Nähe, hatte der Tote seinen letzten Atemzug getan. Ein Ort, an dem zotige Lieder gesungen wurden, wie das vom Roten Haus. Danach musste ihn jemand von dort fortgeschafft haben. Wahrscheinlich nachts. Und das glückt nur, wenn man die Wachen in den Torhäusern besticht, dachte Gunter grimmig. Anders war nicht zu erklären, wie die Leiche in den Schlammring hinabgekommen war. Aber eins nach dem anderen. Gestorben war der Tote hier oben. Zunächst galt es, dieser Spur zu folgen.
»Rutger, Klas!« Die beiden Schildwachen blickten noch immer auf die Fressbuden in der Bresche. »Folgt mir und schlagt euch die Würste aus dem Kopf. Stattdessen wird es ein Bier und vielleicht sogar einen Braten geben.«
***
Es wurde früher Nachmittag, bis Woulf sich wieder halbwegs wie ein Mensch fühlte. Er trug seine zweite Kleidergarnitur, Erbstücke seines Vaters. Hose und Hemd waren etwas kurz geraten, aber heute bekäme ihn sowieso niemand mehr zu Gesicht. Er und die Knospe würden sich nämlich den vierten freien Tag in vierundzwanzig Jahren gönnen. Eine fröhliche Weise pfeifend, rubbelte er sich die Haare mit dem fleckigen Tuch trocken, das er sonst fürs Geschirr benutzte. Mit einem Mal kam ihm die Welt nicht mehr so trist und dunkel wie der Staubring vor. Er hatte sich in ein Abenteuer gewagt und war mit heiler Haut davongekommen. Zwar hatte an dessen Ende keine schöne Prinzessin oder ein Topf voller Gold auf ihn gewartet, aber dafür etwas Besseres: sein normales unaufgeregtes Leben. Die Ereignisse hatten ihm verdeutlicht, dass er mehr als das weder brauchte noch wollte.
Er hängte das Tuch über den Brunnenrand neben seinen gewaschenen Kleidern zum Trocknen auf. Nachdenklich betrachtete er seine grauen Finger. Vielleicht benötigt die Heilung des Aschlings einfach ein wenig Zeit, dachte er hoffnungsfroh. Der kleine Kerl war ihm eigentlich ganz vertrauenswürdig vorgekommen. Hatte ihm sogar angeboten, dass er bei Misserfolg wiederkommen könnte. Rami. Was für ein ulkiger Name.
Er ging zurück in die Küche und kniete sich vor den Vorhang, hinter dem er die graue Tür verbarg. »Du hilfst mir doch, nicht wahr? Auf dich kann ich mich immer verlassen«, gurrte er verliebt.
»Mit wem redet Ihr da?«, ertönte plötzlich eine sonore Bassstimme in seinem Rücken.
Woulf schoss so hektisch hoch, dass er mit dem Kopf am Herd anschlug. »Aua!« Panisch drehte er sich um und blickte in die streng zusammengekniffenen Augen eines groß gewachsenen Mannes. Zu früh gefreut! Ihm fiel auf, dass der Unbekannte einen braunen Umhang trug. Eine Schildwache aus dem Schlammring. Ein Wächter aus dem Staubring hätte einen aschgrauen Überwurf getragen und einer aus dem hiesigen Kupferring einen ockerfarbenen. Merkwürdig. Was will der denn hier? Nicht mein Ring, nicht mein Problem, war laut Volksmund das inoffizielle Motto der Schildwache, an das sie sich offiziell meistens hielt. Er ist also nicht wegen der Unheilung hier. Woulf beschloss, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen. »Was macht Ihr hier? Wir haben geschlossen.«
»Nun …« Der Fremde blickte sich in der Küche um. »Verratet Ihr mir doch erst einmal, warum Ihr mit einem Vorhang redet.«
Verdammt, entfuhr ihm im Geiste ein Fluch – in den letzten Tagen wurde das wahrlich zur Gewohnheit. Wenn er jetzt den Stoff zur Seite schiebt, sieht er die Tür. Eine neugierige Schildwache werde ich nicht so einfach los wie die drei Betrunkenen gestern. »Ich … ähm … na ja, ich …«, stammelte er.
»Es sind die Mauerwürmer, nicht wahr?«, raunte der Wächter im Verschwörerton.
»Hä?« Obwohl Woulf sich in diesem Moment nicht selbst sehen konnte, war er sich sicher, dass er wie ein Esel dreinschaute, den man am Schwanz zog.
»Ihr redet mit den Murus, den Würmern, die sich durch das Minengestein langsam nach oben durchfressen und Grubenstedt wie einen Käse durchlöchern. Die Geißel der Stadt. Irgendwann werden wegen dieser Schädlinge alle Ringe zusammenbrechen.«
Ist er geistig umnachtet? Woulf war es jedenfalls nicht. Er ließ sich auf das Spiel ein, das hoffentlich dazu beitrug, dass sein Geheimnis gewahrt blieb und er die Schildwache schnellstens wieder loswürde. »Ja, ich rede mit den … äh … Würmern«, flüsterte er dem Mann zu. »Bitte behaltet das für Euch. Ich fürchte sonst ihre Rache.«
Sein Gegenüber tippte sich wissend an die Nase. »Ich verrate es niemandem. Versprochen. Es gibt genug Ungläubige da draußen, das weiß ich nur zu gut.«
Puh, das war knapp. Welch ein Glück, dass dieser Kerl solch ein Wirrkopf ist. Woulf fiel ein Stein vom Herzen – und gleichzeitig im Gasthaus etwas Tönernes zu Boden.
»Was macht ihr?«, rief der Wächter über die Schulter in Richtung Gastraum.
»’tschuldigung, Hauptmann«, erklang eine erstaunlich hohe Männerstimme. »Rutger hat eine Schnapsflasche umgestoßen.«
Hauptmann?
»Alte Petze«, knurrte daraufhin eine weitere Stimme.
Wie viele Schildwachen sind in meinem Laden? Erneut kam Unsicherheit in Woulf auf. Wie ein Hund seinem Herrn folgte er dem Hauptmann der Schlammwache in den Gastraum. Die beiden anderen Wachen standen hinter dem Tresen. Davor lagen eine zerbrochene Steinkrugflasche – natürlich die mit dem alten Brand – sowie zwei kleine Holzbecher. Scharfer Alkoholgeruch erfüllte die Luft.
»Ihr habt also den Schnaps einer strengen Untersuchung unterzogen?«, stellte der Hauptmann fest. »Vermutlich habt ihr euch zu einer Verkostung regelrecht aufopfern müssen.«
Seine beiden Untergebenen blicken wenig schuldbewusst drein. Der Größere grinste sogar frech.
Mein bester Schnaps! Ausgerechnet. Woulf hoffte darauf, dass diese unbotmäßigen Kerle gleich gehörigen Ärger von ihrem Vorgesetzten bekommen würden – da sagte der etwas, das ihm Übelkeit bereitete.
»Unser Mordopfer mag betrunken gewesen sein, aber dennoch glaube ich nicht, dass dies der Weg ist, um mehr über ihn herauszufinden.«
Mord? Vor Woulf begann sich alles zu drehen. Taumelnd stützte er sich auf einem der Tische ab.
»Geht es Euch gut?«, fragte der Hauptmann.
Sein Lächeln verriet, dass hinter diesen Worten keine echte Sorge steckte. Und noch mehr … Der Kerl mochte aussehen wie ein ungewaschener Vagabund, aber dieses Lächeln … Darin lag eine Überheblichkeit, die jahrhundertealtem Adel entsprang, auch wenn dieser seltsame Hauptmann sich dessen vielleicht nicht bewusst war. Aber was wollte er hier? Was hatte die Knospe mit einem Mord zu tun? War der Kerl vielleicht nicht der Trottel, für den er sich ausgab? Eben hat er noch von irgendwelchen Mauerwürmern gefaselt und nun das. Ich muss äußerst vorsichtig sein.
»Ich hatte eine anstrengende Nacht …«, sagte Woulf ausweichend.
»Aha«, kommentierte der Hauptmann. »Was habt Ihr denn so Anstrengendes getrieben? In der Nacht?« Sein lauernder Blick schien bis in Woulfs Seele zu dringen.
»Ich hatte viel Abwasch«, murmelte er.
»Soso …« Der Hauptmann strich versonnen mit dem Zeigefinger über den polierten Tresen. »Habt Ihr den in der Nacht nicht geschafft?«
Woulf verstand nicht, was der Mann von ihm wollte. »Wie meinen?«
»Nun«, der Hauptmann schob unschuldig das kantige Kinn vor, »normalerweise rühmt sich die Knospe doch damit, dass sie täglich öffnet. Wie war noch der Wahlspruch?« Seine Finger trommelten auf dem Tresen herum. »Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: ›Egal zu welcher Jahreszeit, in der Knospe wirst du immer breit.‹«
»…bist du willkommen jederzeit«, verbesserte Woulf reflexartig. Vaters alten Werbespruch vom Türbalken zu entfernen, war eine seiner ersten Amtshandlungen nach dessen Tod gewesen.
Der Hauptmann schenkte ihm ein verständiges Kopfnicken. »Meinetwegen. Warum dann?«
»Warum was?« Der Mann hatte eine Art an sich, die Woulf völlig aus dem Konzept brachte. Er hatte ihn vorhin in der Küche komplett falsch eingeschätzt. Oder hatte der Kerl genau das beabsichtigt?
»Warum Ihr heute geschlossen habt, wenn all der viele Abwasch bereits erledigt ist?«
»Ähm …« Woulf war klar, dass er sich wie ein Klosterschüler anhörte, der beim Abschreiben erwischt worden war, aber er konnte nichts dagegen tun. »Ich wollte mich ausruhen.«
»Soso …«
Die beiden anderen Schlammwachen waren hinter dem Tresen hervorgekommen und flankierten jetzt ihren Hauptmann, als würden sie jeden Moment zu dritt auf Woulf losgehen.
»Ihr habt die Zeit wohl auch genutzt, um Euch einmal intensiv zu waschen, was?« Er zeigte auf Woulfs feuchte Haare.
»Ja … ja, genau so war es!«, sagte Woulf. »›Reinlichkeit ist eine Zier‹, hat mein Vater stets gesagt. Und bei Gastwirten ohnehin. ›Dreckige Finger bereiten dreckiges Essen‹, so heißt es in meinem Metier.«
Der Hauptmann lächelte ihn an. »Ihr achtet also sehr auf Eure Sauberkeit und die Eurer Knospe ?«
Aus dem Mund dieses schrecklichen Manns hörten sich alle unschuldigen Worte irgendwie vulgär an. Dennoch nickte Woulf. »Jawohl. Seht Euch nur um. Weder hier noch in der Küche werdet Ihr Staub, Unrat oder dreckige Ecken finden. Das bin ich meinen Gästen schuldig.« Woulf spürte, wie er seine Souveränität zurückerlangte. Sie befanden sich in seinem Gasthaus. Noch nie hatte sich jemand über mangelnde Reinlichkeit in der Knospe beschwert.
»Das ist gut. So soll es sein«, lobte der Hauptmann. »Eine Frage beschäftigt mich dennoch.«
Will er jetzt etwa wissen, wie man Töpfe und Tiegel besonders gut reinigt? , schoss es Woulf durch den Kopf. »Gern, wie kann ich Euch weiterhelfen?«
»Das ist ausgesprochen freundlich von Euch, Wirt.« Wieder trommelten die Finger des Hauptmanns auf dem Tresen. Woulf kam nicht umhin zu bemerken, dass sie unschöne Abdrücke auf dem polierten Holz hinterließen. »Würdet Ihr mir erklären, warum sich dann eine Schlammspur durch Euer komplettes Gasthaus zieht?«
Woulf rutschte das Herz in die Hose. Da hatte der Kerl ihn schon wieder erwischt. Der Drang, zur grauen Tür zu laufen und sie aufzureißen, überkam ihn. Das dahinter Verborgene könnte ihn gewiss aus dieser verfahrenen Situation retten. Er schaffte es nur mühsam, sich zu beherrschen. »Nun ich … ähm … Nun …«
»Rede schon, Bursche!«, sagte der größere der beiden Schläger aus der Wache. »Sonst prügle ich die Antworten aus dir heraus.« Beeindruckend laut ließ er seine Fäuste knacken, und Woulf hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass bei ihm Prügel der bevorzugte Weg einer Befragung war.
»Ganz ruhig, Rutger. Wir wollen unseren Gastgeber doch nicht verschrecken. Er wird uns sicher alles erzählen, was er weiß«, erwiderte der Hauptmann. »Nicht wahr?«
Nach einem Schlucken, das so schwer war, dass es kaum Woulfs Kehle passieren wollte, hauchte er: »Natürlich.«
»Wusste ich es doch.« Vergnügt klatschte der Befehlshaber der Schlammwache in die Hände. »Am besten gebt Ihr uns ein Bierchen aus, und wir lauschen dabei Euren Erklärungen. Was haltet Ihr davon?«
Am liebsten hätte Woulf Gar nichts! geschrien, da das aber nicht helfen würde, trottete er hinter seinen Tresen und füllte vier Holzkrüge. Seinen eigenen allerdings kaum bis zur Hälfte. Heute würde er sicher wieder keine Zeche bekommen. Daher gab es keinen Grund, verschwenderisch zu sein. Schwungvoll knallte er die Biere auf den Tresen. Willfährig wie stets stieg der Schaum nach oben.
»Auf Euch, Woulf, Sohn des Beroulf.«
Natürlich kannte der Hauptmann seinen Namen. Woulf ergab sich in sein Schicksal. »Was genau wollt Ihr von mir wissen?«
Sein Gegenüber leckte sich genüsslich den Schaum von der Oberlippe, bevor er seine Frage stellte. »Eigentlich nicht viel. Nur eine Sache: Welche Gäste haben vorgestern Euer Gasthaus besucht?«
»Daran kann ich mich nicht –«
»Na, na, na, wir hatten doch eine Abmachung.« Schulmeisterlich wedelte der Wachmann mit dem Zeigefinger. »Oder soll ich Rutger die Fortführung unserer Unterhaltung überlassen?«
Der muskulöse Krieger setzte in aller Ruhe den Bierkrug auf dem Tresen ab und schlug sich anschließend mit der Faust in die flache Hand.
Woulf wischte sich nervös Schweiß von der Stirn. Wo war er hier nur hineingeraten? »Lasst mich kurz überlegen.«
»Überlegt nur nicht zu lang, Wirt Woulf.« Der Hauptmann prostete ihm zwinkernd zu.
»Also, Pitter, mein Nachbar, war da. Er ist ein Stammgast und daher immer hier. Selbst heute Morgen wollte er bereits einkehren. Das muss man sich mal vorstellen, da schließe ich ein viertes Mal in –«
»Die anderen Gäste«, forderte der Hauptmann. Da war eine Unnachgiebigkeit in seinem Blick, die Woulf ängstigte.
»Da gab es nur noch zwei weitere. Einen Händler namens Brenner aus dem Bronzering, der manchmal vorbeikommt, wenn er im Kupferring Geschäfte macht. Er isst den Bierbraten so gern. Das Rezept ist von meinem Vater und –«
»Der letzte Gast«, unterbrach ihn der Wachmann.
Der lässt sich aber auch durch gar nichts ablenken, dachte Woulf verärgert. »Irgendein fremder Schlammkriecher. Hatte nicht mal Schuhe an. Ich kenne seinen Namen nicht. War unheimlich aufgekratzt und hat die ganze Zeit etwas davon gefaselt, dass er ein neues Leben geschenkt bekommen hätte. Bestimmt fünf Bier hat der getrunken und beinahe doppelt so viele Schalen mit Getreidekörnern gegessen. Ich weiß genau, dass er sich nichts Richtiges zu essen leisten konnte, und deswegen –«
»Es gibt bei Euch Körner?« Kurioserweise schien den Hauptmann diese Information am meisten zu interessieren.
Obwohl Woulf den Hintergrund der Frage nicht verstand, holte er aus dem Regal ein bereits vorbereitetes Schälchen. Nun ja, es war genau jenes, das er dem Händler aus dem Bronzering vor zwei Tagen auf den Tisch gestellt hatte. Der Mann hatte kaum hineingegriffen. Es wäre Verschwendung gewesen, den Rest wegzuschmeißen. »Hier! Bedient Euch. Weizen, leicht geröstet mit einem Hauch Honig und Geheimgewürzen, die noch mein Vater –«
Der Hauptmann lehnte mit einer unwirschen Geste ab, aber seine Untergebenen wollten zugreifen. »Lasst das!«, ging er dazwischen. »Wann hat der Mann das Gasthaus verlassen?«
»Später Nachmittag, früher Abend, würde ich sagen.«
»Ist Euch bei seinem Aufbruch irgendetwas an ihm aufgefallen?«
»Nun ja …«, druckste Woulf herum.
»Kommt schon!«, drängte der Hauptmann. »Ich dachte, wir hätten uns verstanden.«
»Er sagte, ihm sei übel. Hat sich an den Bauch gefasst und ständig aufgestoßen. Ich war ganz froh, als er gezahlt hatte und verschwunden ist. Dass mir so einer den Gastraum vollkotzt, darauf kann ich verzichten.«
»Aha …«
»Von meinem Braten hatte er diese Probleme definitiv nicht. Er hat ja nur getrunken«, schob Woulf hektisch nach.
»Und von Euren gebrannten Getreidekörnern gegessen. Richtig?«
Was hat der nur mit den gerösteten Körnern? »Genau.«
»Hm, hm …« Der Hauptmann strich sich nachdenklich übers Kinn. »Ihr wisst nicht zufällig, wo der Mann nach dem Besuch bei Euch hin ist?«
Woulf zuckte mit den Schultern. »Wo soll einer wie der wohl hin sein? Die Sonne war fast untergegangen. Er wird wohl zurück in den Schlammring gestiegen sein. Ohnehin eine Schweinerei, dass Eure Herren Kollegen den einfach in den Kupferring reingelassen haben. Ich bin mir sicher, dass der keinen Breschentaler in Kupfer besitzt.«
»Interessant, interessant.« Der Hauptmann leerte den Krug und stellte ihn auf den Tresen. »Also genau dorthin, wo Ihr offensichtlich erst vor kurzem gewesen seid.« Er wies auf die unübersehbare Spur aus ockergelbem Dreck, wie es ihn zuhauf im Schlammring und der Grube gab.
Woulf wand sich. »Ich –«
»Bestreitet es nicht!« Die Stimme des Hauptmanns wurde eisig. »Was habt Ihr dort getrieben? Ein weiteres Opfer im Schlamm verschwinden lassen, in dessen Körper Eure bösartige Saat aufgegangen ist?«
»Was redet Ihr da?« Woulf war vollkommen überrumpelt von dieser merkwürdigen Anschuldigung.
Der Hauptmann packte ihn unsanft am Kragen. »Wieso geht ein ängstlicher kleiner Wirt wie Ihr in den Schlammring? Etwa um einen vergifteten Gast aus dem Weg zu räumen? Bestraft Ihr so Eure Zechpreller?«
Woulf keuchte. »Ich weiß nicht, wovon Ihr da redet!«
Ein Windstoß fuhr durch die Knospe. Jemand musste die Tür geöffnet haben. Warum habe ich hinter Pitter nur nicht abgesperrt? Ein vorgelegter Riegel hätte diesen Tag gänzlich anders gestaltet.
»Es ist geschlossen!«, rief der Hauptmann, ohne sich nach den neuen Gästen umzusehen.
»Das ist mir egal. Ich brauche nicht lange. Ich bin nur hier, um etwas abzuholen, das ich vergessen habe.«
Die Stimme kam Woulf vage bekannt vor. Vorsichtig lugte er am Hauptmann vorbei. Was er sah, ließ ihn endgültig jede Hoffnung auf einen guten Tag begraben. Heute hatten sich der Spender und die graue Tür gleichermaßen gegen ihn verschworen. Der unbotmäßige Nutzer seines Aborts war zurückgekehrt. Der Mann, dem er einen scheußlich besudelten Abtritt sowie eine pralle Geldbörse zu verdanken hatte. Jetzt schoben sich auch dessen Kumpane, Glatzkopf und Bartgesicht, in die Knospe.
»He, habt ihr den Hauptmann nicht gehört?«, grollte Rutger und ließ wieder seine Fäuste knacken.
Elender Schläger, dachte Woulf. Eigentlich hasste er körperliche Gewalt, aber in diesem Fall konnte sie ihm vielleicht nützlich sein.
»Es kann doch gar nicht geschlossen sein. Ihr habt doch auch was zu saufen bekommen«, beschwerte sich Glatzkopf und machte das Fäuste-knacken-Spiel mit.
Der Hauptmann ließ von Woulf ab und drehte sich zu den Neuankömmlingen um. »Das hier ist eine hochnotpeinliche Befragung durch die Schildwache, bei der Ihr nichts verloren habt.« Er vollführte mit der Hand eine scheuchende Geste in Richtung der drei Männer.
Deren schwarzhaarigen Anführer schien das nicht zu beeindrucken. »Schon klar, schon klar«, zischelte er und saugte lautstark an seinen Zähnen. »Wir wollen auch gar nicht lange stören, sondern von unserem lieben Wirtlein nur etwas abholen, das wir vergessen haben. Geht ganz schnell, Dreckwächter. «
Man musste kein Freund des Theaters wie Woulf sein, um am Gesichtsausdruck des Hauptmanns und seiner Leute zu erkennen, dass sie dieses Wort nicht besonders gern hörten.
Dennoch machte der Truppenführer seinen Untergebenen mit einer knappen Handbewegung klar, dass sie Ruhe zu bewahren hatten. »Noch mal: Hier geht es um eine ernsthafte Befragung zu einem Mord. Dass Ihr im Suff Eure Gugel liegen gelassen habt, kann sicher bis morgen warten«, sagte er bestimmt und drehte sich demonstrativ wieder zu Woulf um.
»Ich habe hier etwas Wichtigeres als meine Kopfbedeckung verloren«, entgegnete der Schwarzhaarige.
Ohne sich erneut umzudrehen, fragte der Hauptmann mit vor Verständigkeit triefender Stimme: »So? Und was war das?«
»Er hat beim Scheißen seine …«, begann Glatzkopf, doch er wurde rüde von Fetthaar unterbrochen.
»Hältst du wohl dein Maul! Das geht die Dreckwache nichts an!«
Zweimal dieses Wort. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war .
Woulf behielt mit seiner Einschätzung recht. Die stoische Maske der Gelassenheit, die der Hauptmann bisher aufgesetzt hatte, bekam hässliche Risse. Allerdings konnte nur Woulf diese sehen. »Nun gut«, brummte er. »Dann will ich hoffen, dass es kein Geldbeutel war. Wir Schlammwachen sind nämlich schon eine ganze Weile auf der Suche nach einer Diebesbande, die heimlich auf die höheren Ringe steigt und dort Händler und Bewohner ausnimmt.«
Die Eingangstür fiel krachend zu. Rutger baute sich mit verschränkten Armen davor auf.
»Eine dreiköpfige Bande unverschämter Nichtsnutze, die vor nichts zurückschrecken«, präzisierte der Hauptmann und wandte sich dem Fetthaarträger zu. »Einer soll schwarzhaarig sein, der zweite glatzköpfig und der dritte einen Vollbart tragen.«
»Ähm …«, entfuhr es allen drei Männern gleichzeitig.
Erwischt, freute sich Woulf.
Urplötzlich wurden Waffen gezogen.
Von allen Beteiligten.
Außer von Woulf.
Unter anderen Umständen hätte der Gastwirt die Entwicklung dieser Posse sehr genossen. Leider war er ein Teil davon. Es wurde an der Zeit, diese Tatsache zu beenden. Vorsichtig schlich er hinter seinem Tresen hervor.
Niemand beachtete ihn.
»Im Namen der Schildwache, Ihr seid verhaftet«, hörte er den Hauptmann bedrohlich ruhig sagen, als er bereits durch die Küchentür schlüpfte. Woulf tätschelte im Vorbeilaufen hastig und voller Dankbarkeit die graue Tür. Eine Welle von klirrendem Metall, unsäglichen Flüchen und zerberstendem Holz schob ihn zur Hintertür hinaus. Zwar machte er sich Sorgen um seine geliebte Knospe, aber in ihm überwog die Dankbarkeit, dieser Zwickmühle fürs Erste entkommen zu sein. Wären die drei Kerle nicht aufgetaucht, hätte der tiefstapelnde Hauptmann ihn vielleicht zur Gelben Burg geschleppt und in eine Zelle gesteckt. Unter der Folter gestand dort jeder alles. Auch einen Mord, den er nicht begangen hatte. Wenn Woulf jetzt untertauchte, würde sich dieser beflissene Hauptmann hoffentlich einen anderen Sündenbock suchen, der für den Mord den Kopf hinhalten musste. Und dann könnte er in nicht allzu langer Zeit in seine Kneipe zurückkehren und so tun, als sei nie etwas gewesen.
Behände überwand er die rückseitige Mauer des Innenhofs und fand sich im Garten des Nachbarn wieder. Glücklicherweise war dieser nicht daheim, so dass Woulf sich durch das unverschlossene Haus nach vorn auf die Straße schleichen konnte. Er warf einen zaghaften Blick zurück zur Knospe. Vor dem Gebäude hatte sich inzwischen eine kleine Traube Menschen versammelt, die fasziniert den Tumult im Innern des Gasthauses durch ein bereits zerbrochenes Vorderfenster beobachtete. Aasgeier, die sich am Leid anderer vergnügen, dachte Woulf abfällig. Als ein Stuhl klirrend durchs zweite Fenster flog, machte er sich davon. Es tat ihm weh, sein geliebtes Gasthaus so schutzlos zurückzulassen. Wer weiß, ob es noch steht, wenn ich zurückkehre.
Eine Weile irrte er ziellos in den engen Gassen des kupfernen Breschenviertels umher, bevor er einen Entschluss fasste: Er musste die Spuren seines Aufenthalts im Schlammring aus der Welt schaffen. Der erste Schritt dazu bestand darin, dass er den Aschling bat, seinen Namen und Besuch zu vergessen. Vermutlich will er dafür noch mehr Geld. Woulf seufzte und machte sich auf den Weg zur Bresche. Heute konnte er wenigstens den Schuhstieg nehmen. Seine Verfolger hatten sicher noch eine Weile damit zu tun, sein Gasthaus zu Klump zu hauen.
Problemlos passierte er die gelangweilten Schildwachen mit ihren roten Umhängen und ging die Stufen zum Schuhstieg hinauf. Mit Schaudern betrachtete er den ein wenig tiefer gelegenen Himmelsweg, jene breite Treppe des Elends, die zwischen den beiden Schuhstiegen verlief. Mit Lehm bedeckte Männer und Frauen in Lumpen schleppten Körbe voller Dreck und Unrat nach oben, der durch den letzten Regenguss in die Talsohle der Stadt gespült worden war. Dort wurde der Abraum in den umliegenden Marschlanden entsorgt. Manche von ihnen sahen aus, als seien sie ganz und gar aus Lehm erschaffen. Ihr Haar klebte in schmierigen Strähnen an den Häuptern, ihre Leiber waren wie mit Lehm eingeölt, die Farben ihrer Lumpen im Ocker ertrunken. Sie sahen aus, als habe der Schlamm in den tiefsten Tiefen Grubenstedts sie geboren. Sie verrichteten die schwerste und zugleich meistgeächtete Arbeit in der Minenstadt. Gestern noch war Woulf in die Anonymität dieser besudelten Leiber geflüchtet. Nie wieder, schwor er sich.
Im Staubring angekommen, verließ er den Schuhstieg und versuchte, sich im Aschlingsviertel mit seinen verwirrend ähnlich aussehenden Gassen zu orientieren. Der Tempel ihres blasphemischen Kultes überragte die windschiefen Fachwerkhäuschen der fremdartigen Bewohner. Im Vergleich zu den Kirchen und Kathedralen der höher gelegenen Ringe wirkte das Gebäude geradezu primitiv. Nur der Rostende Tempel im Schlammring sah schäbiger aus, aber das lag daran, dass die Anhänger des Alten Mannes mit der blutigen Axt wenig auf Äußerlichkeiten gaben und der eisenverzierte Bau durch den vielen Rost bei Regen aussah, als würde er weinen. Im Bronzering gab es eine Kapelle für den Spender, die fast dreimal so hoch war wie ihr bescheidenes Spiegelbild hier im Kehrichtviertel. Trotz dieser ihm bekannten Wegmarkung fühlte Woulf sich plötzlich unsicher. Was sollte er tun, wenn der Aschling nicht zu Hause war? Oder schlimmer: bereits verhaftet? Er straffte sich und machte sich auf den Weg ins Kehrichtviertel.
Die Aschlinge, die das heruntergekommene Stadtquartier bevölkerten, gingen ihm scheinbar respektvoll aus dem Weg. Immerhin überragte er sie fast um die Hälfte. Dennoch war ihm dieses devote Verhalten der Spitzohren irgendwie zuwider. Es fühlte sich an, als würden sie beständig etwas verbergen.
Schließlich hatte er das schmutzige Haus erreicht, in dem Rami lebte. Mit wild pochendem Herzen stapfte er erneut die ausgetretenen Treppenstufen zu dessen kümmerlicher Kellerwohnung hinunter. Er war aufgeregter als bei seinem ersten Besuch. Der Gedanke, dass er seine Finger oder die Hand verlieren konnte, hatte angesichts seiner aktuellen Schwierigkeiten – in denen es um seinen Kopf ging – gewaltig an Bedrohlichkeit verloren. Zögerlich klopfte er an die Wohnungstür. Der Geruch nach Schwefel, faulen Eiern und kalter Asche drang darunter hervor. Woulf wollte gar nicht wissen, welche frevelhaften Experimente dieser Rami dahinter veranstaltete. Er lauschte auf Schritte, doch in der Wohnung blieb es still. Das darf nicht wahr sein. Er klopfte ein weiteres Mal. Diesmal fester und energischer. »Rami, mach auf. Ich bin es, Woulf. Wir müssen etwas besprechen!«
»Geht weg!«, kam es dumpf durch die Tür. »Habt Ihr nicht verstanden, was ich mit ›Ihr rennt nach links und ich nach rechts. Wagt nicht, mir zu folgen‹ gemeint habe?«
Unwillkürlich rollte Woulf mit den Augen. »Natürlich, aber es ist etwas passiert. Ich muss mit dir reden.«
»Ihr kriegt auf gar keinen Fall Euer Geld zurück.«
»Darum geht es nicht.«
»Dem Zünder zum Gruße«, erklang plötzlich eine hohe Stimme in seinem Rücken.
Woulf erschrak, drehte sich um und sah in das verschrumpelte Gesicht einer Aschlingsfrau, die eine riesige Tasche über der Schulter und eine enorme Menge Asche auf ihrem Haupt trug. Sie deutete eine leichte Verbeugung an. Er wusste nicht genau, wie er ihren freundlichen Gruß möglichst unauffällig erwidern sollte. Daher beschloss er zu improvisieren. Wie im Theater.
»Habt meinen Dank«, rief er. »Euch stets trockenes Feuerholz auf all Euren Wegen.«
Die Frau nickte mit versteinertem Gesicht und zog von dannen.
Das hat doch ganz gut geklappt, dachte Woulf erfreut.
»Wieso beleidigt Ihr meine Nachbarin?«, keifte Rami, der nun in der offenen Tür stand. »Soll das ganze Viertel wissen, dass Ihr hier seid?«
»Beleidigt …?«, setzte Woulf an, besann sich dann aber eines Besseren. Es gab Wichtigeres als Aschlingsbefindlichkeiten. Er schob Rami zur Seite und trat uneingeladen in dessen Wohnung. Sie sah genauso chaotisch aus wie bei seinem letzten Besuch.
»Was fällt Euch ein?«
»Jaja«, sagte Woulf. »Hör zu. Die Schildwache ist uns auf die Spur gekommen und –«
»Was heißt hier ›uns‹?«, knurrte Rami. »Euch! Mich hat niemand entdeckt.«
»Egal. Du darfst ihnen nicht erzählen, dass ich bei dir war, sonst –«
»Sonst was?«, erklang eine tiefe Stimme, die Woulf Gänsehaut bereitete.
Ungläubig drehte er sich um und erstarrte unter dem überlegenen Lächeln des Schlammwachenhauptmanns.