71. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel
»Ich sehe die Käfer! Die Käfer ich seh!«
In manchen Stunden glaubte Rami, der Gefangene in der Zelle nebenan sei bereits die erste von vielen Foltermethoden, denen er ausgesetzt werden würde. Wer auch immer der Mann war – die nackte Angst schien seinen Geist entrückt zu haben. Denn alles, was diese bedauernswerte Kreatur noch von sich geben konnte, war jener eine Satz, den er ständig wiederholte, erst vorwärts, dann rückwärts.
»Ich sehe die Käfer! Die Käfer ich seh!«
Zuweilen unterlag Rami der Versuchung, Reime dazu zu erfinden, was sein Dahinvegetieren im Kerker auf irre Weise erträglicher machte.
Wohin ich auch renne, wohin ich auch geh.
Und sie beißen ganz schrecklich, o weh, o weh!
Da drüben, im Schatten, ein brennendes Reh!
Dabei versuchte er, sich vorzustellen, wie der lamentierende Kerl wohl aussah, der dort hinter der feuchten Mauer saß. Gewiss trug er zerrissene Schlammkriecherkleidung, das fettige Haar hing ihm strähnig in die Stirn, und er schlug seinen Kopf im Rhythmus seines Singsangs gegen die Wand. Ja, Rami Verglimm hatte schon immer zu viel Phantasie für einen Aschling gehabt, und genau deshalb saß er nun auch in einem Verlies der Gelben Burg, anstatt es sich mit einer anständigen Braut in einem kleinen Häuschen auf dem Staubring gemütlich zu machen. Wieso nur hatte er dem Ruf dieses unheilvollen Facetts nachgegeben und damit versucht, das Leid der Bewohner von Grubenstedt zu lindern? All sein Streben nach Heilung und Wissen wurde ihm letztendlich mit einem Strick um den Hals vergolten – und das auch nur im besten Fall. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass man ihm sämtliche Knochen brach und seine Gliedmaßen durch die Streben eines Rades flocht, das so lange auf dem Marktplatz ausgestellt wurde, bis er nach Stunden oder Tagen seinen Schmerzen erlag.
»Ich sehe die Käfer! Die Käfer ich seh!«
Im Osten, in Xafror, da wächst grüner Klee.
Wahrlich, er war nahe daran, selbst verrückt zu werden! Wie lange er schon in dieser düsteren Zelle saß, wusste Rami nicht. Doch so schlimm die einsamen Stunden mit dem dauerhaften Käfergeschwätz auch waren, noch viel mehr graute ihm vor dem Moment, in dem sich die Tür seines Verlieses wieder öffnen würde. Denn dann stand garantiert ein Henker oder Folterknecht auf der Schwelle. Seit der Obrist die Zelle mit der unheilvollen Ankündigung eines weiteren Verhörs verlassen hatte, war nichts mehr geschehen. Nur einmal hatte eine schwielige Hand die Klappe im unteren Teil der Tür geöffnet und einen Teller mit stinkendem Brei hindurchgeschoben, auf dessen Rändern die verkrusteten Überreste früherer Mahlzeiten hingen. Der Hunger quälte Rami noch nicht stark genug, um davon zu essen, also überließ er den Brei der Ratte, mit der er sich seine Bleibe teilte. Er hatte sie Ronger getauft, was auf Altaschlig so viel wie »Beißer« hieß. Der Name war mehr als passend, denn das Mistvieh nutzte jedes noch so kurze Nickerchen seines Zellenkumpans, um die spitzen Zähne in Ramis Beine oder Arme zu vergraben.
Viel dringender als Essen hätte Rami ohnehin einen Schluck Wasser gebraucht, denn die Zunge klebte ihm vor Durst am Gaumen. Die Tatsache, dass niemand ihm auch nur einen Tropfen zugestand, ließ ihn vermuten, dass auch dies ein Teil seiner Folter war.
»Ich hätte jetzt gerne ein Kännchen voll Tee!«, murmelte er.
»Ich sehe die Käfer, die Käfer ich seh!«, scholl die poetische Antwort des Unbekannten von nebenan durch die Stille.
Es kommt noch so weit, dass ich jamm’re und fleh …
Rami schlug die Hände vors Gesicht.
Mitten in seinen beginnenden Irrsinn hinein ertönte das Knarzen des Riegels an der Tür. Panisch krabbelte er bis in die hinterste Ecke des Verlieses, in die leider auch Ronger flüchtete. Gleichzeitig kamen sie dort an, was Rami einen Biss in die Wade einbrachte, bevor er den Nager mit einem gezielten Tritt an die gegenüberliegende Wand beförderte.
Im tanzenden Licht zweier Fackeln kamen drei schwarze Silhouetten in den Raum, deren Umrisse klarmachten, um wen es sich handelte: den dicken Obristen, den Hauptmann mit seinen wallenden Locken und – diese letzte Person war eher am Geruch zu erkennen – Handlanger Stinkmaul.
Ramis Augen hatten sich noch nicht an das Licht gewöhnt, da kam Letzterer auch schon auf ihn zu, packte ihn grob an den Armen und schleifte ihn zu dem Eisenring, der für Aschlinge viel zu hoch an der Wand des Verlieses angebracht war. Ketten klirrten, und Rami merkte schnell, dass es in den Gewölben der Gelben Burg eben doch passende Fesseln für seinesgleichen gab, denn die Schellen, die sich diesmal um seine Handgelenke schlossen, saßen unverrückbar fest.
Mit erhobenen Schultern und zu Fäusten geballten Händen polterte der Umriss des Obristen auf ihn zu. Der Dunst von schwerem Rotwein umgab ihn. »Rede, du grauer Lügenbeutel! Wer steckt in deinem verfluchten Unheilerkomplott mit drin?«
»Was für ein Komplott? Wovon sprecht Ihr?«, stammelte Rami, halb gelähmt vor Furcht.
Von Bliesenberg knirschte mit den Zähnen. Seine rechte Hand schoss vor und legte sich um den Hals des Aschlings. »Die Morde! All diese toten Menschen! Schlammkriecher, Grauhändler und Bettler die meisten. Aber einige davon hättet ihr besser am Leben gelassen, allen voran den ehrenhaften Cuno Sachtleben, mit dem ich mir einst den weißen Umhang der Palastwache teilte!«
»Ich … weiß nicht, wovon Ihr sprecht!«
»Rede, sage ich!« Die würgenden Finger schlossen sich fester um Ramis Hals.
Er röchelte nach Luft. »Ich … habe … niemanden … getötet!«
»Ja, ganz sicher hast du das nicht allein bewerkstelligt! Auch eine Ratte tötet nicht durch einen einzigen Biss. Doch wenn eine ganze Sippe über einen Menschen herfällt, dann ist sein Leben verwirkt. Ihr Aschlinge seid nichts anderes als Schädlinge, die es zu bekämpfen gilt, denn ihr wollt uns ausrotten, das wusste ich schon immer! Und mit dir haben sie jetzt einen Unheiler gefunden, der ihr grausames Vorhaben in die Wege leitet.« Die unsagbare Wut, die dem Obristen innewohnte, sprühte in Form von Speichelfetzen aus seinem Mund. Blutunterlaufen glitzerten seine Augen. Von dem feisten Onkel mit dem Backenbart war nichts mehr übrig.
Hoffnungslosigkeit brach über Rami herein.
Mit einem Schnauben ließ von Bliesenberg ihn los und gab Handlanger Stinkmaul einen Wink. Rami konnte nun wieder gut genug sehen, um zu erkennen, dass dieser ein Sammelsurium an Folterinstrumenten in Lederlaschen an seinem Gürtel trug. Zangen, Sägen und kleine Messer, eine Spreizbirne und einen Metallstab, der wie eine lange Stricknadel aussah.
»Da guckst du, was?« Grinsend kam der Kerl auf ihn zu und ließ eine Hand über seine Utensilien gleiten, als sei er noch nicht sicher, welche Qual er seinem hilflosen Opfer als Erstes angedeihen lassen wollte.
»Ich würde Euch alles sagen, wenn es denn etwas zu sagen gäbe!«, versicherte Rami.
»Dann fang mit deinen Komplizen an. Welche anderen Aschlinge haben sich mit dir gegen die Stadt verschworen?«, wollte der Obrist wissen.
»Keiner! Es gibt keine Verschwörung.«
»Auch keine anderen Unheiler?«
Rami schwieg. Sein alter Freund Teflin kam ihm in den Sinn, doch er war nicht einmal sicher, ob der wirklich Unheilerei betrieb, und falls ja, so hatte er garantiert keine Morde begangen. Jetzt seinen Namen zu nennen, würde vielleicht bedeuten, die Folter um weitere ein oder zwei Tage aufzuschieben. Wahrscheinlich aber reichte von Bliesenberg ein einzelner neuer Verdächtiger nicht. Er würde immer mehr Namen nennen müssen, und jeder einzelne davon wäre eine Lüge.
Er warf einen Hilfe suchenden Blick zum Hauptmann der Schildwache, der bislang kein Wort gesagt hatte. »Seid Ihr auch der Meinung, die Aschlinge würden Menschen ermorden, um die Stadt zu stürzen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete vom Adlerstein. »Sicher ist, dass ein Unheiler in Grubenstedt sein Unwesen treibt. Er wendet seine Zauberkraft so häufig an, dass der Schutzschild sich aufzulösen droht. Und einige seiner Siechen sterben eines sehr seltsamen Todes.«
»Seltsam?«, zischte der Obrist. »Was für eine Untertreibung! Das letzte Mal, als ich meinen alten Freund Cuno gesehen habe, wirkte er völlig gesund – bis auf das kaputte Knie natürlich. Eine Kampfverletzung, die ihn vom Kommandanten des Kupferrings zu einem mittellosen Veteranen gemacht hat. Nichtsdestoweniger war er ein Mann in seinen besten Jahren, der vielleicht – nur vielleicht – den Gang zum Unheiler als letzte Möglichkeit gesehen hat, um seine alte Stellung wiederzuerlangen. Und nun liegt er grau und steif auf einer Totenbahre, während ihm Mohnblumen aus allen Körperöffnungen wachsen. Aus allen, verstehst du, Aschling?« Erneut verzerrte sich von Bliesenbergs Gesicht vor Zorn.
»Das ist wahrhaftig bizarr«, murmelte Rami. »Vielleicht …« Schnell schloss er den Mund, um nicht zu viel zu sagen.
»Vielleicht was?«, hakte vom Adlerstein nach.
Rami steckte in der Klemme. Er hatte in der Tat eine Idee, welcher Umstand einem so außergewöhnlichen Phänomen zugrunde liegen könnte. Doch wenn er seine Gedanken dazu laut aussprach, verriet er, dass er selbst ein Unheiler war. Noch brannte der Überlebenswille in ihm heiß genug, um diese todbringende Tatsache geheim zu halten.
»Du wirst uns jetzt alles sagen, was du weißt!«, keifte von Bliesenberg. »Namen von weiteren Unheilern, aufständischen Aschlingen, menschlichen Helfershelfern.«
Rami brauchte sich nichts vorzumachen: Es gab kein Entrinnen für ihn. Aber ein letztes Mal wollte er noch versuchen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Unter Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung holte er tief Luft, befahl seinen Beinen, mit dem Zittern aufzuhören, und sah dem Obristen direkt in die Augen. »Flackert der Schild immer noch? Dann kann ich nichts damit zu tun haben, denn ich sitze hier fest, während der wahre Schuldige weiterhin sein Unwesen treibt. Vielleicht kann ich Euch helfen, den Fall aufzuklären. Lasst mich frei und zeigt mir Eure Leichen.«
Von Bliesenberg starrte ihn an. Eines seiner Augenlider zuckte, und an seinem dicken Hals pochte eine Ader so stark, als wollte sie explodieren. Dann drehte er sich wortlos weg und wies Stinkmaul an, mit der hochnotpeinlichen Befragung zu beginnen.
Der Handlanger zog den stricknadelähnlichen Spieß aus seinem Gürtel und hielt ihn in die Flammen seiner Fackel. Ramis Augen folgten panisch jeder Bewegung.
»Wieso willst du die Leichen sehen? Was versprichst du dir davon?«, wehte die Stimme des Hauptmanns an sein Ohr.
»W… weil ich ein Heiler bin, der die Zusammenhänge der Natur und all ihrer Substanzen erforscht. Vielleicht löse ich das Rätsel dieser Pflanzen.«
Der Kommandant sah nicht sonderlich interessiert aus. »Das ist alles? Meine Trabantin hat das gleiche Wissen. Außerdem stehen mir erfahrene Magier zur Seite. Was brauche ich da noch einen Aschling, der willkürlich mit verbotenen Substanzen experimentiert?«
»W… weil …« Weil die alle keine Unheiler sind und sich deshalb nicht mit den Möglichkeiten und Gefahren dieser Kunst auskennen! »Weil ich Pflanzen erforsche!«
Vom Adlerstein verdrehte die Augen. »Das reicht mir nicht.«
Stinkmaul zog wieder die Aufmerksamkeit aller auf sich, denn er nahm die rot glühende Nadel aus dem Feuer und kam damit auf Rami zu, ein gieriges Funkeln in den Augen.
»Ich bohre jetzt ein Loch in dich, Kleiner!«, verkündete er freudig. Sein Blick schweifte über den schmächtigen Leib seines Opfers. Er zog Ramis Kutte ein Stück nach oben, rümpfte beim Blick auf dessen dürre Beine die Nase und entschied sich dann für einen weiter oben liegenden Körperteil. »Diese komischen spitzen Ohren … Die können weg!«
Rami schloss die Augen. An seiner linken Wange spürte er die Hitze, die von dem glühenden Metall ausging.
»Ich sag es noch einmal: Gib auf und gesteh!«, forderte der Obrist.
»Ich sehe die Käfer, die Käfer ich seh!«, erscholl die verrückte Stimme im Crescendo durch die Wand.
Rami wollte seinen Kopf wegdrehen, doch Stinkmaul ergriff sein Kinn und hielt es fest wie ein Schraubstock.
Er presste die Lippen aufeinander, um nicht zu jammern.
Als Erstes hörte er das Zischen des Folterwerkzeugs. Der Gestank von verbranntem Fleisch stieg in seine Nase. Dann erst drang der stechende Schmerz in sein Bewusstsein vor. Es war nur ein einzelner Spieß, doch das Loch, das er in Ramis Ohr brannte, fühlte sich an wie ein Krater aus purem Feuer. Er schrie.
Selbst der Wahnsinnige im Verlies nebenan schien die Schwingungen von Qual und Furcht durch die Ritzen des feuchten Mauerwerks hindurch zu spüren.
»Käfer! Käfer! Käfer! Käfer!«
»Stopft diesem verdammten Irren endlich den Mund!«, brüllte der Obrist.
Stinkmaul zog sein Folterwerkzeug zurück.
Rami hätte gern nachgefühlt, ob er noch ein linkes Ohr besaß, und wenn ja, wie groß das Loch war, das sich nun darin befand, doch seine über dem Kopf gefesselten Hände ließen das nicht zu. Sein Blick traf den des Hauptmanns. Ganz offensichtlich empfand vom Adlerstein keine Freude an Folter, vielleicht war sie ihm sogar zuwider, denn seine Brauen waren tief gesenkt und die Stirn von Falten überzogen.
Bitte! Tu doch was! Du bist der Einzige, der das hier beenden kann. Ich weiß, dass du zweifelst!, flehte Rami in Gedanken.
»Gestehst du jetzt?«, fragte der Obrist. »Wer sind deine Komplizen?«
Noch ehe Rami in die Verlegenheit einer Antwort kam, flog die Tür auf, und die Gehilfin des Schlammwachen-Hauptmanns polterte herein. Sie atmete heftig, als wäre sie den ganzen Weg hierher gerannt.
»Genoveva … was ist geschehen?«, fragte vom Adlerstein.
»Die Pflanzen in den Toten …« Sie stützte ihre Hände auf die Oberschenkel, um besser Luft zu bekommen. Kurz streifte ihr Blick den Obristen, woraufhin sie ihren Rücken noch krummer machte, um eine misslungene Verbeugung anzudeuten. »…sie bekommen jedes Mal einen Wachstumsschub, wenn der Schild flackert!«
»Alle?«, fragte von Bliesenberg angewidert. »Auch der Mohn aus Cunos Allerwertestem?«
Genoveva nickte.
»Das bedeutet, jede weitere Unheilung facht die Fäulnis, die Grubenstedt befallen hat, noch weiter an«, sinnierte vom Adlerstein.
»Ja«, sagte die Trabantin. »Wenn es weiterhin so viele Unheilungen wie in den letzten Tagen gibt, bleibt uns nicht mehr viel Zeit, bis der Schild in sich zusammenfällt.«
Für einen Moment war es still im Verlies. Selbst der Käfermann nebenan schwieg, nur Rongers Rascheln im Stroh drang an Ramis gequältes Ohr.
Schließlich stieß der Hauptmann ein lautes Seufzen aus und wandte sich an seinen Obristen. »Ich glaube, der Aschling ist nicht der einzige Übeltäter in dieser Sache. Während er hier gefangen saß, flackerte der Schild mehrfach. Deshalb schlage ich vor, ihn als Spitzel einzusetzen und vielleicht sogar seinen Rat anzuhören.«
»Seinen Rat anhören?«, fuhr von Bliesenberg auf. »Also bitte … Über freundliche Plaudereien sind wir längst hinaus. Keine Stunde mehr, und er wird uns alles erzählen, was wir wissen wollen!«
»Vielleicht kann er uns auf andere Weise helfen. Mir scheint, Genoveva könnte ihn bei ihren Untersuchungen brauchen.«
»Ihr wollt einen Unheiler freilassen, damit er sein grausames Spiel ungehindert weiterführen kann?« Die Unterlippe des Obristen bebte so sehr, dass seine bärtigen Wangen zitterten.
»Ich will ihn nicht freilassen, nur auf andere Art einsetzen. In gewisser Weise ein neuer Ansatz des Verhörs.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Von Bliesenberg nickte seinem Handlanger zu. »Weitermachen! So lange, bis diese bösartige Kreatur den Mund auftut!«
Mit einem hämischen Grinsen fummelte Stinkmaul an seinem Foltergürtel herum und zog ein Messer hervor. »Schneiden wir die Ohrspitze ab. Oder noch besser: das ganze Ohr. Das wird ihn gewiss zum Reden bringen.«
Allein die Erwähnung genügte, um Ramis Knie so weich wie Pudding werden zu lassen.
Großer Zünder, warum tust du mir das an? Ich schwöre, dass ich nie mehr Felsensalz von deinen Füßen kratze, wenn du mir jetzt hilfst!
Der widerwärtige Folterknecht kam auf ihn zu. Eine abnorme Form von Befriedigung stand in seiner Miene, während er beinahe zärtlich mit einem Daumen über die Klinge seines Messers strich.
»Bitte … wir Aschlinge sind ein fügsames Volk. Es gibt keine Aufrührer unter uns!«
»Ein paar gibt es immer. Irgendjemand wird uns weiterhelfen können«, sagte vom Adlerstein. Dabei lag etwas Verschwörerisches in seiner Stimme, so als wollte er Rami helfen, aus seiner ausweglosen Lage zu entkommen. Aber wie?
Rami überlegte, so gut es ihm trotz der lähmenden Angst möglich war. Vielleicht ging es hier wirklich nur um Zeit. Er musste Zeit schinden, um den Obristen und seinen grausamen Folterknecht erst einmal loszuwerden. Vielleicht ergab sich anschließend eine Möglichkeit, weiteren Quälereien zu entkommen.
Stinkmauls gezücktes Messer näherte sich seinem Ohr.
»Ronger!«, rief er. »Er hat ein Facett und steht im Verdacht, ein Unheiler zu sein. Fragt ihn!«
»Gut!«, sagte vom Adlerstein, noch ehe der Obrist etwas von sich geben konnte. »Wo finden wir diesen Ronger?«
Ramis Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er musste schnellstmöglich einen Ort erfinden, der ebenso wenig existierte wie ein Aschling namens Ronger, aber die Schildwache möglichst lange beschäftigen würde.
»Er hat keine feste Bleibe. Aber es heißt, er treibt sich gerne in den Katakomben unter dem Tempel herum. Fragt nach der grauen Ratte, das ist sein Geheimname.«
Vom Adlerstein zeigte sich erfreut. Er rieb die Handflächen gegeneinander, um Genugtuung zu demonstrieren, und hieb dem Obristen kumpelhaft auf die Schulter. »Wir haben unseren nächsten Verdächtigen.«
»Hmm«, brummte von Bliesenberg. »Was, wenn der Aschling nur Zeit schinden will?«
»Er weiß, dass seine Bestrafung dann beim nächsten Mal nur umso schlimmer wäre.«
Diese Ankündigung behagte Rami ganz und gar nicht. Doch nun blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als darauf zu vertrauen, dass der Schlammwachen-Hauptmann irgendeinen Plan in der Hinterhand hatte.
Mit sichtbarem Unwillen gab der Obrist nach. »Nun gut. Wir werden sehen, was dieser Ronger zu sagen hat. Und wenn wir ihn nicht bis Sonnenuntergang finden, nehmen wir das ganze Kehrichtviertel auseinander. Irgendwo unter diesen Kanalratten muss sich derjenige verstecken, der die Leute auf dem Gewissen hat.«
Rami verstand nicht, wieso die menschlichen Bewohner Grubenstedts immer sofort die Aschlinge in Verdacht hatten, sobald es Probleme gab. Ein vermehrter Läusebefall im Bronzering? Den hatten bestimmt die kleinen grauen Diener ausgelöst. Ein ungewöhnlicher Anstieg der Holzpreise? Musste mit der immensen Aschenachfrage des Tempels im Kehrichtviertel zusammenhängen. Zu viele Einstürze in den Minenschächten – nun ja, auch hier fand sich gewiss irgendein Grund, den Rami und seinesgleichen zu verschulden hatten. Menschen wie von Bliesenberg, deren alltägliche Probleme einzig darin bestanden, dass der gute Sommerwein aus Evenbor in den Wintermonden nicht lieferbar war, sahen in der Minderheit des kleinen Volkes stets nur das Fremde, Beängstigende, obgleich kaum ein Aschling sich je eines erwähnenswerten Verbrechens schuldig gemacht hatte. Ganz im Gegenteil: Die meisten duckten sich in einer dauerhaften Demutsstellung durchs Leben und hofften, dabei niemandem aufzufallen. Vielleicht war gerade das das Problem: Insgeheim wussten die Menschen alle, dass sie ihre Diener unterdrückten, und rechneten daher ständig damit, dass eines Tages ein Widerstandskämpfer auftauchen würde, der die jahrelange Missachtung der Aschlinge rächte. Daher war der Gedanke eines Komplotts der Aschlinge, den der Obrist spann, aus seiner Sicht gar nicht so weit hergeholt.
»Wir kümmern uns darum«, versprach vom Adlerstein.
Der Obrist zeigte sein Einverständnis durch ein militärisch knappes Nicken. Handlanger Stinkmaul hingegen sah enttäuscht darüber aus, dass er nun doch kein Aschlingsohr kupieren durfte. Stattdessen musste er Ramis Handschellen aufschließen, was ihm eindeutig weniger Freude bereitete.
Mit einem schmerzhaften Prickeln schoss das Blut zurück in Ramis Hände. Er rieb sie, bis er die einzelnen Finger wieder spüren konnte. Der armselige Wunsch, mit seiner Ratte und dem Käfermann allein gelassen zu werden, überkam ihn.
Die Besucher taten ihm den Gefallen.
»Genoveva, zeigt mir zuerst den Zustand der Pflanzen in den Toten«, hörte er vom Adlerstein noch sagen, während die Gruppe die Zelle verließ.
Mit dem Verschwinden von Stinkmauls Fackel, als sich die Kerkertür schloss, fiel beruhigende Dunkelheit über Rami. Er tastete sein geschundenes Ohr ab und stellte fest, dass sich ein schmerzhaftes, aber glücklicherweise nicht allzu großes Loch in der Spitze befand. Trotzdem würde jeder Aschling daran sofort erkennen, dass er sich mit der Schildwache angelegt hatte. Wenn er so weitermachte, würde er nie mehr eine Frau finden!
Aus der gegenüberliegenden Ecke ertönte ein aufmunterndes Quietschen.
»Wenigstens du fühlst mit mir«, flüsterte Rami seinem neuen Freund Ronger zu.
»Ich sehe die Käfer, die Käfer ich seh!«, raunte der Verrückte von nebenan.
»Und ich meine Zukunft, oje, oje!«, flüsterte Rami in die Finsternis.