72. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel
Der Nieselregen, der das Erdreich zwischen den Abraumhalden in zähen Schlamm verwandelte, zehrte an Gunter Hyazinth vom Adlersteins Laune. Gereizt und bereits völlig durchnässt beobachtete er den Fortgang der Arbeiten. Alle Scheiße wurde nach unten gespült in dieser verfluchten Stadt. Und wem fiel sie dann vor die Füße? Ihm, dem Hauptmann der Schlammwache.
Gunter schloss die Augen. Sein Ärger würde ihm nicht helfen zu ergründen, was hier vor sich ging. Er musste ganz nüchtern betrachten, was er sah. Ein oder zwei Leichen hätten die Täter vielleicht unauffällig durch die Bresche schmuggeln können. Aber so viele …? Niemals. Die Toten, die sie bereits geborgen hatten, waren nicht vom nächsthöheren Ring herabgestürzt. Das würde man ihnen ansehen. Die hier verscharrt lagen, waren im Schlammring gestorben. Wie? Wer machte das?
Der Platz, an dem die Leichen unter die Erde gebracht worden waren, war gut gewählt: ein Abschnitt des Schlamm rings, der für Erdrutsche bekannt war. Insbesondere bei Regenwetter. Missmutig betrachtete er die Steilwand aus Sandstein und gelblich brauner Erde. Dort oben patrouillierten Männer der Wache und hielten Schaulustige fern. Aber das würde wenig helfen. Geschichten wie diese hatten Flügel. Die Schildwache hat ein ganzes Feld voller Leichen entdeckt, hörte Gunter im Geiste die Leute tuscheln. Natürlich im Schlammring! Wo sonst? Sind alles Halsabschneider, die da unten im Dreck leben.
»Hauptmann!« Genoveva Klingenbrecher kam ihm entgegengelaufen. Stiefel und Hose waren über und über mit Schlamm besudelt. Die aus dem Gefolge des Obristen verbannte Trabantin hatte im Dreck gekniet und mitgeholfen, die Toten auszugraben. »Es sind jetzt schon mehr als zwanzig! Wie konnte das unbemerkt bleiben?«
Weil sie uns nicht trauen, dachte Gunter bitter. Obwohl er sich alle Mühe gab, für Gerechtigkeit zu sorgen, war der Ruf der Schlammwache katastrophal. Warum sollte man den Verlust eines geliebten Menschen melden? War das Versagen der Wachen nicht offensichtlich, wenn so viele einfach starben? »Sind wenigstens ein paar normale Tote mit aufgeschlitzter Kehle oder eingeschlagenem Schädel dabei?«
»Keiner.« Die Trabantin sah ihn ratlos an. Ihre rot geäderten Augen wirkten fiebrig. Gewiss hatte sie zu wenig geschlafen. Das nasse Haar hing ihr ins Gesicht. An ihrer Stirn klebte Schlamm, als sei sie mit schmutziger Hand erschöpft darübergefahren, um sich eine Strähne aus den Augen zu streichen.
»Habt Ihr irgendwelche Ideen, die uns weiterbringen, Genoveva?« Gunter wusste einfach nicht, wie er diese vertrackte Sache angehen sollte. Nie zuvor hatte er von etwas Vergleichbarem gehört, dabei hatte er stets ein offenes Ohr für Geschichten, die andere ins Reich der Märchen verdammten.
»Es sind ganz unterschiedliche Pflanzen, die in ihnen wachsen. Wenn Ihr mir folgen mögt?«
Die Trabantin führte ihn zwischen Abraumhalden an einen Ort, wo neun Tote säuberlich aufgereiht auf Segeltuchbahnen lagen. Drei waren ganz nackt, den übrigen fehlten nur die Schuhe.
»Ich vermute, die Nackten waren bessergestellte Bürger.« Genoveva ging langsam an der Reihe der Leichen entlang.
Sie hat die unheimliche Eigenart, meine Fragen zu ahnen, bevor sie mir über die Lippen kommen, dachte Gunter irritiert.
»Zwei der nackten Toten sind recht füllig, was darauf hinweist, dass sie ein gutes Leben hatten. An ihren Händen sind keine Schwielen. Die haben nicht hart gearbeitet. Nur der dort …« Sie wies auf einen kahlköpfigen Kerl, der mit dem Gesicht nach unten dalag. »Ich vermute, er war ein Krieger. Hat ein halbes Dutzend Narben am Leib und ein übel zerschmettertes linkes Knie. Hammer oder Streitkolben, würde ich sagen. Die Wunde ist ausgeheilt … Aber er wird ein steifes Bein behalten haben.«
»Was ist mit der da?« Gunter deutete auf eine grauhaarige Frau, die nur mit einem fadenscheinigen Hemd bekleidet war und in deren Schläfe ein Loch klaffte.
»Die Wachen sind nicht zimperlich …« Genoveva wich seinem Blick aus. »War ein Unfall beim Graben. Ich fürchte, sie hat eine Spitzhacke abbekommen.« Sie deutete auf die Stängel im Mund der Toten. »Umgebracht hat dies alte Mütterchen der Weizen. So wie beim Ersten, den wir gefunden haben. So wie sie riecht und sich anfühlt, ist sie schon mindestens fünf Tage tot.« Die Trabantin ging in die Hocke und hob eine Hand der Leiche an. »Die Verfärbungen der Haut sind ungewöhnlich. Sie deuten auf Gicht hin. Aber ich habe ihre Gelenke abgetastet. Dort gibt es keine Deformationen. Im Gegenteil … Ihre Gelenke sind für eine Frau ihres Alters in ungewöhnlich gutem Zustand.«
Gunter verstand nicht, was die Gelenke mit dem Weizen zu tun hatten, der der Toten aus dem Mund spross. Er hatte den Eindruck, dass sich Genoveva in der Betrachtung von Einzelheiten verlor, die sich nicht zu einem großen Bild zusammenfügen ließen. Sein Blick schweifte zu den Stangen und den aufgerollten Zeltplanen, die am Ende der Reihe von Toten lagen. Das durfte doch nicht wahr sein! Die Kerle hatten den Kram hierhergebracht und dann einfach nur abgelegt!
Klas und Mertlin schleppten eine weitere Leiche heran. Einen Jungen von höchstens zwölf Jahren, dürr wie der Tod.
»Das scheinen schwarze Linsen zu sein«, bemerkte Genoveva fasziniert. »Ungewöhnlich! Wo der wohl essen war?«
Die beiden Wachen ließen den Jungen am Ende der Reihe wie einen Sack fallen.
»Warum ist das Sonnensegel nicht aufgespannt?«, schnauz te Gunter die beiden an.
Klas stemmte die schmutzigen Hände unter seinem Kürass in die Hüften und grinste durch seinen Bart. »Scheint doch keine Sonne.«
»Und die sehen auch nicht so aus, als würde der Regen sie stören«, fügte Mertlin feixend hinzu.
»Und ich? Wie sehe ich aus?«, grollte Gunter. »Wie jemand, der freundliche Vorschläge macht? Das war ein Befehl!«
»Aber Ihr sagt doch immer, die Wache krankt daran, dass alle Deppen blind gehorchen, statt ihren Kopf zu benutzen, Hauptmann«, wandte Klas ein. »Mal ehrlich, was sollen wir an so einem Tag mit einem Sonnensegel? Das kam uns nicht sinnvoll vor.«
»Außerdem ist es kein Spaß, in dem Schlamm Löcher für Pfähle zu buddeln«, ergänzte Mertlin.
Gunter schloss kurz die Augen. Vielleicht hätte er ihnen erklären sollen, wozu das Sonnensegel gebraucht wurde. Er fühlte sich müde. Er hatte zu viel vor seinen Männern geschwafelt. Sein Fehler. Manchmal müsste er wohl einfach darauf pochen, dass es eine Befehlskette gab. Übellaunig deutete er die Steilwand hinauf. »Ich habe die Kameraden vom Staubring gebeten, dort oben Wachen zu postieren, damit da nicht alles voller Gaffer steht. Aber wie lange werden die Wachen dortbleiben? Und schaut einen Ring höher. Da stehen schon Schaulustige. Das Sonnensegel dient als Sichtschutz. Ich will nicht, dass sich herumspricht, dass unseren Toten hier Radieschen aus dem Arsch wachsen. Also spannt endlich das verdammte Segel auf!« In die letzten Worte hatte er all seine schlechte Laune gelegt.
Mürrisch machten sich Klas und Mertlin an die Arbeit. »Wir brauchen noch mehr Männer«, nörgelte Klas. »Sonst wird das ewig dauern.«
Gunter wandte sich ab. »Ist meine Base noch hier?«
»Ich habe sie gebeten, auf Euch zu warten, Hauptmann.« Genoveva blieb förmlich wie immer. »Sie hält etwas Abstand zum Steilhang. Ich glaube, sie fürchtet, dass uns eine Schlammlawine verschlucken könnte.«
In dieser Gegend kein abwegiger Gedanke. Gunter folgte Genoveva, die ihn zwischen Hügeln aus taubem Gestein und lehmiger Erde in Richtung der Zeltstadt führte. Nasiima saß in einem Zelt mit hochgeklappten Wänden auf einer Holzkiste, hielt einen dampfenden Humpen in der Hand und sah schon von weitem streitlustig aus.
»Wollt Ihr mich in Ketten legen lassen, Vetter?«, begrüßte sie ihn.
Gunter bemerkte den würzigen Duft. Heißer Kräuterwein! Wo bei den Göttern hatte sie den denn her? Silber konnte selbst hier unten offensichtlich Wunder wirken.
»Wenn ich ausgetrunken habe, werde ich gehen. Ich stehe nicht unter Eurem Befehl, Vetter. Nur falls Ihr das vergessen haben solltet.«
»Wie viele Stimmen habt Ihr gehört?«
Sie seufzte und machte eine ratlose Geste. »Zwanzig oder dreißig? Oder vierzig? Zu viele, um sie auseinanderhalten zu können.« Sie bedachte Genoveva mit einem übellaunigen Blick. »Und Eurem Schatten habe ich bereits gesagt, dass ich unmöglich benennen kann, von wo sie gekommen sind. Ihr habt doch schon Hunde geholt, die mit Begeisterung die Schnauzen in den Schlamm stecken. Wozu braucht Ihr mich noch, Hauptmann? Ich will einfach nur in den Palast, ein langes Bad nehmen, etwas Sauberes anziehen und schlafen.«
Gunter kannte sie gut genug, um zu bemerken, wenn sie mit Arroganz überspielte, wie aufgewühlt sie war. Er hatte sie noch nie in so schlechtem Zustand gesehen. Ihr teures Kleid war schlammbesudelt, und es sah aus, als sei sie mehrfach gestürzt. Ihre Frisur begann sich aufzulösen, und der Regen hatte ihre Schminke zerlaufen lassen. Er würde sie später im Palast befragen, was sie hier unten im Schlammring zu suchen gehabt und warum sie den Totenzauber gewoben hatte.
»Hauptmann?« Genoveva bedachte Nasiima mit einem misstrauischen Blick. »Hauptmann, ich glaube, ich habe die Verbindung zwischen den Toten gefunden. Ich …«
Die beiden haben noch einen langen Weg vor sich, dachte Gunter müde. »Ihr könnt reden, Genoveva. Wir können ihr vertrauen.«
Die Trabantin straffte sich, als stünde sie auf dem Paradeplatz vor dem Obristen. »Ich glaube, ich habe entdeckt, was die Toten miteinander verbindet.« Wieder sah sie misstrauisch zu Nasiima.
»Und?«, drängte Gunter.
»Sie alle hatten ein Leiden, das frisch behandelt wurde. Verschwundene Knochendeformationen durch Gicht, ein Kniegelenk, das in viel besserem Zustand war, als es bei den Narben im Fleisch hätte sein dürfen. Anzeichen frisch verheilter Wunden …«
»Ein Unheiler!«, stieß Nasiima hervor. »Das …« Sie stockte. Musterte Genoveva misstrauisch.
Gunter riss der Geduldsfaden. »Könntet Ihr verdammt nochmal Burgfrieden schließen? Wir stehen hier auf einem Schlachtfeld, und es wird weiter gestorben. Das ist nicht die Zeit, um sich mit albernen Befindlichkeiten und Misstrauen aufzuhalten. Wir haben hier nur ein Ziel: Das Sterben im Schlammring muss enden! Und das schnell!«
»An einen Unheiler habe ich natürlich auch schon gedacht«, knurrte Genoveva. »Aber das erklärt nicht, warum Pflanzen die Geheilten töten. Das ist –«
»Ein Stümper, der einen Facettstein gefunden hat und damit herumspielt wie ein zurückgebliebenes Kleinkind«, warf Nasiima ein. »Magie ist kein Handwerk, sie ist Kunst, und Kunst zu erschaffen, dazu sind nur die allerwenigsten in der Lage.«
»Danke für den Einwurf, Künstlerin. « Genoveva klang eisig. »Und nun tragt Euren Kopf nicht länger in den Wolken. Kommt in den Schlamm zurück, in die Wirklichkeit. Wenn es ein Unheiler ist, warum hört er nicht auf, wenn er bemerkt, dass seine Heilkunst Tod und Verderben bringt? Und warum sucht ihn noch jemand auf, wenn seine Heilkunst tödlich ist?«
»Die Erklärung dafür ist ebenso einfach wie niederschmetternd.« Gunter schnaubte unwillig. Seine Erfahrungen im Krieg und in der Wache hatten seinem Glauben an den Sieg des Guten arg zugesetzt. »Für die richtige Menge Silber wird dieser verdammte Heiler seine Moral über Bord werfen. Die Toten lassen seine Gehilfen dann hier im Schlamm verschwinden, damit sich nicht herumspricht, was passiert, wenn man ihn machen lässt.«
Genoveva schüttelte missbilligend den Kopf. »Warum sollte jemand einen Unheiler besuchen, dessen Geheilte spurlos verschwinden?«
»Ich wette Euren Jahressold, dass es vergleichsweise we nige sind, meine Liebe«, sagte Nasiima. »Und seht sie Euch mal genauer an. Habenichtse sind die meisten. Die wird niemand vermissen.«
Es gab Momente, da hätte Gunter seiner Base für ihre verdammte Arroganz den Hals umdrehen können. Sie war zu lange am Königshof gewesen.
Seinem scharfen Blick begegnete sie mit einem süffisanten Lächeln und fuhr fort: »Wahrscheinlich gibt es solche Misserfolge nur bei jedem dreißigsten oder vierzigsten, je nach Verunreinigung des gefundenen Facetts. Vielleicht noch seltener.« Sie machte eine weitausholende Geste in Richtung der Zelte und erbärmlichen Behausungen. »Und dieses Drecksloch hat einen gewissen Ruf. Niemand wird sich wundern, wenn ab und an jemand verschwindet, der in den Schlammring hinabsteigt. Im Gegenteil, das erwartet man geradezu. Hier hausen die Unglücklichen, die Hungerleider und Halsabschneider. Man wird das nicht dem Unheiler zuschreiben … Zumal der ja offensichtlich Helfer hat, die sich um die … nennen wir sie mal Unfälle … kümmert.«
Das klang plausibel, und dennoch sträubte sich alles in Gunter dagegen, es zu akzeptieren. Der Schlammring war besser als sein Ruf. Und er hatte seinen Ring im Griff. Hier lauerte nicht hinter jeder Ecke ein Halsabschneider, verdammt. Ihm entging nicht, dass auch Genoveva verärgert war. Eine steile Zornesfalte erhob sich zwischen ihren Brauen. Gleich würden die beiden in die nächste Runde gehen. Dem galt es vorzubeugen. »Trabantin Genoveva, ich brauche für Eure These hieb- und stichfeste Beweise. Untersucht alle Toten. Stellt fest, welche Leiden sie hierhergebracht haben. Es darf sich nicht einer unter ihnen befinden, der gesund war, sonst wird der Obrist unsere Theorie vom Unheiler zerpflücken.«
»Aber –«
»Warum glaubt heute Morgen jeder, dass ich lediglich freundliche Vorschläge mache, statt Befehle zu erteilen?«, fuhr er die Trabantin an. »Los jetzt! Ich brauche Ergebnisse und einen Bericht. Und das schnell!«
»Ihr könnt ja richtig zornig werden, Vetter«, bemerkte Nasiima lächelnd, als Genoveva außer Hörweite war.
»Fordert es nicht heraus, Base! Ihr sollet jetzt –«
»Jetzt werdet Ihr mir zuhören, Vetter.« Sie deutete in Richtung der Wachen, die immer noch Leichen ausgruben. »Habt Ihr Euch schon die Frage gestellt, was ich mitten in der Nacht mit Eurem Rutger hier im Dreck zu suchen hatte?«
»Eure Eskapismen –«
»Haltet Eure Phantasie im Zaum! Gestern Nacht ist in die Nadel eingebrochen worden. Eine dreiste Diebin hat mir eine kostbare Kette gestohlen. Ein magisches Artefakt, dessen Wirken ich auch nach wochenlangem Studium nicht ergründen konnte. Ich bin der Diebin in den Schlammring gefolgt und habe hier Rutger angeheuert. Er glaubt sie zu kennen. Kröte heißt die Diebin.«
»Kröte?« Das mochte Gunter nicht glauben. Er kannte das dürre Mädchen nur flüchtig, zumal sie einen großen Bogen um ihn machte. Sie stahl manchmal einen Apfel oder ein Brot und trieb sich häufig in jenen Tunneln herum, denen man besser fernblieb. Aber ein so groß angelegter Diebstahl passte nicht zu ihr. »Ich werde der Sache nachgehen.«
»Da fehlt mir der nötige Enthusiasmus, Vetter!« Sie erhob sich und stellte den Becher ab. »Ihr scheint den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Diese Kette mag harmlos sein oder von vernichtender Macht. Es gibt Artefakte, die bei unsachgemäßer Nutzung beispielsweise Schockwellen erzeugen. Wisst Ihr, was geschieht, wenn hier unten im Schlammring so eine Schockwelle freigesetzt wird? Die ganzen verdammten Terrassen rutschen ab. Dann haben wir nicht nur ein paar Leichen, denen Blümchen aus dem Mund wachsen, dann wird es Tausende Tote geben und …« Sie sah beklommen zu den höher liegenden Ringen. »Und hier unten wird das niemand überleben.« Sie zupfte an ihrem Gewand. »Was glaubt Ihr, warum die Spitze der Nadel so weit über die Grube hinausragt? Entfesseln wir dort oben eine Schockwelle, dann ist das nur übel für den Magier, dem dieser Fehler unterlief. Hier unten hingegen …«
»Weiß der Obrist davon?«, wollte Gunter wissen.
»Es gibt Leute in dieser Stadt, denen würde es sehr zupass kommen, wenn der gute Ruf der Nadel Schaden nähme.«
»Also weiß er es nicht«, folgerte Gunter.
Nasiima machte eine wedelnde Handbewegung. »Es ist noch zu früh dafür, ihn in Kenntnis zu setzen. Dies ist Eure Stunde, Vetter. Findet dieses Gör und die Kette! Ihr werdet Euch damit Freunde in hohen Positionen machen. Freunde, die Ihr eines Tages ganz sicher brauchen werdet.«
Was soll das denn schon wieder heißen?, dachte er verärgert.
»Die paar Toten hier unten sind nicht das eigentliche Problem«, sagte sie.
»Wenn ich Euch recht verstanden habe, Base, wisst Ihr nichts über die Wirkkraft des Artefakts, richtig? Es könnte genauso gut sein, dass es Lavendelduft herbeizaubert.«
»Ja …« Ihre Blicke waren wie Dolche. »Das mag sein. Aber alle Anzeichen deuten in eine andere Richtung. Es gibt eine Inschrift auf der Kette, die womöglich Folgendes bedeutet: Die Macht der Sterne sichtbar machen. Klingt das für Euch nach Lavendelduft?«
Ein Schauer überlief Gunter. Sterne … Von ihnen war nichts Gutes zu erwarten. Aber vielleicht würden ja endlich mehr Leute seine Sorgen teilen, wenn diese verdammte Kette die Macht der Sterne am Nachthimmel sichtbar machte. Bei Nasiima würde das vermutlich nicht helfen, sondern nur Begehrlichkeiten wecken, sich diese Macht zunutze zu machen. Wie sie schon über Magie sprach … Und der Vergleich mit dem Lavendelduft … Er hatte auf dem Schlachtfeld gesehen, wie Krieger von Schockwellen in ihren Rüstungen zerquetscht worden waren. Er war sich der Gefahr bewusst, die von fehlgeleiteten Zaubern ausging. Er hatte nur keine Lust, sich von Nasiima auf der Nase herumtanzen zu lassen. Er war der Hauptmann im Schlammring! Seine Base mochte wissen, wie man bei Hof Intrigen spann, aber hier galten andere Regeln. Und die kannte er mit Sicherheit besser als sie. »Ich habe da einen Spitzel, der auf alle krummen Dinge in der Stadt ein Auge hat. Er wird mir helfen, Kröte zu finden.«
»Sehr gut. Führt mich zu ihm, dann werde ich –«
»Ihr dürft gehen«, entschied Gunter. Das fehlte noch, dass sie sich seines Spitzelnetzwerks bemächtigte!
»Aber doch nicht einfach so!«, empörte sie sich.
Einen Herzschlag lang hatte Gunter das Gefühl, dass es zu einem handfesten Streit kommen würde, doch dann nickte Nasiima.
»Ich bin müde«, bekannte sie. »Ihr werdet Euren Spitzel aufsuchen, diese Kröte aufspüren und mir die Kette bringen.« Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag. »Aber da gibt es noch ein Ungemach. Ich muss durch den halben Schlammring, bevor ich die Bresche erreiche. Das ist kein Ort, an dem eine Dame von Stand ohne Schutz sein sollte.«
So, wie er Nasiima einschätzte, würde jeder Kerl, der ihr zu nahe kam, es bitter bereuen. Sie war absolut in der Lage, sich ihrer Haut zu erwehren, hatte sie doch kurz zuvor eigenhändig einen Teil der Diebesgilde ins Jenseits befördert.
»Den dort hinten … Den blonden Hünen. Der soll mich als Leibwächter bis zum Palast eskortieren.«
»Rutger?«, fragte Gunter bestürzt.
»Genau den«, sagte sie entschieden. »Den Kerl brauche ich. Er hat mich in der Nacht bereits beschützt.«
»Der ist wirklich keine gute Wahl.« Gunter schüttelte den Kopf. »Ich ziehe Klas von seiner Arbeit ab –«
»Diesen will ich!«, insistierte Nasiima. »Der ist bereits gebändigt. Ich glaube, er trägt ein Pferdeherz in seiner Brust. Er hat meinem Zauber länger widerstanden als alle, die das Pech hatten, ihn in seiner vollen Macht zu spüren zu bekommen.«
»Der mag keine Adeligen«, raunte ihr Gunter warnend zu.
»Und ich mag keine Straßenköter, aber der ist mir zumindest bekannt, und ich weiß ihn zu nehmen.«
Wenn sie sich unbedingt unglücklich machen will … Am helllichten Tag würde ihr Rutger schon nichts anderes antun, als sie mit seiner Aufsässigkeit zu quälen. »Eure Wünsche sind mir Befehl, werte Base.«
Gunter verließ den Schutz des Zeltes und ging zurück zum Leichenfeld. Rutger drosch so wütend mit seiner Spitzhacke auf den Schlamm ein, als wolle er das Erdreich selbst erschlagen.
»Doppelsöldner!«, rief Gunter. »Die Dame Nasiima benötigt eine Eskorte zum Palast. Bring sie nach Hause!«
Rutger blickte auf seine Spitzhacke, die im Schlamm steckte. »Ich glaub, ich hab was getroffen.«
»Nicht schon wieder.« Genoveva stöhnte, kam von der Plane mit den Leichen herbeigeeilt, schob den Krieger zur Seite und wand ihm den Schaft der Hacke aus der Hand. Sie ruckte vorsichtig daran und seufzte. »Schaufeln!«, rief sie. »Wir haben noch einen Toten.«
»Ich hab halt Schädelspalten gelernt und nicht buddeln«, sagte Rutger ohne die geringste Reue. Er blickte über Gunter hinweg und grinste plötzlich gut gelaunt. Vermutlich weidete er sich an Nasiimas Anblick. »Das Backenbärtchen kommt, Hauptmann. Und er sieht gar nicht lustig aus. Der wird Euch ganz sicher anscheißen.«
»Mach dich davon, bevor ich dich für dein freches Mundwerk zwei, drei Tage in den Bau stecke.«
»In einer trockenen Zelle zu sitzen, statt bei Regen im Schlamm zu buddeln?« In aufgesetzter Nachdenklichkeit strich sich Rutger über das Kinn. »Das klingt eher verlockend als bedrohlich.«
»Mir wird etwas einfallen, um den Aufenthalt unerfreulich für dich zu gestalten, Rutger. Gehorche!«
Langsam setzte sich der Hüne in Bewegung.
»Hauptmann Gunter!«, polterte Obrist von Bliesenberg los, der Nasiima im Vorübergehen kurz zunickte, sich aber nicht mit weiteren Höflichkeiten aufhielt. »Warum ist es immer der Schlammring? Habt Ihr die verdammten Schlammkriecher hier unten denn so gar nicht im Griff? Dutzende Tote? Wie kann das sein?«
»Das hier ist die siebzehnte Leiche«, sagte Genoveva leise und deutete auf die Spitzhacke, die noch im Schlamm steckte. »Noch sind es nicht ›Dutzende‹.«
Der Obrist bedachte sie mit einem Blick, der eine lange Vorgeschichte zwischen ihnen erahnen ließ. »Zeigt mir die Toten!«, forderte er dann unwirsch.
Gunter führte ihn zwischen den Abraumhügeln hindurch zu der Plane. Klas und Mertlin hatten gerade einmal drei Pfähle ins Erdreich gerammt. Dafür waren noch fünf Tote hinzugekommen.
»Übel«, schnarrte der Obrist und strich sich über den Backenbart. »Verdammt übel.« Er sah sich den nackten Glatzkopf näher an. »Dem wächst es ja sogar aus dem Arsch. Was ist das? Eine Mohnblüte?«
»Es wächst aus allen Körperöffnungen.« Gunter hoffte, den Obristen mit Sachlichkeit zu beruhigen. Verblüfft bemerkte er die kleine rote Blüte auf einem der dünnen Stängel, die dem Toten aus dem Rektum wucherten. Die war eben noch nicht da gewesen. Oder hatte er nicht genau genug hingesehen?
»Rumdrehen!« Der Obrist winkte Klas und deutete auf den Glatzkopf. »Rumdrehen. Sofort!«
Was wird das denn schon wieder?
Klas war schlau genug, keine Fragen zu stellen, und drehte den Toten auf den Rücken. Ein kantiges, verbittert wirkendes Gesicht starrte mit leblosen Augen zum Himmel hinauf.
»Das ist Cuno. Cuno Sachtleben! Viele Jahre Hauptmann des Kupferrings. Wir haben uns eine Zeitlang den weißen Umhang geteilt …« Der Obrist schüttelte den Kopf. »Sie haben ihm beim Bierhumpenaufstand das Knie eingeschlagen. Danach ging es bergab. Cuno war fürs Kämpfen gemacht. Ein hinkender Krüppel zu sein … Das hat ihn zugrunde gerichtet. Er hat zu viel getrunken … Und dann haben ihm die Schnösel vom Rat seinen Rang abgenommen. Verdammte Sesselfurzer. Und jetzt das … Das hat er nicht verdient. Nackt im Schlamm verscharrt mit einer Blume im Arsch.« Obrist von Bliesenberg ballte die Hände zu Fäusten. Er zitterte am ganzen Leib vor Wut. »Erklärungen, Hauptmann. Ich will Erklärungen. Sofort!«
»Wir haben nur Theorien«, entgegnete Gunter widerstrebend.
»Raus damit!«, fuhr der Obrist ihn an.
»Es sieht so aus, als ob alle Toten an einem Gebrechen gelitten hätten. Einer Krankheit, einer frischen Verletzung …«
»Ein eingeschlagenes Knie wie bei Cuno. Weiter, Hauptmann, das hört sich vielversprechend an.«
»Womöglich haben sie alle einen Unheiler besucht, und das Pflanzenwachstum ist ein Unfall, der bei einigen Heilungen geschieht. Aber das ist nur eine These …«
»Besser als nichts.« Obrist von Bliesenberg zitterte noch immer. Unverwandt blickte er auf den Toten, der einst sein Kampfgefährte gewesen war. »Unheiler. Wie dieser Rami im Kerker? Ich werde mir den Kerl noch einmal vornehmen. Der kleine Drecksack kann Cuno dieses Unheil nicht alleine angetan haben.«
»Ich glaube nicht, dass der etwas mit den Toten hier zu tun hat«, entgegnete Gunter.
»Er ist ein Unheiler, er wird den Kerl kennen, der hinter den Morden steckt. Vielleicht war er es sogar selbst? Ich werde es aus ihm herausholen!«
»Wäre es nicht klüger, aus ihm einen unserer Spitzel zu machen? Bitte geht ihn nicht zu hart an. Er könnte hilfreich sein. Ich werde heute noch einen anderen wertvollen Spitzel rekrutieren und –«
»Spitzel«, schnaubte der Obrist verächtlich. »Wir brauchen keine Gerüchte, kein zauderliches Gerede. Es ist die Zeit für Taten gekommen! Morgen Abend, Hauptmann. Morgen Abend liefert Ihr mir den verdammten Mistkerl, der das hier getan hat, und ich werde ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen.« Von Bliesenbergs Schweinsäuglein funkelten vor Zorn. »Und wenn Ihr ihn mir nicht bringt, dann werde ich Euch zeigen, wie man einen verdammten Mörder aufscheucht, und wenn ich dafür die ganze Stadt auf links drehen muss. Ich werde den Drecksack finden, der das hier getan hat. Und als Erstes werde ich den verdammten Aschlingen den Himmel über dem Kopf zusammenbrechen lassen. Die stecken immer alle unter einer Decke, dieses grauhäutige Gewürm. Ich wittere da eine ganz große Intrige, Hauptmann. Und ich werde sie offenlegen, das schwöre ich. Keiner von denen wird mir entgehen, und sie werden reden, wenn sie erst einmal im Kerker sind. Sie werden uns so viele Namen nennen, dass wir nicht genug Schildwachen haben, sie alle zu holen.«