1. Tag mit neuen Schuhen, 17. Jahr der Kuppel
Lautstarkes Gezanke riss Kröte aus dem Schlaf. Irgendwo in der Nähe brüllten sich ein Mann und eine Frau an. Heftige, deftige Flüche zerfetzten die Nachtruhe. Hier unten im Trichter tanzte jedes Geräusch erst einige Male im Kreis, bevor es merkte, dass es nur himmelwärts entfleuchen konnte. »Besondere Akustik« nannten es die da oben – »beschissener Lärm« die hier unten.
Der eskalierende Streit gipfelte in einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem schrillen Schrei. Gefolgt von Stille. Das unheilvolle Schweigen zerrte mehr an den Nerven als das vorherige Gezeter. Für ganze drei Herzschläge hielt der Schlammring den Atem an, bevor er wieder im üblichen Reigen aus Schmerz, Lust und Flüchen versank.
Kröte schüttelte die Bilder dessen, was geschehen sein mochte, aus dem Kopf; sie musste sich ums eigene Überleben kümmern. Und um das, was darüber hinausging. Worauf hatte sie sich gestern Abend nur eingelassen? Die Kurzfassung lautete wie folgt: Sie würde durch ein Fenster in einen Turm klettern und der Diebesgilde die Tür von innen öffnen. So weit, so gut, jedes Spatzenhirn begriff diesen Plan. Nur dass es sich dabei nicht um irgendeinen Turm handelte, sondern um die legendäre Nadel – ein extrem gut bewachtes, von Magiern errichtetes Bauwerk im Facettring, der zweithöchsten Ebene der Stadt. Die Grubler sahen darin ein Zeugnis mentaler Macht – einen bleichen erhobenen Zeigefinger, der jedem Opponenten drohte, nur ja nicht gegen die Erbauer aufzubegehren. Tatsächlich galt es als äußerst unklug, sich mit den Zauberspuckern anzulegen. Mit diesem Gedanken schlich sich ein Hauch von Zweifel in ihr Gemüt, ob sie die Sache noch im Griff hatte oder ob sie begann, ihr über den Kopf zu wachsen.
Nein, ich bin zwar klein, doch ich habe lange Zehenspitzen.
Sie trat vor ihren Bretterverschlag und wandte sich gen Norden, wo sogar von hier die Spitze des Zielobjekts zu sehen war. Trotzig streckte sie der Nadel die Zunge entgegen. »Warte nur, bis es dunkel wird. Dann wird mich nichts mehr davon abhalten, dein Innerstes zu entweihen.«
Kröte nahm einen Schluck aus der Tonschale neben dem Eingang, in der sie das Regenwasser auffing. Zum Waschen war es zu wertvoll und ohnehin viel zu wenig, um die Lehmschicht von ihrer Haut zu spülen. Hierfür bräuchte sie drei bis vier Kübel und einen Spachtel anstelle von Seife. Bevor Kröte ihre Kordel um die Taille schnürte, warf sie einen Blick in die Gürteltasche: Blumenharz für drei oder vier Kügelchen. Wie gebannt starrte sie auf die farblose, klebrige Substanz, ein Sog schien sie zu erfassen. Sollte sie dem Verlangen nachgeben und zugreifen? Gänsehaut überzog ihre Arme, die Finger zitterten. Als hätte sie sich über einer Kerzenflamme verbrannt, zuckte ihre Hand zurück. Nein, jetzt nicht. Besser, sie trieb gegen den größten Hunger irgendwo ein Stück altes Brot auf. Für einen Botendienst oder was auch immer. Froh darüber, der Verlockung widerstanden zu haben, verschloss sie die Gürteltasche. Gleichwohl beunruhigte es sie, welch enorme Willenskraft sie dafür hatte aufbringen müssen.
Stolz betrachtete sie ihre neuen Schuhe, die sie über Nacht gar nicht erst ausgezogen hatte. Wenn man ihr etwas stehlen wollte, musste man es ihr abschneiden. Ungewohnt lebensfreudig schlenderte sie die Bresche hinauf. Gute Laune passte in den Schlammring wie Samt und Seide in den Bruch. Um diese Tageszeit priesen bereits etliche Händler lautstark ihre Ware an: am schönsten, am saftigsten, am schärfsten – natürlich alles zu Spottpreisen, und zwar nur heute. Obwohl sie morgen denselben Kram mit den gleichen Worten feilbieten würden. Dazu beschissen die meisten Kaufleute beim Zählen, Wiegen oder Geldwechseln. Manche bei allem. Nicht zu vergessen: die minderwertige Ware. Wer beim Klingen-Hein ein Messer aus »edlem Stahl« kaufte, konnte diesem beim Rosten zusehen. Und die »enorm stabilen Seile« von der Krimskrams-Karla ließen sich mit bloßen Händen und einem Ruck zerreißen.
All das störte Kröte nicht die Bohne, sie wollte nichts vom Klingen-Hein und auch nichts von Karla. Erhobenen Hauptes stolzierte sie den Schuhstieg hinauf, jenen Weg, der den Schlammkriechern verwehrt war, die sich auf der tiefer gelegenen Treppe die Bresche hinaufmühten. Ausgerechnet Himmelsweg wurde dieser Pfad der Schinderei genannt. Welch ein Hohn. Sogleich verlor sie ihren Hochmut, als sie die armen Schweine betrachtete, die für einen Kupferling den Abraum aus der Stadt schleppten.
Schon von weitem entdeckte sie ihn kurz hinter dem Staubtor an der Breschenmauer.
Was macht denn Wacker hier unten, so weit entfernt von seinem angestammten Platz?
Neben einem der Schlammbecken saß ihr Freund auf einer fusseligen Decke, mit dem Rücken an die Breschenmauer gelehnt.
»Donnerwetter, beinahe hätte ich dich nicht erkannt, Kröte«, begrüßte er sie.
»Warum das?«
»Du gehst auf einmal wie ein Storch.«
»Dabei mag ich keine Störche – die fressen Kröten. Woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Dein unverwechselbarer Geruch. Du kommst mit dem Wind im Rücken zu mir.«
»Hm, ich hoffe, ich stinke nicht allzu sehr. Badewasser, Seife und Parfüm sind mir ausgegangen.«
Der blinde Söldner lächelte. »Macht nix. Die mit allen Wassern Gewaschenen sind meistens nicht ganz sauber. Leiste mir Gesellschaft.«
»Aber nur kurz.« Sie ließ sich im Schneidersitz neben ihm nieder. »Hast du eine Idee, wie ich mir ein Stück Brot, eine Karotte oder eine Schale Brei verdienen kann?«
»Nimm, was du brauchst, und kauf dir was!« Er zeigte auf die hölzerne Almosenschale zu seinen Füßen.
Auch wenn er es nicht sehen konnte, verschränkte sie demonstrativ die Arme vor der Brust. »Kommt nicht in Frage, eher hungere ich.«
»Das glaube ich dir blind.«
Sie gluckste. »Du bist ein Spinner, Wacker. Lass dir das gesagt sein.«
»Jetzt vergiss mal deinen ehrenrührigen Stolz und erinnere dich daran, wie wir gestern gemeinsam einen ganzen Silberling verdient haben. Die Hälfte davon gehört sowieso dir, also ziere dich nicht, sondern besorge dir was Anständiges zu essen. Schließlich brauchst du heute Nacht all deine Kräfte.«
Sie hob den Kopf. »Was soll das denn heißen?«
»Ich habe so etwas läuten hören.«
Es gab selten Momente, in denen Wacker ihr unheimlich wurde. Dieser gehörte dazu. Die Verbindungen, die dieser Mann in Grubenstedt pflegte, waren noch weitreichender und verworrener als die Tunnel, Gänge und Stollen in den Tiefen der Stadt. Wohlweislich verzichtete sie auf eine weitere Erörterung des Themas. Sie glaubte nicht, dass Wacker allzu begeistert von ihrem Plan war, ausgerechnet in die Nadel einzusteigen, und Vorhaltungen konnte sie gerade gar nicht gebrauchen.
Sie hätte wissen müssen, dass der ehemalige Söldner nicht lockerließ. »Falls du es noch nicht weißt: Diese speziellen Mauern sind glatt wie Eis und gelten als nicht bezwingbar.«
»Ich will sie nicht bezwingen, nur erklimmen«, murmelte sie.
»Und sowohl die Fassade als auch die Eingangspforte ist durch Runenmagie gegen unerwünschte Besucher geschützt. Die Nadel ist uneinnehmbar.«
»Einnehmen will ich den Turm auch nicht. Ich geh nur rein und wieder raus.«
Wacker stöhnte.
Ärger machte sich in ihr breit. Hatte ihr Freund es darauf angelegt, ihr einen Vortrag zu halten, und daher seinen Arbeitsplatz in den Schlammring verlegt? »Wacker, du bist nicht mein Vater«, sagte sie heftiger als beabsichtigt.
»Das stimmt wohl. Und auch nicht deine Mutter, obwohl ich mir vergleichbare Sorgen mache. Sieh es mir nach.« Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle. »Nimm dir endlich deinen Anteil und kauf dir etwas zu essen. Mit leerem Magen kann man schlecht nachdenken.«
Ein Moment Stille, nur das Gluckern des Schlammwassers im vorbeilaufenden Rohr war zu hören. Oder kam es aus ihrem Bauch? Kröte ließ Wackers Argument bezüglich des Silberlings gelten. Zähneknirschend entnahm sie der Holzschale ein paar Kupferpfennige. »Soll ich dir etwas mitbringen?«
Er schüttelte den Kopf.
Kröte sprang auf und wäre um ein Haar mit einem Mann zusammengestoßen, der den Schuhstieg hinunterhastete und dabei mit beiden Händen seinen kostbar aussehenden grünen Hut mit einer Fasanenfeder festhielt.
»Hast du auch keine Augen im Kopf?«, fuhr er sie mit einem Blick auf Wacker an.
»Nichts passiert, hab dich nicht so«, entgegnete sie.
Mit abschätzigem Blick taxierte sie der Kerl. »Du weißt wohl nicht, wer ich bin?«
Ein aufgeblasenes Arschloch, wollte Kröte vorschlagen, doch dann beherrschte sie sich und erwiderte: »Wen kümmert es? Aber lege einen Silberling in die Schale, dann verspreche ich dir, dass ich alles daransetzen werde, es in Erfahrung zu bringen.«
Die Wangen des Adeligen liefen scharlachrot an, was farb lich nicht zum Hut passen wollte. »Ich werde mich beim Obristen über diesen schlammigen Abschaum auf dem Schuhstieg beschweren.« Wutschnaubend eilte der Mann weiter.
Wie eine zornige Schlange zischte Kröte ihm hinterher. »Ja, schick ihn zu mir!«
»Alles an dir ist klein … bis auf deine Klappe und deinen Mut.« Wacker grinste. »Aber dieser aufgeblasene Mistkerl hat es verdient.«
»Er hält sich für besser, schlauer, wichtiger. Und warum?«
»Weil er hochwohlgeboren und reich ist. So funktioniert das Spiel nun mal seit unendlichen Zeiten.«
»Genau aus dem Grund muss ich Geld verdienen. Auf meine Weise, indem ich die reichen Magier beklaue.«
»Es gibt andere Möglichkeiten. Zudem löst Geld nicht alle Probleme.«
»Fängst du schon wieder mit deinen Vorträgen an?«
Diesmal schwieg Wacker, seine fehlenden Augen wirkten traurig.
Alles war gesagt, im Moment konnte sie ihm nicht den Gefallen tun nachzugeben. Kröte zog los, um beim Bäcker Brot von gestern zu kaufen, zum halben Preis, solange er noch welches hatte.
Mitternacht. Entschlossen bereitete Kröte sich vor, indem sie die Kordel noch enger um die Taille knotete. Dieses Mal griff sie in die Gürteltasche nach einem Stück Blumenharz, rollte es zwischen den Fingern und platzierte das Kügelchen unter ihrer Zunge. Obgleich sie nicht daran lutschte, krabbelte ihr der süßliche Geschmack umgehend in die Nase; dort machte er nicht halt, sondern stieg noch höher. Für einen Moment verspürte sie ein Pochen in den Schläfen. Nicht zum ersten Mal grübelte sie darüber nach, was sie sich da eigentlich in den Mund stopfte. Egal, Bedenken forderten immer einen Preis, und den konnte sie jetzt nicht zahlen. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.
Kröte reckte und streckte sich, um alle Muskeln und Sehnen ihres Körpers in Bereitschaft zu versetzen.
Auf ihren neuen leisen Sohlen machte sie sich auf zur Nadel, im Nordosten des Facettrings. Kröte verabscheute diesen Stadtteil – nicht umsonst hieß es bei den Schlammringlern: »Was ist noch schlimmer als ein Adeliger? Ein magischer Adeliger.« Dort wimmelte es nur so von diesen hochnäsigen Zauberspuckern mit ihren Facettklumpen. Der Weg hinauf in den Grubenstedter Norden stellte bereits eine Herausforderung dar. Das erste Stück des Weges bis zum Kupferring dürfte unproblematisch verlaufen. Doch spätestens ab der dritten Ebene, dem Bronzering, würde es brenzlig werden. Und um diese Nachtzeit noch brenzliger. Es galt die Faustregel: Je höher der Ring, desto mehr Krieger der Schildwache standen auf Torhäusern, Türmen und Mauern, um die Zugänge zu kontrollieren. Unter keinen Umständen durfte sie sich erwischen lassen. Kröte warf einen kritischen Blick in den Nachthimmel. Dichte Wolken verdeckten den Mond, wodurch sich eine gleichmäßige Dunkelheit über Grubenstedt legte.
Das passt ja gut, kein lästiger Verräter an meiner Seite.
Für jemanden, der unsichtbar bleiben wollte, stellte der eigene Schatten ein unliebsames Risiko dar – in dieser dunklen Nacht warf sie keinen.
Kröte reckte die Nase in die Luft und schnupperte. Beruhi gend, es roch nicht nach Regen. Für den geplanten Einsatz war Trockenheit noch wichtiger als Finsternis. Feuchtigkeit würde ihr Vorhaben undurchführbar machen, denn nicht einmal sie konnte eine nasse Turmfassade hinaufklettern. Heute Nacht schlug sich das Wetter auf ihre Seite – gut so, sie konnte jeden Verbündeten gebrauchen. Mit grimmiger Entschlossenheit machte sie sich auf den Weg ein Stück die Bresche entlang. Die Lichtpunkte der Lampen und Kohlepfannen bildeten ein obskures Spalier hinauf in den Nachthimmel. Die Wachen auf den Türmen des Staubrings beachteten sie nicht. Verdreckt, klein von Gestalt, in abgerissener Kleidung und ohne jede Waffe an den Hüften erregte sie keine Aufmerksamkeit.
Auf Höhe des Kupferrings erklomm sie die Breschenmauer von einer Abortnische aus. Von dort kannte sie einen Weg, um auf die nächsthöheren Ringe zu gelangen. Kröte hasste körperliche Nähe, doch von der Finsternis ließ sie sich gern umarmen, um mit ihr über die Dächer der Stadt zu tanzen.
Die Nadel als Turm zu bezeichnen, kam einer Beleidigung gleich. Schließlich handelte es sich um das Wahrzeichen der zaubernden Zunft, um ihre führende Forschungsstätte im Reich. Nach den Erzählungen befand sich darin eine Bibliothek mit seltenen Folianten, ein Laboratorium sowie ein Sternenrohr, mit dem die Magier in den Nachthimmel glotzten. Wofür das alles gut sein sollte, erschloss sich Kröte nicht. Solange die Sterne am Himmel blieben und ihr nicht auf den Kopf fielen, musste sie sich darüber keine Gedanken machen. Dennoch schürten diese seltsamen Allüren Krötes Misstrauen. Im Facettring lebten Menschen, die mit Hilfe von magischen Steinen auf höchst unnatürliche Weise Dinge vollbringen konnten, die sie nicht für das Allgemeinwohl, sondern nur für die eigene Bereicherung einsetzten.
So wie in völliger Dunkelheit sehen zu können, meldete sich ein ungehorsamer Gedanke.
Unwillkürlich tastete ihre Zungenspitze nach der Harzkugel, die auf die Größe einer Erbse geschrumpft war.
Das ist etwas anderes, beschloss Kröte und eilte weiter über die Dächer der Stadt.
Ihrem geringen Gewicht hielten auch dünne und morsche Dachschindeln stand, so dass sie gut vorankam. Sie lief auf eine Mauer zu, zog sich mit beiden Armen hoch und balancierte ein Stück darauf, um dann in einen Garten hinunterzuspringen, dessen Nordmauer sie einen Ring höher bringen würde. Diese war zwar hoch, doch mit Hilfe eines Baumes in der Nähe recht einfach zu bezwingen.
Niemand bemerkte die kleine Gestalt, die sich Stück für Stück, Ring für Ring hinaufarbeitete, ohne einen passenden Breschentaler oder eine Genehmigung. Im Grunde fürchtete Kröte nur freilaufende Wachhunde, doch bisher blieb sie von diesen verschont.
Die hiesigen Wachen mit den blauen Umhängen gingen ihrer Arbeit nur halbherzig nach, was nicht zuletzt an der geringen Anzahl von Verbrechen im Facettring lag. Kaum einer legte sich freiwillig mit den Zauberspuckern an. Leichtfüßig schlich Kröte von einer Gasse zur nächsten, stets bedacht, im Schutz von Mauern, Zäunen und Nischen zu bleiben. Um die Straßenlaternen, einen Luxus, den sich die Stadt nur in den obersten beiden Ringen leistete, machte sie einen Bogen. In deren Nähe patrouillierte die Schildwache besonders gern, vermutlich weil sie wussten, dass dort eh nichts passierte.
Sie folgte der Gasse, die zum Platz vor der Nadel führte. In einem Hauseingang krachte eine Tür ins Schloss. Kröte drückte sich mit dem Rücken an die Wand und wartete ab, bis nichts mehr zu hören war. Wenige Schritte später tat sich zwischen den Häusern ein Durchgang auf. Im Schatten einer Mauer beobachtete sie die Umgebung. Nur etwa zehn Pferdelängen entfernt stand ein alter Karren am Rand des Platzes. Zwischen den beiden Achsen lagen drei Männer in schwarzer Kleidung auf der Lauer: Baram, Ernulf und dieser widerwärtige Runzler. Ein höhnisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. Kein sonderlich originelles Versteck. Sie schlug einen Bogen und näherte sich ihnen unbemerkt von hinten. Auch als sie neben der Hinterachse stand, reagierten sie nicht. Jetzt konnte sie die drei sogar miteinander sprechen hören.
Baram flüsterte: »So duster war es lange nicht mehr – eben beim Pinkeln konnte ich meinen eigenen Schwanz nicht sehen.«
»Den siehst du auch am helllichten Tag kaum«, beruhigte ihn Ernulf.
Baram ignorierte die Bemerkung. »Ideale Bedingungen für unser Vorhaben.«
Runzler schnaubte. »Fehlt nur noch diese hässliche Kröte. Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass sie hier aufkreuzt.«
Ernulf antwortete: »Doch, ich denke schon. Mir kam sie wie jemand vor, der durchzieht, was er sich in den Kopf gesetzt hat.«
»Pf!«, machte Runzler.
Zunächst wunderte sich Kröte, dass keiner der Galgenvögel sie bisher entdeckt hatte, doch dann begriff sie, dass die Diebe nicht über ihr geschärftes Sehvermögen verfügten und in dieser sternenlosen Nacht nahezu blind waren. Sie musste nur den Arm ausstrecken, um Ernulfs Fuß zu berühren.
Runzler knirschte mit den Zähnen. »Meinst du, dass diese schlammverkrustete Bratze wahrhaftig versucht, die Nadel hochzuklettern? So durchgeknallt und hirnrissig ist nicht einmal die. Wir hätten ihr die Kehle durchschneiden sollen. Ich wette einen Silberling, dass sie nicht kommt.«
»Die Bratze hält dagegen«, sagte Kröte.
Erschrocken fuhr Runzler hoch, wobei er mit dem Kopf an die Unterseite des Karrens knallte. »Autsch, verflucht. Wie hast du uns entdeckt?«
»Mit den Augen.«
»Leiser!«, flüsterte Ernulf. Er kroch in ihre Richtung, um sie besser sehen zu können. »Bisher läuft alles wie angedacht. Gehen wir den Plan noch einmal durch. Auf der Rückseite der Nadel kletterst du die Fassade zum Fenster hoch und schlüpfst hindurch. Im Turm fasst du nichts an, sondern läufst die Treppe hinunter und öffnest die Tür. Den Rest übernehmen wir.«
»Kann ich mir merken«, sagte Kröte.
Aus Ernulfs Mund klang es wie ein Kinderspiel, doch bisher hatte es noch niemand geschafft, in die Nadel einzubrechen. Vor einigen Monden hatte eine Bande versucht, die Pforte aufzuhebeln. Das Unterfangen hatte mit dem Tod von drei Männern geendet, wobei einer im Kampf von der Schildwache getötet worden war und die beiden anderen von einem elenden Feuerzauber verkohlt wurden, von dem keiner wusste, wer ihn ausgelöst hatte.
»Was wisst ihr über magische Runen, die angeblich das Gebäude sichern?«, fragte Kröte.
»Was für Runen? Nie davon gehört«, antwortete Runzler.
Das Schwein log, dass sich die Nadel bog.
»Die Eingangstür ist durch Runen gesichert«, erklärte Ernulf. »Aber nur von außen.«
Das klang schon eher nach der Wahrheit oder nach dem, was Ernulf dafür hielt.
»Bist du sicher, dass sich die Pforte von innen problemlos öffnen lässt?«
»Ja, die selbstherrlichen Magier könnten sich niemals vorstellen, dass jemand an ihren Sicherheitsvorkehrungen vorbei in den geheiligten Turm gelangt, daher richten sie den Schutzzauber nur gegen Eindringlinge von außen. Dies hat mir einer ihrer Hausdiener berichtet.«
Das musste vorerst genügen. »Gut, ich bin bereit«, verkündete sie. »Haltet mir nur die Patrouillen vom Hals – wenn die mich auf der Rückseite des Turmes entdecken, bin ich geliefert.«
»Ja doch. Wir lenken die Schildwache ab. Konzentriere du dich auf deine kleine Kletterübung.« Ernulf kroch unter dem Karren hervor. »Los! In der Nähe sind weitere vier Männer von uns in Bereitschaft, das reicht aus, um dir den Rücken freizuhalten.«
»Dann bis gleich.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Für die Diebe entschwand Kröte in der Dunkelheit. Sie schlich weiträumig um die Nadel herum. Tatsächlich entdeckte sie weitere Mitglieder der Gilde – zwei lagen flach auf einem Dach, einer hockte in einem Busch, ein anderer hinter einer Mauer. Auf der Vorderseite des Turmes leuchteten ein paar Straßenlaternen den Eingangsbereich aus. Der helle Stein, mit dem der Boden rundherum gepflastert war, reflektierte das Licht. Kröte schlich zur Rückseite der Nadel, die im Halbdunkel lag. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick den endlosen Turm emporwandern. Angesichts dieses gewaltigen Bauwerkes kam sie sich furchtbar klein und unbedeutend vor. Übernahm sie sich mit diesem Vorhaben?
Kröte rief sich ihre Beweggründe in Erinnerung, die sogleich die alten Zweifel vertrieben und neue Entschlossenheit entfachten. Konzentriert studierte sie die Ritzen, Kanten und Fugen der Fassade. Verflucht sei – wer auch immer. Die Ritzen waren klein, die Kanten schmal und die Fugen flach. Von hier unten wirkte das Fenster wie ein Loch in einem Vogelhäuschen, in das sich gerade mal ein abgemagerter Spatz zwängen konnte. Ein wahres Nadelöhr.
Kröte prüfte das Mauerwerk. Jeder noch so kleine Vorsprung, jeder Riss und jedes Loch sprang ihr in die Augen. Ihre Finger tasteten über die Unebenheiten, fanden Halt, wodurch sie sich eine halbe Körperlänge nach oben ziehen konnte. Sie schaffte es, die Metalldornen ihrer neuen Schuhe ein kleines Stück in den Mörtel der Fugen zu bohren, was ihr den nötigen Halt gab, um sich weiter emporzuschieben. So ging es höher und höher.
Sie stellte sich vor, sie würde auf dem Boden entlangkrabbeln, so kam sie nicht in Versuchung, nach unten zu blicken. Inzwischen musste sie eine Höhe erreicht haben, aus der ein Sturz auf den Pflasterstein Schädel und Knochen zerschmettern würde. Sie schaute nach oben – ach nein, nach vorn. Tatsächlich kam ihr das Fenster nun etwas größer vor, jetzt passte schon eine fette Taube hindurch. Es schrappte hässlich, als ihr rechter Fuß an der schmalen Kante eines Steins abrutschte. Ihre Finger hatten genug Halt, das Geräusch jedoch brüllte in ihren Ohren. Mit angehaltenem Atem verharrte Kröte.
»Was war das?«, fragte eine Stimme von irgendwo unter ihr.
»Klang wie metallisches Kratzen auf Stein, Hauptmann.«
»Augen auf, Männer! Sucht die Umgebung der Nadel ab.«
Na toll!
Ein Blick auf die Rückseite, und die Schildwache würde sie entdecken. Hilflos klebte sie an der Wand und wartete ab. Mehr konnte sie nicht tun, außer in den Tod zu stürzen. Schwere Stiefelschritte hallten zu ihr herauf. Sie krallte sich verzweifelt in eine Fuge, aus der durch Wind und Wetter ein wenig Mörtel herausgebröckelt war. Ihre linke Hand verkrampfte allmählich. Genau wie ihr rechter Fuß, dessen Seite auf einem fingerbreiten Vorsprung balancierte.
In was für eine Lage habe ich mich da gebracht!, schimpfte sie mit sich selbst. Und wo bleiben diese unnützen Diebe?
Schritte erklangen direkt unter ihr. Nein, sie würde nicht hinunterblicken.
In diesem Moment rief eine Schildwache: »Hauptmann! Dort!«
Sie hatten sie entdeckt. Eben hatte Krötes Herz noch getobt, nun blieb es stehen.
»Zwei Männer!«, rief die Schildwache.
»Diese düsteren Gestalten gehören ganz sicher nicht in den Facettring. Nehmt sie fest!«
» SOFORT STEHEN BLEIBEN !«, brüllte es von zwei Seiten.
Das riefen sie immer. Dabei war Kröte nach dieser Aufforderung noch nie stehen geblieben. Weder sofort noch später. Doch gelobt war – wer auch immer. Sie war gar nicht gemeint. Ihr Herz begann wieder zu schlagen.
Die Schrittgeräusche entfernten sich. Mit der rechten Hand suchte sie neuen Halt. Kröte atmete durch. Was für eine Wohltat, endlich konnte sie die geschundene Linke und den überdehnten Fuß entlasten. Es gab nur noch den Weg nach oben, also hieß es weiterklettern. Oder eher krabbeln, wie ein Kleinkind auf allen vieren. Nur nicht nach unten blicken.
Gleich kam das Fenster in Reichweite, nur noch zwei Körperlängen.
Was ist das? Direkt über sich nahm sie eine Bewegung wahr. Sie verengte die Augen. Unterhalb des Simses waberte etwas, ähnlich einer unruhigen Wasseroberfläche. Kröte drehte den Kopf, versuchte herauszufinden, woher dieses Phänomen stammen könnte, doch sie sah keine Erklärung dafür. Nach wie vor versteckte sich der Mond hinter gleichmäßig grauen Wolken – was also warf diesen Schatten auf den Turm?
Erneut betrachtete sie das dunkle Flimmern unter dem Fenster – die geschwungenen Wellenbewegungen erinnerten an eine Tintenfeder, die über ein Pergament strich. Runen! Was sonst? Zur Sicherung des Fensters hatten die Magier Runen angebracht, um genau das zu verhindern, was sie gerade versuchte. Was waren diese Zauberspucker aber auch für misstrauische, durchtriebene Gesellen! Als ob jemand derart durchgeknallt und hirnrissig war, diese Fassade hochzuklettern!
Lediglich unter dem Fenster waberte es unheilvoll, also auf dem Weg, den ein unbedarfter Eindringling wählen würde. Vermutlich einer, der die Runen nicht sehen konnte. Wieder tastete ihre Zungenspitze nach dem kläglichen Rest Harzkugel. Was passierte wohl, wenn sie die Rune berührte? Garantiert nichts Gutes. Würde sie einen Feuerzauber auslösen wie die Einbrecher an der Pforte? Sie stellte sich vor, wie ihr verkohlter Körper auf die Pflastersteine aufschlug. Immerhin könnte die Schildwache nur mit Handfeger und Kehrblech ihre Reste beseitigen. Nein, auf keinen Fall wollte sie herausfinden, welche Schweinerei die Magier mit den Runen ausgeheckt hatten.
Und nun? Rückzug?
Auf keinen Fall. Jetzt bist du so weit gekommen, nun schaffst du den Rest auch noch .
In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie gar keine andere Wahl hatte. Wenn sie weiterleben wollte, musste sie durch dieses Drecksfenster in die Drecks nadel einsteigen, denn noch schwieriger als hoch war es, von hier die Fassade wieder hinunterzuklettern. Ihr fehlte schlichtweg die Kraft. Jeder Muskel schmerzte, die Erschöpfung ließ sie schwindeln – nein, es gab kein Zurück. Hinab führten nur zwei Wege: über die Treppe im Turminneren oder im freien Fall.
Kröte sammelte ihre letzten Kräfte. Sie beschloss, nicht den direkten Weg zu nehmen, sondern an den Runen vorbei von schräg oben in das Fenster einzusteigen. Dieser Umweg nötigte ihr zwar einige Körperlängen Kletterarbeit mehr ab, doch es gab Momente, in denen man den Speck besser in der Falle liegen ließ.
Sie spürte Feuchtigkeit an ihrem Daumen. Auch das noch – ihre Finger bluteten. Die Verletzung war nicht weiter schlimm, doch stieg dadurch die Gefahr abzurutschen. Kröte wischte erst die eine, dann die andere Hand an ihrer Hose ab.
Auf zum Finale einer Kletterpartie, die in Grubenstedt ihresgleichen sucht!
Sie prüfte eine Unregelmäßigkeit im Stein über ihr. Da frischte der Wind auf. Bisher hatte sich das Wetter als ihr Freund erwiesen – auf nichts war Verlass. Sie hielt inne, als eine Böe an ihrer Kleidung, ihren Haaren und ihren Nerven riss. Mit geschlossenen Augen presste sie die Stirn gegen das Mauerwerk und wartete. Der Wind ließ nach. Weiter!
Das letzte Stück rechts am Fenster vorbei dauerte eine Ewigkeit, doch schließlich setzte sie von oben ihren linken Fuß auf den Sims, einen Daumenbreit über den Runenschatten. Im Grunde bestand das Fenster nur aus einem Loch im Mauerwerk. Kein Laden, kein Glas, kein Rahmen. Mit einem leichten Zittern schob sie ihr rechtes Bein durch die Öffnung und drehte dann ihren Körper, um sich mit der Hüfte durch den schmalen Spalt zu quetschen. Ein beherztes Loslassen, ein Ruck – Oberkörper, Kopf sowie Arme folgten von allein.
Sie fand sich im Turminneren unterhalb des Fensters auf dem kalten Boden einer Kammer wieder. Es dauerte etliche Herzschläge, bis sie ihren Erfolg begriff. Allen Widrigkeiten zum Trotz hatte die kleine Kröte aus dem Schlammring das Unmögliche geschafft! Leider war es mit dieser Unmöglichkeit noch nicht getan, nun galt es, die nächsten Punkte des Plans abzuarbeiten. Durch die Euphorie des bisher Erreichten verflog ein Gutteil ihrer Erschöpfung. Sie sah sich um, machte Konturen von Möbeln aus – eine Kiste, ein Regal mit Gläsern. Kröte verstand. Ohne das Harz würde sie auch hier so gut wie nichts sehen können. Durch das lächerlich kleine Fenster fiel wahrscheinlich selbst bei Tag nur spärliches Licht – es diente offenbar vorwiegend der Luftzufuhr.
Kröte erhob sich. Ihre brennenden Fingerkuppen ignorierend, durchquerte sie die Kammer und suchte die Tür nach weiteren wabernden Schatten ab. Kaum auszuschließen, dass auch hier hinterhältige Runen auf ehrliche Einbrecher warteten. Nichts Ungewöhnliches war zu entdecken, also drückte sie die Klinke hinunter, zog die gut geölte Tür auf und betrat das Treppenhaus. Links führten Stufen spiralförmig höher in den Turm, rechts ging es abwärts. Jetzt musste sie also nur nach dort unten und der Diebesgilde die Tür öffnen – so der Plan. Ernulfs Plan.
Kröte wandte sich nach links und stieg die Treppe hoch. Nichts als kahle, glatte Wände ohne Verzierungen oder Nischen begleiteten sie immer höher in den Turm. Zwei Türen zu ihrer Rechten ließ sie links liegen, ihr Ziel war die Turmspitze.
Sie erstickte etwaige Bedenken im Keim. Im Augenblick kann mir weder eine Patrouille noch die Diebesgilde etwas anhaben. Bis auf das Auslösen irgendwelcher Runenzauber bestand keine unmittelbare Gefahr. Die Nadel war nicht bewohnt, um diese Nachtzeit kam ihr keiner in die Quere.
Nach etlichen Windungen erreichte sie das Ende der Treppe. Ist das die Nadelspitze? Zu ihrer Rechten befand sich eine Eichentür, verziert mit aufwendigen Schnitzereien und einem vergoldeten Drehknopf in Form einer zusammengerollten Schlange. Die Magier hatten also doch etwas für Schnörkel übrig. Kröte drehte den Knauf. Auch diese Tür gab keinen Mucks von sich.
Geblendet schloss sie die Augen. Im Gegensatz zum Treppenhaus war das Zimmer hell erleuchtet. Unzählige Flammen in Leuchtern, Haltern und Laternen flackerten um die Wette. Wie angenagelt stand Kröte auf der Schwelle. Nur langsam durchdrangen ihre Blicke die Lichterflut und blieben an einem breiten Tisch hängen. Darauf lagen einige Werkzeuge, die entfernt an Hämmer und Zangen erinnerten, ein Stapel Folianten sowie drei oder vier metallische Gerätschaften, die sie keinem konkreten Zweck zuordnen konnte. In einem Magierturm wäre dies kaum des Erstaunens wert, wenn sich nicht noch etwas auf der Tischplatte befunden hätte: ein Kopf. Ein menschlicher Kopf. Verflucht sei – wer auch immer! Dieser Kopf gehörte weder zu Ernulfs noch zu Krötes Plan, sondern zu einem schlanken Hals und einem zusammengesackten Frauenkörper, der es sich hinter dem Tisch auf einem Stuhl mehr oder minder bequem gemacht hatte. Kröte lauschte den gleichmäßigen Atemzügen. Die Dame musste bei der Arbeit vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Sie trug eine weiße Robe und ein dunkles Schultertuch. Ihre glatten Haare verteilten sich auf dem Tisch wie schwarze Seide, mitten darin glitzerte ein Facettstein, der an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Ihre feinen Gesichtszüge mit den sanft hervorstehenden Wangenknochen wirkten sogar im Schlaf konzentriert und zielstrebig. Obwohl Kröte dieser Frau noch nie zuvor begegnet war, wusste sie sofort, dass es sich um eine gefährliche Person handelte. Eine mächtige Zauberspuckerin, der man möglichst nicht im wachen Zustand begegnen sollte – schon gar nicht mitten in der Nacht, nachdem man in ihr Reich eingebrochen war.
Raus hier, nichts wie raus!
Gerade wollte Kröte den Rückzug antreten, als die Dame seufzte und ihre rechte Hand bewegte. Als hätte die Magierin einen Lähmungszauber gewirkt, erstarrte Kröte, unfähig, nur einen Muskel zu bewegen, wobei ihr Herz schneller schlug als das einer Feldmaus unter den Krallen einer Katze.
Die Magierin schob ihren Arm unter den Kopf, wobei ihre Augen geschlossen und die Atemzüge gleichmäßig blieben. Sie schlief weiter. Kröte stand immer noch auf der Türschwelle und kämpfte gegen den Drang, Hals über Kopf die Treppe hinunterzustürzen. Genau in diesem Augenblick entdeckte sie es: das geöffnete Schmuckkästchen auf der Tischplatte, nur eine Handbreit vom Kopf der Schlafenden entfernt. Darin lag eine unscheinbare Kette, zusammengesetzt aus Steinen, weder hübsch noch pompös, doch der Instinkt der geborenen Diebin sagte ihr, dass es sich um das von Ernulf gesuchte Artefakt handelte.
Was für eine Herausforderung, was für eine Prüfung! Zu gefährlich, zu riskant, zu waghalsig, um der Versuchung zu widerstehen. Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Tisch und streckte die Hand nach dem Schmuckstück aus. Ihr Blick flackerte zwischen der Kette und der schlafenden Magierin hin und her. Erstaunlich – ohne Zittern schlossen sich Krötes Finger um das Kleinod. Sie hob es an. Das Klackern, als einer der Steine die Wandung des Kästchens touchierte, kam ihr vor wie ein Fanfarenstoß samt Paukenschlag. Nur lauter. Sie widerstand dem Reflex, fluchtartig aus dem Zimmer zu stieben, sondern wartete bewegungslos ab. Die Zauberspuckerin schlief selig weiter.
Die Faust fest um die Beute geklammert, verließ Kröte den Raum. Aus gutem Grund verzichtete sie darauf, die Tür hinter sich zu schließen, und schlich die Stufen hinunter. Leise, leise, leise – bloß keine schlafende Magierin wecken. Als sie die Höhe ihres Einstiegfensters erreicht hatte, verharrte sie. Ihre wunden Finger schmerzten, als sie ihre Gürteltasche öffnete, um die Kette darin zu verstauen. Ihr Herz schlug nur noch doppelt so schnell wie normal. Weiter – sie musste schleunigst hier raus. Wie viele Treppenwindungen sie hinter sich hatte, als sie sich auf einer halbkreisförmigen Empore wiederfand, wusste sie nicht. Erstaunt blickte sie sich in der geräumigen Eingangshalle des Turmes um. Ein halbes Dutzend Kerzen in Wandhalterungen spendeten Licht. Zunächst fiel ihr Blick auf die Eingangspforte schräg unter sich. Nur noch diese Tür befand sich zwischen ihr und der Freiheit. Aus dem Augenwinkel nahm sie ein Glitzern links von sich wahr. Kröte drehte den Kopf – und unterdrückte einen Aufschrei, machte einen Schritt zurück, bis sie das Geländer der Empore im Rücken spürte. Sie starrte auf die Konturen eines Magiers, der am Ende der Empore neben dem Geländer stand und den Eingangsbereich bewachte. Ein hünenhafter Kerl in voller Montur, der seinen Kampfstab direkt auf sie richtete.
Wo kommt der denn plötzlich her? Starr und stumm standen sie sich gegenüber. Der gesichtslose Helm reflektierte die Kerzenflammen. Warum gesichtslos? Erst jetzt begriff sie: Es handelte sich um eine Rüstung, eine leere Rüstung. Auf leisen Sohlen trat sie näher. Brustpanzer, Arm- und Beinschienen sowie der Helm waren mit dünnen Linien versehen – vielleicht wieder irgendwelche Schutzrunen, wobei der Besitzer offenbar zusätzlich auf soliden Stahl vertraut hatte. Vermutlich wog das Ding mehr als ein ausgewachsener Ochse.
Kröte verharrte auf der Empore neben der Rüstung und begutachtete den Eingang zum Turm – eine doppelflügelige Pforte aus massivem Metall, ohne Riegel, ohne Schloss, lediglich ausgestattet mit einer stählernen Klinke auf der rechten Hälfte, die an ein schmuckloses Kurzschwert erinnerte. Kein Wabern, kein Schimmern. Offensichtlich behielt Ernulf recht, auf der Innenseite hatten die Zauberspucker auf fiese Fallen verzichtet. Ob die Diebe vor der Nadel für reine Luft gesorgt hatten? Mit angehaltenem Atem horchte sie noch einmal nach oben und nach draußen. Tiefe Stille, ein gutes Zeichen. Offenbar träumte die Magierin weiterhin von ihrem Artefakt, und die Schildwache patrouillierte anderswo.
Kröte stellte sich hinter die Rüstung und legte behutsam beide Hände auf die Schulterplatten, so als wäre der Kampfmagier ein guter Freund. Sie spannte die Armmuskeln an und drückte. Sie wunderte sich über die Seelenruhe, die sie erfasst hatte, ein seltener innerer Frieden. Sie verstärkte den Druck, ihr Kumpel verlor das Gleichgewicht, die Rüstung kippte über die Brüstung. Dies ging erstaunlich langsam und erstaunlich geräuschlos vonstatten. Die Hülle des Kampfmagiers plumpste von der Empore hinunter in den Eingangsbereich – mit aufgerissenen Augen sah Kröte ihr hinterher.
Was nun folgte, war nicht das Eindrucksvollste oder Spektakulärste, was sie bisher erlebt hatte, aber mit Sicherheit das Lauteste. Das Scheppern, als die Metallrüstung auf den Granitboden krachte und in alle Einzelteile zersprang, erschütterte die Nadel in ihren Grundfesten, so kam es ihr zumindest vor. Was für den Schlammring galt, fand auch hier seine Anwendung: die besondere Akustik. Jedes Geräusch tanzte erst einige Male im Kreis, bevor es merkte, dass es nur himmelwärts entfleuchen konnte. Mit klingelnden Ohren rannte Kröte die letzten Stufen zur Pforte hinunter und stemmte sich mit beiden Händen auf die Klinke. Bereitwillig öffnete sich die schwere Tür – nach innen.
Im nächsten Augenblick drängten drei Männer herein.
»Was machst du für einen Scheißkrach?«, grunzte Runzler.
Kröte breitete ihre leeren, unschuldigen Hände aus.
»Los, sofort hoch! Viel Zeit haben wir nicht«, rief ein Dieb, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie hob den Arm. »Ihr solltet wissen, dass …«
»Halt’s Maul, wir haben es eilig!« Runzler schubste sie unsanft zur Seite und stürmte die Treppe empor. Die anderen beiden Strolche hasteten ihm hinterher.
Mit einem Zucken ihrer schmalen Schultern sah Kröte ihnen nach, bevor sie die Nadel verließ und in der Dunkelheit verschwand.