72. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel
Ein höfliches, aber beständiges Klopfen an ihrer Tür veranlasste Nasiima dazu, sich mit einem ungnädigen Laut aufzusetzen. »Ich sagte vor dem Zubettgehen, dass ich nicht geweckt werden möchte.« Sie war selbst überrascht ob der Schärfe in ihrer Stimme. Mutter wäre über den Klang solch absoluter Autorität entzückt gewesen.
»Es … es ist Hauptmann Opundelus von der Palastwache, Herrin«, erklang eine verschüchterte Stimme durch das dicke Holz.
Nasiima stöhnte. Was will der Herr der Spiegelhelme denn hier?
»Schick ihn fort!«, befahl sie der Dienerin ungnädig. Ein schneller Blick auf die zugezogenen Vorhänge ihres Gemachs: Die Sonne drang noch nicht mal durch die Spalten zwischen den schweren Stoffbahnen. »Er soll am Mittag wiederkommen.«
»Das hat ihm Eure Mutter bereits mitgeteilt, Herrin«, kam die Erwiderung. »Er blieb von dieser Aufforderung unbeeindruckt.«
Nasiima seufzte. Opundelus war eine Ausgeburt an überkorrektem Takt, penibler Etikette und eisernem Pflichtbewusstsein – und als Mensch in etwa so interessant, wie diese Mischung aus Charaktereigenschaften vermuten ließ. Eine edle Dame am Morgen aus dem Bett zu reißen, bedeutete, dass die beiden ersten Wesenszüge des Hauptmanns von dessen drittem besiegt worden waren. Das roch nach Ärger. Und sie hasste Ärger, den sie nicht selbst verursachte.
»Sag ihm, ich empfange ihn gleich im kleinen Gästesaal«, schnarrte sie. »Und mach ihm klar, dass er sich gedulden muss, bis ich vorzeigbar bin.« Ein leises Wimmern und das nervöse Fußscharren vor der Tür ließen Nasiima erneut aufseufzen. »Was denn noch?«
»Ihr sollt Euch für einen Ausritt bereit machen, Herrin«, raunte die Dienerin und klang, als würde sie sich gleich vor lauter Verzweiflung in den Facettring stürzen.
Nasiimas Unruhe wuchs, und sie unterdrückte ein Zittern ihrer Hände. Sie wusste, was ein Ausritt mit Opundelus bedeutete. Offensichtlich würde sie am heutigen Tag die Totenrede verwenden müssen.
»Edle Herrin Feehlenwerk, Ihr seht wie stets makellos aus.« Welche Schwächen Hauptmann Opundelus auch immer besitzen mochte, seine Kunst höfischer Schmeichelei war jedenfalls formvollendet. Der in eine blank polierte Plattenrüstung gehüllte Mann kniete sogar vor ihr nieder und neigte sein Haupt, so dass sein sorgfältig frisiertes blondes Haar ihm verspielt in die Stirn fiel. Eine Hand hielt seinen mit einem üppigen Federbusch geschmückten Helm, die andere hatte er sich fest gegen die Brust gedrückt. »Es ist meine vornehme Pflicht, Euch ob Eurer großartigen Gabe ein weiteres Mal in die Gefilde jenseits unserer schönen Stadt zu geleiten …«
»…da nur ich den Toten ihre Geheimnisse zum Wohl des Volkes entreißen kann«, beendete sie die Litanei, die sie in den letzten Wochen bereits zweimal vernommen hatte. Die Adern an ihren Schläfen begannen zu pochen. »Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da von mir verlangt?«, fragte sie unwirsch. »Oder redet Ihr nicht mit Euren Brüdern und Schwestern der Schlammwache?«
Opundelus zuckte zusammen, was Nasiimas Mundwinkeln kurzfristig Leben einhauchte. Er und Gunter hatten etwa so viel gemein wie ein prachtvoller Zuchthengst und ein schäbiger Hütehund. Die Ironie dabei war, dass Hengst und Hund durchaus zufrieden mit sich waren, solange sie nicht daran erinnert wurden, dass sie beide auf demselben Bauernhof lebten.
»Wenn Ihr auf den vielfachen Leichenfund anspielt, so bin ich mir Eurer Verdienste der vorletzten Nacht durchaus bewusst und auch der Mühen, die Eure Gaben Euch abverlangt haben müssen«, sagte der Hauptmann und erhob sich trotz seiner schweren Rüstung in einer flüssigen Bewegung, die klarmachte, dass außer Edelmut auch jede Menge Muskeln unter all dem Stahl des Plattenpanzers schlummerten. Wären eigenständige Gedanken ebenfalls in diesem schönen Kopf zu finden gewesen, hätte Nasiima sich durchaus für Opundelus erwärmen können. »Aldermann Heegfort hat mir versichert, dass Ihr Euch mittlerweile vollkommen von Euren Strapazen der vorgestrigen Nacht erholt habt«, fuhr der Hauptmann indes fort.
»Hat er das?« Nasiima kniff die Lippen zusammen und schlug sich mit ihrer Reitgerte gereizt gegen die verstärkten Lederhosen. »Wenn der Aldermann meine Stärke derart hoch einschätzt, wie könnte ich da nein sagen?«, fügte sie mit der Süße eines vergifteten Apfels hinzu. Dass sie sich das Artefakt von dieser Kröte hatte stehlen lassen, war dem Vorsteher der Nadel äußerst sauer aufgestoßen. Der einzige Grund, warum Heegfort ihr Versagen nicht ausgeschlachtet und sie zum Gespött der ganzen Stadt gemacht hatte, lag in der Tatsache begründet, dass es offiziell nie einen Einbruch in die Nadel gegeben hatte. Damit ersparten sie sich das Eingeständnis, dass jemand aller Magie zum Trotz in die als unbezwingbar geltende Nadel eingedrungen war. Und somit jede Menge Hohn. Für den Rest der Welt befand sich die fragliche Kette sicher verschlossen in der Kiste in Nasiimas Studierzimmer, hoch oben in dem magischen Turm. Zumindest bis Kröte oder die Person, die das Artefakt von ihr kauft, einen Fehler bei der Handhabung des Relikts macht, schoss es ihr durch den Kopf. Sollte die Kette die Knochen aller Einwohner eines Rings pulverisieren oder die halbe Stadt mittels eines überirdischen Schreis taub werden lassen, dann würde genau ein Kopf dafür rollen, und zwar der ihre. Und bis die Kette von Gunter gefunden wurde, würde der Aldermann Mittel und Wege suchen, Nasiima das Leben schwerzumachen.
Opundelus räusperte sich. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Herrin Feehlenwerk?«, bat er und deutete auf die offenstehende Tür des kleinen Gästesaals.
»Ist noch Zeit für ein Frühstück?«, fragte Nasiima und erntete ein bedauerndes Kopfschütteln.
»Es handelt sich hierbei um eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit, die keinerlei weiteren Aufschub duldet.« Der Hauptmann setzte seinen Helm auf und deutete erneut auf die Tür. »Bitte!«
Warum sagen die Leute immer »bBitte!«, wenn sie eigentlich »Gehorche!« meinen?, dachte Nasiima freudlos und rauschte so hoheitsvoll wie möglich am Hauptmann der Palastwache vorbei. Der Mann war hinter Bürgermeister Dregelberg und dem Obristen die ranghöchste militärische Person Grubenstedts. Wenn er einen als Bitte getarnten Befehl aussprach, war es besser, sich zu fügen, solange man keinen triftigen Grund hatte, es nicht zu tun. Und Nasiima war es lieber, dass Opundelus dem Haus Feehlenwerk etwas schuldete, als dass er mit Missfallen an sie und ihre Familie dachte.
»Wohin reiten wir und warum?«, fragte sie, während sie mit dem Hauptmann der Palastwache durch die Eingangshalle und dann hinaus in den Hof des Anwesens schritt.
»Das kann ich Euch nicht sagen«, drang es blechern unter dessen Helm hervor. »Erst wenn wir die neugierigen Ohren Grubenstedts hinter uns gelassen haben.«
Nasiima nickte hölzern. Eigentlich hatte sie nichts anderes erwartet. Die verbissene Pflichterfüllung des Mannes ließ nicht den kleinsten Hinweis zu, was sie diesmal dort draußen erwarten würde.
»Euer Pferd, meine Herrin«, sagte Egbert, der Stallmeister und führte die gesattelte Da-Tzau herbei, kaum dass Nasiima auf die Pflastersteine des Hofes getreten war. Das Tier begrüßte die Magierin mit einem freudigen Schnauben, und für einen Augenblick war Nasiima Opundelus dankbar, dass er sie zu diesem Ausritt zwang.
»Entschuldige, dass wir uns so lange nicht gesehen haben«, raunte sie dem Pferd ins Ohr und rieb ihm liebevoll über den Nasenrücken. »Diese Stadt lädt nicht gerade zu Reisen im Sattel ein.«
Opundelus schwang sich auf den Rücken eines mit einem Lederharnisch gerüsteten Hengstes, dessen mit schweren Eisen beschlagene Hufe ungeduldig auf dem Stein scharrten. Dann drehte der Hauptmann den Kopf in Nasiimas Richtung. »Meine Männer warten begierig darauf, Euch beschützen zu dürfen.«
»Wie freundlich von ihnen«, rutschte es ihr bissig über die Lippen.
Sie schnalzte mit der Zunge, und Da-Tzau setzte sich in Bewegung. Hinter dem Tor des Familienpalastes wurde sie umgehend von einem vollen Dutzend Schildwachen umringt, die sie und den Hauptmann die breite Hauptstraße des Palastrings entlang eskortierten. Nasiima war sich der Blicke der adligen Passanten durchaus bewusst, die mit einer Mischung aus Neugier und Häme die Prozession gepanzerter Leiber verfolgten. Die eine Hälfte fragte sich gewiss, was vor sich ging, die andere vermutete sicherlich, dass Nasiima mit dem Gesetz in Konflikt geraten war und gerade abgeführt wurde.
»Wahrlich, Eure Großzügigkeit, unserer schönen Stadt ein weiteres Mal mit Eurer Gabe auszuhelfen, ist grenzenlos«, sagte Opundelus laut genug, damit die lauschenden Edelleute ihn hören konnten. Umgehend verlor ein Großteil der Anwesenden das Interesse an dem kleinen Reitertrupp.
»Danke«, murmelte Nasiima aufrichtig.
»Es ist die Pflicht eines jeden Ehrenmannes, den Ruf einer Dame zu schützen.« Die Worte des Hauptmanns klangen derart einstudiert, dass Nasiima erschauderte. Wenn irgendwer Opundelus weismachen würde, dass es ehrenwert wäre, nicht zu atmen, würde man den Mann wahrscheinlich kurze Zeit später mit blauen Lippen und einem seligen Lächeln tot von seinem Pferd fallen sehen.
Das Haupttor der Bresche lag bereits weit hinter ihnen, und die sanfte Hügellandschaft, die Grubenstedt umgab, breitete sich mit ihrer Vielzahl von Äckern, Obstgärten und Weiden vor Nasiima und dem Reitertrupp aus. Kleine Dörfer, von behelfsmäßigen Wällen umringt, nisteten auf etlichen Hügelkuppen. Nasiima entschied, einen neuerlichen Versuch zu unternehmen, mehr über den heutigen Ausritt zu erfahren. Eine in der Ferne aufsteigende Rauchsäule, die sich allmählich im schwachen Wind verteilte, war ein bedeutungsvolles Omen. »Was genau ist geschehen, dass Ihr erneut meine Hilfe braucht?«
Der Hauptmann der Palastwache schaute sich unter seinem geöffneten Helmvisier gewissenhaft auf dem breiten Weg um, den sie gen Süden ritten. Seit ihrem Aufbruch aus der Stadt kamen ihnen abgerissen aussehendes Landvolk bis hin zu ganzen Bauernfamilien mit klapprigen Karren entgegen, in denen sich die wenigen Habseligkeiten der schlurfenden Gestalten stapelten. Nasiima hatte eine ungewöhnlich hohe Zahl an Verletzten unter jenen unglücklichen Seelen ausgemacht, von einem Köhler, der sich eine verkohlte Hand hielt, bis zu einem Schweinehirten mit einem üblen Biss im Allerwertesten, der durch das Loch seiner verschlissenen Hose prangte. Erst als sich in dem stetig tröpfelnden Strom gen Grubenstedt eine Lücke auftat und der Reitertrupp für den Moment allein war, antwortete Opundelus.
»Wie Ihr wisst, gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Schildwache des Palastrings, Grubenstedt gegen jedwede Bedrohung von außen zu verteidigen und sein Umland nach besten Möglichkeiten zu befrieden«, begann er.
Nasiima wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, da die Sonne erbarmungslos auf die Reiter herabbrannte. Sie war ein Kind der Städte und Paläste des Reiches, und wenn sie ausritt, dann lieber in gepflegten Wäldern oder weitläufigen Parks. Selbstverständlich gab es hier an der Kargen Küste keines von beidem. »Können wir bitte die langatmige Erklärung überspringen?«, forderte sie gereizt.
»Selbstverständlich.« Der Helm des Hauptmanns konnte nicht die Kränkung in der Stimme seines Trägers verbergen, und Nasiima rief sich selbst zur Mäßigung. Das Ehrgefühl dieses Mannes war ein zweischneidiges Schwert.
»Die Hingabe der Palastwache ist legendär«, sagte sie daher und schenkte ihm einen geübten Augenaufschlag. »Wie genau kann ich helfen?«
»Es gab einen Überfall.« Die Stimme des Hauptmanns klang jetzt müde. »Keine Überlebenden.«
Nasiima vergaß ihren kleinlichen Ärger über den erzwungenen Ausritt. »Wieder eine Patrouille?«, fragte sie mitfühlend. Die letzten beiden Male war sie von Opundelus gerufen worden, um die Totenrede jener unglücklichen Schildwachen zu erwecken, doch sie waren hinterrücks gemeuchelt worden, ohne ihre Angreifer im Todeskampf preisgeben zu können. Weder der Anblick der Leichen noch deren letzte Worte waren leicht zu vergessen gewesen.
Opundelus schüttelte den Kopf. »Diesmal hat es ein ganzes Dorf erwischt.« Nasiima hörte die Erschütterung des Mannes, der für einen Moment sogar seine stets wohlgewählten Worte vergaß. Ihr Blick geisterte zur Rauchsäule, der sie beständig näher kamen.
»Wie viele?«, fragte sie leise.
»Einhundertdreiundvierzig.«
Nasiima zog scharf die Luft ein. »Der Blutsturm?«
»Um das herauszufinden, seid Ihr hier.«
Nasiima legte sich eine Hand über die Augen. »Wie weit entfernt?«
»Keinen halben Tagesritt vom Stadtrand.«
So gern Nasiima in diesem Moment auch geflucht hätte, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie beherrschte sich und beließ es bei einer düsteren Miene. Drei oder vier abgeschlachtete Schildwachen waren eine Sache. Die konnten leicht unerkannt aus dem Hinterhalt von einem halben Dutzend jener Barbaren niedergemacht worden sein, die den Alten Mann mit der blutigen Axt auf ihre eigene verdrehte Weise anbeteten. Aber ein entvölkertes Dorf bedeutete, dass die Gerüchte, die seit einiger Zeit die Runde machten, wahr waren: Eine Kriegshorde des Blutsturms streifte um Grubenstedt wie ein hungriger Wolf um ein fettes, arglos vor sich hin grasendes Schaf.
Ihr Blick schweifte zu der mild im Sonnenlicht flimmernden Kuppel hinüber, die Grubenstedt ihren einzigartigen Schutz bot. Ohne den Schildstein wäre die Minenstadt schon längst dem Blutsturm anheimgefallen. Wie so oft in den letzten Wochen erzitterte das magische Konstrukt auch in diesem Moment unter dem Einfluss einer verbotenen Unheilung. Plötzlich wurde Nasiima bewusst, wie verletzlich der Palastring eigentlich war, wenn man sich die Schutzkuppel wegdachte, die das Eindringen jedweder festen Materie derart verlangsamte, dass man Hunderte Herzschläge für eine Durchquerung benötigte und währenddessen hilflos darin gefangen hing wie eine Fliege im Spinnennetz.
»Und Ihr erhofft Euch erneut Informationen von mir?«, fragte sie tonlos.
Opundelus zuckte mit den Schultern, eine merkwürdig hilflos anmutende Geste an dem gerüsteten Mann. »Eure Macht erweckt nicht nur die Stimmen der Toten zum Leben, sondern alles, was sie in ihren letzten Herzschlägen hörten. Bei einer derart großen Anzahl an Leichen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass einer der Barbaren etwas gesagt hat, das für die Verteidigung Grubenstedts und der Dörfer unter unserem Schutz hilfreich sein könnte.«
»Zum Beispiel, wie – beim Herrn der tausend Facetten – eine Horde hunderter Barbaren unbemerkt über den Rotfluss gelangen konnte«, murmelte Nasiima. Dieses Geheimnis brachte seit Jahrzehnten Generäle des Königs um den Schlaf. Wenn ich aufdecke, wie der Blutsturm unbemerkt übersetzt, brauche ich keine Kette, um die Gunst des Königshauses wiederzuerlangen, schoss es ihr durch den Kopf.
Die Schildwachen um sie herum blickten nervös hin und her, spähten trotz ihrer stattlichen Pferde, schweren Rüstungen und stählernen Schwerter auf die umliegenden Äcker, als wären die allgegenwärtigen Vogelscheuchen und Heuballen übernatürliche Monstren, die nur darauf warteten, in einem Moment der Unachtsamkeit über den kleinen Reitertrupp herzufallen. Nasiima atmete durch, um sich zu beruhigen. Einhundertdreiundvierzig Opfer. Das bedeutete, dass von ihr erwartet wurde, ihre Macht in einem Umfang einzusetzen, wie sie es nie zuvor getan hatte. Sie dachte wieder an die vorletzte Nacht und ihren grausigen Fund im Schlammring und wie sehr sie von ihrem Zauber mitgerissen worden war. Plötzlich wusste Nasiima nicht mehr, wovor sie sich mehr fürchtete: dass die Kriegshorde des Blutsturms ihre kleine Gruppe nervöser Reiter fand – oder dass sie das Grauen eines hingemetzelten Dorfes wieder auferstehen lassen musste.
»Da vorne ist es.«
Nasiimas Magen verkrampfte sich, kaum dass Opundelus die Worte ausgesprochen hatte. Sie waren beständig nach Süden geritten, an kleinen Bauernhöfen und winzigen Dörfern vorbei, deren Bewohner die Reitergruppe mieden wie ein abergläubischer Krämer das schlechte Omen. Sie wissen, dass etwas Schlimmes passiert ist, dachte Nasiima. Aber keiner von ihnen will erfahren, was genau. Sie konnte es den verstaubten Gestalten nicht verdenken. Das Leben außerhalb der Kuppel der Stadt war hart genug, auch ohne, dass man sich ständig jener Schrecken entsann, die die eigene Familie heimsuchen konnten. Worüber man nicht nachdachte, das existierte auch nicht. Daher war es nicht verwunderlich, dass das kleine Dorf, das sie von einer Hügelkuppe aus einsahen, vollkommen verlassen dalag. Die schwelenden Häuser, deren in den Himmel ragende, bloßliegende Holzbalken wie verkohlte Grabmale wirkten, boten bereits aus der Ferne einen ersten Vorgeschmack auf die Gräuel, die auf Nasiima und die gepanzerten Reiter warteten.
»Es wurde wieder ein Tal ausgewählt, Hauptmann«, sagte eine Schildwache mit belegter Stimme, und Nasiima schenkte der umliegenden Landschaft einen genaueren Blick. Tatsächlich lag das gesamte Dorf in einer sanften, weitläufigen Senke. Gräben, die das sich ansammelnde Regenwasser auf die angrenzenden Felder verteilten, waren ebenso zu sehen wie niedergerissene Zäune von Schweine-, Schaf- und Hühnerställen. Vom Vieh fehlte jede Spur.
»Warum ist es wichtig, dass dieses Dorf in einem Tal liegt?«, fragte Nasiima.
Opundelus nahm seinen Helm ab und hängte ihn über den Sattelknauf, während der Trupp langsam weiterritt. »In den letzten Jahren zeigt sich eine immer wiederkehrende Vorgehensweise in den Angriffen des Blutsturms«, sagte er leise. »Erst legen sie kleinere Hinterhalte für Patrouillen, um unsere Verteidigungsbereitschaft auszuloten und unsere Präsenz im Umland auszudünnen.« Nasiima musste unwillkürlich an die toten Schildwachen denken, deren letzte Momente sie aus dem Vergessen hervorgezerrt hatte. »Dann Überfälle auf isoliert liegende Dörfer, wie zum Beispiel dieses hier, dessen Tal es von neugierigen Blicken schützt. Es wird alles geraubt, was von Nutzen für den Blutsturm ist: Getreide, Tiere – und Kinder.«
Nasiima zuckte zusammen. »Kinder?«, echote sie schwach.
Der Hauptmann nickte, sein Blick flackerte regelrecht vor Abscheu. »Jene, die zu klein sind, um sich zu wehren, werden verschleppt. Wenn wir sie wiedersehen, haben sie Farbe im Gesicht, eine Waffe in der Hand und das Lob an den Alten Mann mit der blutigen Axt auf den Lippen.«
»Diese Überfälle dienen also der Beschaffung von Nachschub für den Blutsturm«, schlussfolgerte Nasiima und bemerkte aus den Augenwinkeln den überraschten Blick des Hauptmanns. »Bloß weil ich mich der Magie verschrieben habe, bedeutet das nicht, dass mir alles Militärische fremd ist, mein guter Opundelus.«
»Selbstverständlich«, lautete die zögerliche Erwiderung des Ritters.
»Sie warten, bis die Felder abgeerntet und das Vieh schön fett vom Sommer ist, bevor sie zuschlagen.« Nasiima dachte laut nach, damit Opundelus verinnerlichte, dass ihr Kopf nicht nur dazu diente, die Kette mit dem Facettstein an ihrem Hals zu halten.
Lange hatte sie den Anblick vermieden, aber je näher sie kam, umso präsenter wurden ihr die Leichen der Dorfbewohner; stille, blutbesudelte Schemen, die meist auf dem Bauch lagen, klaffende Wunden in ihren Rücken. »Die Bewohner wurden auf der Flucht niedergemacht.«
Opundelus deutete auf die zertrampelte Erde rings um das Dorf. »Der Blutsturm bevorzugt es, seine Opfer einzukesseln und dann zuzuschlagen. So gibt es keine Überlebenden, und niemand, der Hilfe holen könnte, kann entkommen.«
Nasiimas Blick schweifte über das zerstörte Dorf und die Felder ringsum. »Wie viele Kämpfer bräuchte man hier für diese Taktik?«
Der Hauptmann wirkte erleichtert, dass er ihr eine militärische Frage beantworten durfte. »Ohne Lücken in den eigenen Reihen? Sechshundert Mann. Fünfhundert, wenn sie gut aufeinander eingespielt sind.«
»Und wie viele Schildwachen sind für den Schutz des Umlandes eingeteilt?«
Nervös rutschte Opundelus in seinem Sattel hin und her. »Der Bürgermeister hat mir insgesamt dreihundert Männer und Frauen zur Verfügung gestellt, um die Zehnteintreiber des Königs zu beschützen und die Abgaben der Bauern zu gewährleisten.«
Nasiima nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Mit anderen Worten: Solange das Umland genug Nahrung und Münzen abwarf, war seine Bevölkerung zweitrangig. Sie verdrängte den schlechten Geschmack, den diese Erkenntnis in ihrem Mund hinterließ, bat Da-Tzau anzuhalten und glitt von ihrem Rücken.
»Ich werde mit jenen Unglücklichen beginnen, die außerhalb des Dorfes liegen.« Sie deutete auf den nahen Leichnam einer Frau mittleren Alters, deren Kopf nicht mehr als solcher zu erkennen war. »Verteilt Eure Männer, damit sie möglichst viel von dem vernehmen, was im Umfeld der armen Frau gesprochen wurde.«
»Die Helme runter«, kommandierte Opundelus umgehend. »Und ab jetzt redet niemand mehr außer den Toten.«
Nasiima atmete einmal tief durch und konzentrierte sich. Die Luft wurde kälter, und dann erhob sich der erste gurgelnde Schrei in den Himmel, dem noch viele folgen würden.
»Ulfen!«, schrie eine Frauenstimme voller seelischer Qual, gefolgt von einem widerlichen Knirschen. »Nehmt … mir nicht … meinen Ulfen«, hauchte die Sterbende, und die Totenrede verstummte.
Nasiima blinzelte mit trockenen Augen. Alle Tränen, die sie an diesem Tag besessen hatte, waren bereits vergossen. Sie verschloss sich, so gut es ging, den Geräuschen, die ihre Totenrede bei jedem Opfer erzeugte, sonst wäre sie bereits bis zum Mittag wahnsinnig geworden, aber ab und zu durchbrach ein besonders brutales Ableben ihren mentalen Schutzwall. Wie ein grausiges Mosaik setzte sie das gewaltsame Sterben des Dorfes Stück für Stück aus sich überlappenden Wiederholungen jener vielen Augenblicke zusammen, die es benötigt hatte, um diese kleine Gemeinschaft auszulöschen.
»Das waren alle Leichname im äußeren Bereich«, krächzte sie und nahm dankbar die Feldflasche an, die Opundelus ihr reichte. In Nasiimas Kopf hämmerte es wie wild, und ihr Körper wollte nicht mehr aufhören zu zittern. Die Kälte des Todes drang ihr bis ins Mark, und als sie das ledrig schmeckende Wasser trank, glaubte sie, dass ihr Rachen vom Staub ganzer Äonen ausgedörrt worden war.
»Dann sollten wir nun auf den Dorfplatz gehen, edle Nasiima.«
Die Magierin schloss die Augen und verzichtete auf eine scharfe Erwiderung. Der Hauptmann besaß immerhin den Anstand, schuldbewusst zu klingen. Bisher hatte Nasiima eine Totenrede nach der anderen durchgeführt, sowohl um ihre Kräfte zu schonen, als auch um den Schildwachen die Möglichkeit zu geben, so viele Nebengeräusche wie möglich aus den einzelnen Zaubern herauszuhören. Doch auf dem Dorfplatz lagen die Leichen viel zu dicht beieinander. Es würde einen Mahlstrom aus plappernden Leichen geben, die ihre letzten Momente mit den Lebenden teilten. Nasiima seufzte. Und dabei war sie so müde!
»Gehen wir«, hauchte sie und hob die schweren Augenlider.
»Es tut mir leid, dass Ihr solche Mühsal ertragen müsst –«
Nasiima schnitt Opundelus mit einer harschen Geste das Wort ab. »Spart Euer Mitgefühl für jene, denen wir bereits den halben Tag lang lauschen.« Sie schluckte und fügte sanfter hinzu: »Die Wahrheit ist, ich würde nicht aufhören, selbst wenn Ihr es mir anbieten würdet. Diese Menschen verdienen es, dass man ihren letzten Momenten Gehör schenkt. Das sind wir ihnen schuldig.«
Der Hauptmann bot ihr stumm seinen Arm, und sie stützte sich dankbar darauf, als sie einen schleppenden Schritt nach dem anderen in Richtung des Dorfplatzes machte, auf dem jene Bewohner dicht an dicht beieinanderlagen, die sich aus Furcht vor der tödlichen Schlinge der anrückenden Barbaren hierher geflüchtet hatten. Nasiima suchte sich einen Weg durch die Toten und musste zu oft auf einen blutigen Rücken oder eine schlaffe Hand treten, um jene innere Schutzwand aufrechtzuerhalten, mit der sie sich von dem Grauen ringsum abzuschirmen versuchte. Ihr Verstand bröckelte, und so trat sie den einzigen Ausweg an, der ihr noch blieb: die Flucht nach vorn. Hinein in die Totenrede.
»Zu Hilfe!«
»Gnade!«
»Nein! NEIN !«
»Ihr elenden Hunde!«
Die Ausrufe panischer Dorfbewohner vermischten sich mit den Geräuschen fallender Leiber, dem Schmatzen von Stahl in Fleisch und dem Gewimmer der Sterbenden und Angsterfüllten. Über allem toste das prasselnde Knistern des Feuers, das die Hütten ringsum erfasst hatte. Die Hochrufe des Blutsturms an den Alten Mann mit der blutigen Axt klangen wie Hohn in Nasiimas schmerzenden Ohren. Sie wankte wie ein junger Baum im Sturmwind, als die Magie durch sie fuhr, um dem Dorf ein letztes Mal eine Stimme zu verleihen. Bald ist es vorbei, bald ist es vorbei, sagte Nasiima sich mit geschlossenen Augen wieder und wieder, ihren ganzen Willen darauf gerichtet durchzuhalten. Herr der tausend Facetten, bitte lass uns etwas hören, das ein weiteres Massaker verhindern mag …
Die Totenrede schwoll langsam ab, wie ein Sturm, der schlussendlich weiterzog, zufrieden mit der Zerstörung, die er hinterlassen hatte, doch ganz enden wollte er nicht.
»Herr Hauptmann, hier drüben«, hörte Nasiima die Stimme einer Kriegerin der Schildwache. »Der Zauber hält hier noch an.«
Nasiima stolperte in die Richtung der Frau, an beiden Armen gestützt von gepanzerten Händen. Wie der Nachhall eines Echos klangen noch immer Stimmen in der Luft. »Hier starb jemand mit magischer Macht und ausgesprochen langsam«, sagte sie benommen. »In dem Fall kann die Totenrede länger anhalten als gewöhnlich.«
»Still«, mahnte Opundelus und legte lauschend den Kopf schief.
»Das waren alle«, erklang eine raue Stimme, die mehr ans Brüllen denn ans Reden gewöhnt zu sein schien.
»Wertloses Fleisch«, erwiderte eine Barbarin, und Nasiima vernahm ein Ausspucken. »Selbst ihre Geisterfrau war schwach und leistete keine Gegenwehr.«
»Geisterfrau?«, wisperte eine der Schildwachen dazwischen.
»Eine Kräuterhexe, die hier gelebt haben muss«, warf Opundelus ein. »Und jetzt leise, verdammt nochmal.«
»Unser Narbenmann hat ihr Blut gekostet«, fuhr die Frau indessen fort. »Er hat einen großen Sieg gesehen.«
Ein Schnauben erfüllte die Luft. »Wann sieht er denn keinen voraus?«
»Still«, raunte die Frau voller Furcht. »Es sei denn, du willst das nächste Ritualopfer an den Alten Mann mit der blutigen Axt werden.«
Der Krieger lachte. »Dafür habe ich letztes Jahr einen Knaben eingefangen. Sollte der Narbenmann mich wählen, schicke ich meinen Sklaven an meiner statt.«
Nasiima rang mit der in ihr aufsteigenden Schwärze. Ihre Kraft drohte zu versiegen, und so konzentrierte sie ihre Wut auf die beiden Sprecher. In diesem Moment wäre sie bereit gewesen, den gesamten Blutsturm mit einem einzigen dunklen Zauber dahinzuraffen. Ihr Fokus vibrierte unter der Gewalt ihrer Rachephantasien.
»Nimm dich in Acht«, sagte die Barbarenfrau indes. »Dieser Narbenmann ist anders als andere innerhalb des Sturms. Er sieht die Zeichen klarer.«
»Was meinst du?«, höhnte der Mann. »Dass das Herz der Stadt voller Tunnel ins Stocken gerät? Das sieht doch jeder, der Augen im Kopf hat.«
»Aber er sagt, dass jenes Herz bald für immer aufhören wird zu schlagen«, insistierte die Frau. »Ihre Kuppel wird fallen. Und deswegen werden wir uns diesmal auch nicht zurückziehen.«
Nasiima hörte, wie die Schildwachen ringsum zischend den Atem einsogen. Opundelus wirkte derart verkrampft, als hätte man ihn soeben mit einem Schwert durchbohrt.
»Dann wollen wir hoffen, dass unser Narbenmann seinen Schleier noch länger aufrechterhalten kann, oder … he, die lebt ja noch.« Es ertönte das Geräusch von Stahl, der in Fleisch und Knochen eindrang, und die Totenrede endete abrupt.
Nasiima war sich nicht sicher, ob die nachfolgende geschockte Stille eine Verbesserung zu dem gerade gehörten Grauen darstellte.
»Wir müssen umgehend zurück«, sagte Opundelus mit heiserer Stimme. »Der Bürgermeister und der Obrist müssen davon erfahren, dass sich der Blutsturm für einen Angriff auf Grubenstedt bereit macht.«
Nasiima dachte an das ständige Flackern der Kuppel über der Stadt, und trotz ihrer Erschöpfung begann sich auch in ihr eine tiefe Unruhe zu erheben. Sie deutete auf ihr Pferd. »Wenn Ihr mir in den Sattel helfen könntet, wäre ich Euch sehr verbunden. Meine Beine versagen allmählich ihren Dienst.«
Der Hauptmann leistete ihrer Bitte Folge, und als der gesamte Reitertrupp sich auf den Rückweg machte, kam Nasiima nicht umhin, sich immer wieder im Sattel umzudrehen und auf die Ruinen des Dorfes zu blicken. Der Gedanke, dass dieses Gemetzel sich in den Straßen Grubenstedts wiederholen könnte, setzte sich wie ein Parasit in ihrem Verstand fest und verscheuchte für eine Weile sogar ihre Sorge um die gestohlene Kette.