Die Unhe i lerin

72. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel, Tageszeit ungewiss

Woulf versuchte, durch den Mund zu atmen. Der Geruch, den der kratzige Hanfsack verströmte, war unerträglich. Irgendwann – und dieses Irgendwann konnte in nicht allzu ferner Vergangenheit liegen – mussten in dem elenden Beutel Fische transportiert worden sein. Ihr durchdringender Gestank stach Woulf erbarmungslos in die Nase, seit ihm der Sack in der Bude der Füchsin über den Kopf gestülpt worden war.

»Was röchelst du denn so?«, fragte die Stimme desjenigen, dem er diese Situation zu verdanken hatte. »Ich dachte, du hast was an der Hand.«

»Ähm …« Es war Woulf ein wenig peinlich, dass er sein Unwohlsein so zur Schau gestellt hatte. »Nun, der Sack … ähm …«

»Vorsicht, Stufe!« Sanft legte sich eine große Hand auf Woulfs Unterarm und führte ihn über das für ihn unsichtbare Hindernis hinweg.

»Danke. Ist es noch weit?« Vielleicht würde ihn ein Gespräch von dem Gestank ablenken. Er spürte eine feuchte Kühle auf der Haut. Wir sind die Bresche definitiv nicht wieder hinaufgestiegen. Vielmehr ging es stetig bergab. Er hatte sowieso nicht erwartet, dass eine Heilerin der Armen im Palastring logierte. Ohne den alles überlagernden Fischmief würde er vermutlich den erdigen Geruch des Schlamms riechen. Da war ihm verrottende Makrele beinahe lieber.

Sein Führer ignorierte die Frage, legte ihm eine Pranke auf den Hinterkopf und drückte diesen bestimmt nach unten. »Pass auf deinen Schädel auf!« Der Klang der Stimme wurde von einem dumpfen Hall begleitet.

Woulfs Herz begann, schneller zu schlagen. Wir sind unter der Erde. Er wagte nicht mal zu hoffen, dass es nur ein Keller sein könnte. Die einzigen festen Behausungen des Schlammrings, die über solch unterirdische Räumlichkeiten verfügten, lagen nah an der Bresche und damit zu dicht an der Schlammwache seines speziellen Freundes Hauptmann Hyazinth vom Adlerstein. Wir sind in den Minen. Die Erkenntnis ließ Woulf frösteln. Die Schächte unter Tage waren ein äußerst gefährlicher Ort. Und in deren verbotenen Teil, den Bruch, in den man ihn vermutlich gerade verfrachtete, wagten sich nur die verwegensten Glücksritter – der alte Woulf hätte »dümmsten« gesagt –, um der Erde Facetts und andere magische Monstrositäten abzutrotzen.

»Warte hier!« Er gab Woulf nicht die Gelegenheit zu fragen, worauf, und verschwand.

Woulf und der Fischsack waren allein. Eine bedrückende Stille, wie es sie in Grubenstedt nur unter der Erde gab, legte sich über alles. Das ängstigte ihn mehr, als er zugeben wollte. Was, wenn der Fremde ihn bewusst in die Irre geführt hatte? Ohne Hilfe würde er nie wieder aus den Minen herausfinden. Hatte er auf dem Weg hierher irgendjemanden aus dem Netzwerk der Heilerin beleidigt? Trotz der Kühle begann Woulf zu schwitzen. War das am Ende alles die Rache des zechprellenden Fassträgers? Panisch drehte er sich im Kreis, was eine Orientierung nur noch schwerer machte, und schlug sich den Kopf an. Ein beißender Schmerz durchzuckte seinen Schädel. Ich muss diesen Sack loswerden. Das wäre theoretisch kein Problem gewesen, er hatte beide Hände frei und hätte den hinderlichen Beutel jederzeit abziehen können. Sein Führer hatte ihm nicht verboten, dies zu tun. Allerdings war er sehr sicher, dass man niemandem einen Sack überstülpte, damit derjenige ihn sich ungefragt abnahm. Als Woulf dennoch beinahe schwach wurde, ließ ihn eine fremde Stimme innehalten.

»Warte hier!«

»Wohin geht Ihr?«, erklang das zittrige Krächzen einer alten Frau.

Ich bin nicht der Einzige, wurde Woulf klar. Es gibt weitere Hilfsbedürftige. Niemand hatte ihn reingelegt oder gar einen finsteren Racheplan gegen ihn geschmiedet. Die Unheilerin hatte nur Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, damit sie ihr verbotenes Handwerk ungestört ausüben konnte. Glücklich sog er den inzwischen schon recht vertrauten Fischgeruch ein.

»Warum redet niemand mit mir?«, jammerte die Alte.

Woulf war bereit, sie zu erlösen. Er dachte an seinen sprie ßenden Bart. Woulf der Rote konnte doch eine alte Frau nicht mit ihrer Angst alleinlassen. »Gute Frau, macht Euch keine –«

Ein weiteres »Wartet hier!« unterbrach Woulfs heldenhafte Tat. Die ältliche Stimme wandte sich sofort dem Neuankömmling zu.

»Seid Ihr auch hier, weil Ihr zur Unheilerin wollt?«

Eine schrille Frauenstimme antwortete ihr: »Ja. Es ist alles sehr aufregend. Wisst Ihr, wo wir sind?«

Woulf wollte schon erklären, dass er vermutete, dass sie sich in den Minen befanden, da kam ihm die bis eben noch so ängstliche alte Vettel zuvor.

»Ich bin mir sicher, dass wir uns in den verlassenen Minen befinden. Meine alten Knochen schmerzen noch mehr als sonst, das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir im feuchtkühlen Untergrund Grubenstedts sein müssen, aber von Minenarbeitern ist nichts zu hören.«

»Wie spannend«, entgegnete die schrille Frauenstimme. »Ich hatte das zuerst auch geglaubt, aber dann ist mir so ein penetranter Fischgeruch in die Nase gezogen, da hatte ich befürchtet, dass man mich in die Nähe der Müllkippe des Fischmarktes gebracht haben könnte.«

Woulf versuchte, kein Geräusch zu machen und gleichzeitig zu schrumpfen – beides gelang ihm nicht.

»Kommt mit!«, erlöste ihn sein ursprünglicher Führer. »Sie hat bald Zeit für euch.«

Sie gingen einige Dutzend Schritte, bevor ihr Begleiter ihnen gestattete, die Säcke abzustreifen.

Erleichtert atmete Woulf aus und blickte sich um. Er befand sich in einem grob behauenen Gang aus ockerfarbenem Gestein, der durch einige Feuerschalen angenehm beheizt wurde. An den halbrunden Wänden standen Sitzbänke, auf denen Menschen aller Altersstufen und Statur Platz genommen hatten. Woulf zählte auf die Schnelle fünfzehn Wartende. Deren einzige Gemeinsamkeit bestand augenscheinlich darin, dass sie zum weniger begüterten Teil der Bürgerschaft Grubenstedts gehörten. Einfache graubraune Kleidung, abgetragene Schuhe und blanke Füße prägten das Erscheinungsbild. Woulf reihte sich nahtlos in dieses Gemälde der Mittellosigkeit ein.

Wenn ich das hier überstanden habe, kaufe ich mir nicht nur neue Bettwäsche, sondern auch neue Kleidung.

Allerorten wurde gehustet oder gestöhnt. Ein stämmiger Mann verteilte Wasser aus einem Schlauch, den zittrige Finger an teils zahnlose Münder führten. Von der Decke hingen bernsteinfarbene Laternen, die die Szenerie des Siechtums in ein mildes Licht tauchten.

»Hast du Hunger?«, fragte eine dröhnende Stimme Woulf so plötzlich, dass er zusammenzuckte. Eigentlich hatte er durchaus Appetit, zumal das Essen umsonst war, aber als er sah, dass der Mann ihm Trockenfisch anbot, lehnte er kopfschüttelnd ab. Der Unbekannte zog weiter und offerierte anderen Siechen die karge Mahlzeit. Der Unheilerin lag offensichtlich viel an den Menschen, die zu ihr kamen.

Hoffnung wallte in Woulf auf. Vielleicht war heute endlich der Tag, an dem er von seinen Qualen erlöst werden würde. Das strenge Gesicht des Hauptmanns erschien vor seinem inneren Auge und mit ihm die Erinnerung an den Auftrag, den er Woulf übertragen hatte. Kann ich eine Frau verraten, die so vielen Menschen ohne Gegenleistung hilft? Ihre Selbstlosigkeit müsste belohnt werden. Er sah in die ausgezehrten Gesichter seiner Leidensgenossen. Gleichzeitig malte er sich in schrecklichen Farben aus, was ihn in den Kellern der Gelben Burg erwarten würde.

Bevor Woulf eine Lösung für dieses Dilemma fand, legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. »Na, da brat mir doch einer ’nen Storch oder, besser gesagt, einen Bierbraten, wenn das nicht Woulf der Knospenwirt ist.« Heiseres Lachen brandete auf.

Woulf traute seinen Ohren nicht. Als er sich umdrehte, blickte er in das pockennarbige Trinkergesicht seines Stamm gastes Pitter. »Was …? Wie …? Woher …?«, stammelte er entgeistert.

Das entlockte dem alten Mann ein knittriges Grinsen. »Glaub mir, ich bin genauso überrascht wie du, dich hier zu sehen. Ich dachte, du wärst kerngesund.«

Seit einer gefühlten Ewigkeit bediene ich dich mit meiner versehrten Hand, dachte Woulf, schluckte seinen Ärger über Pitters Ignoranz gegenüber dem Offensichtlichen jedoch herunter. Schon bald würde er genesen sein, und dann konnte ihm vollkommen egal sein, ob Pitter an seinem Leiden Anteil nahm. Daher winkte er bescheiden ab. »Nur eine Kleinigkeit mit meiner Hand. Was führt dich hierher?«

»Ach …« Pitter stöhnte langgezogen. »Irgendwie ist mir schon eine Weile unwohl. Meine Hände zittern, ein Drücken im Bauch, und ich bin ständig so rot im Gesicht. Keine Ahnung, was da los ist.«

Woulf lag die Lösung dieses Rätsels auf den Lippen. Das liegt daran, dass du ein Trinker bist.

»Tja, und da ich neulich von einem alten Kumpel die Geschichte einer ganz besonderen Unheilerin gehört habe, die die Armen kostenlos behandelt, dachte ich, dass sie mir vielleicht helfen kann. War gar nicht so einfach, sie zu finden.« Er zwinkerte Woulf verschwörerisch zu.

»Da sagst du was.« Wie hätte er ahnen sollen, dass ausgerechnet Pitter ebenfalls den Weg zur Unheilerin kannte?

Sein Stammgast trat näher. Schaler, alkoholgeschwängerter Mundgeruch schlug Woulf entgegen. »Du hast nicht zufällig etwas von deinem Bierbrand dabei, damit ich die Aufregung vor der Behandlung ein bisschen unterdrücken kann?«

Angewidert verneinte Woulf. Ihm wurde in diesem Moment klar, dass auch die beste Unheilerin Pitter nicht wirklich würde helfen können. Der Mann ritt seinen Körper selbst zuschanden.

Einer der grobschlächtigen Kerle, die Woulf allesamt an diesen unangenehmen Fäustling von der Schlammwache erinnerten, zeigte auf Pitter. »Du bist dran!«

»Oh, jetzt geht es los.« Pitter nickte Woulf zu. »Drück mir den gesunden Daumen.«

»Hier lang!« Der Muskelmann führte Pitter zu einem rotbraunen Vorhang, hinter dem er aus Woulfs Sichtfeld verschwand.

Der hoffte für den alten Trinker tatsächlich nur das Beste. Er kannte Pitter schon sein Leben lang und wünschte dem Mann nichts Schlechtes. Müdigkeit überkam ihn. Er hatte eine ganze Nacht nicht geschlafen, und auch die Tage davor waren nicht gerade von Müßiggang geprägt gewesen.

»Darf ich mich zu Euch setzen?«, fragte er einen graubärtigen Herrn, der unentwegt mit dem Kopf wackelte.

»Gern!«

Kraftlos ließ Woulf sich auf die Bank fallen und war nach wenigen Augenblicken eingeschlafen.

***

Die Sonne stand bereits tief, als Nasiima im Schutz des Reitertrupps nur noch wenige Meilen von Grubenstedt entfernt war. Die Verlockungen eines ausgiebigen Bades und weichen Bettes rissen sie aus dem meditativen Dahindämmern, in dem sie den Großteil des Rückweges verbracht hatte. Immer wieder flackerte die Kuppel der Stadt, in beinahe regelmäßigen Abständen. Sie dachte an die Worte der Barbaren. Die unstete Kuppel wirkte wirklich wie ein übergroßes Herz. Eines, das sich mit aller Kraft Nasiimas Zauber der Totenhaut zu widersetzen suchte. Der Vergleich beunruhigte sie zutiefst und verdrängte die Annehmlichkeiten der Zivilisation aus ihren Gedanken. Bisher waren noch alle Herzen verstummt, die sie nur lange genug bedrängt hatte.

***

»Aufwachen!« Jemand rüttelte an seiner Schulter und holte ihn unsanft aus dem Land der Träume. »Du bist der Letzte! Komm, die Unheilerin hat jetzt Zeit!«

Schlaftrunken blickte Woulf sich um. Das Wartezimmer hatte sich komplett geleert. Er musste lange geschlafen haben. Kein Wunder nach mehreren durchwachten Nächten. Mit klopfendem Herzen, aber erfrischt vom Schlummer, folgte er dem Hünen.

Der hielt ihm den Vorhang auf und wies mit dem Zeigefinger den Weg. »Dort entlang. Geh bis zum Ende des Ganges, sie erwartet dich.«

Dankbar nickte Woulf und zog ein wenig den Kopf ein, um ihn sich in dem niedrigen Nebenschacht nicht zu stoßen. Die Wände waren über und über mit auf Papyrus geschriebenen Dankesworten und Segnungswünschen für die Unheilerin bekritzelt. Er sah auch zwei Lumpenpuppen von Kindern und reichlich bunte Bänder, die man der mächtigen Frau zum Dank vermacht hatte.

Danke, dass ich wieder laufen kann.

Meinen Segen für meine zurückgewonnene Sehkraft.

Mögen die Götter Euch lobpreisen für das Wunder, dass Ihr meinem Gatten habt zuteilwerden lassen. Er ist jetzt wieder ein ganzer Mann …

Woulfs Blicke flirrten über die Wörter. Er hoffte sehr, später ebenfalls seinen Dank hier verewigen zu dürfen.

»Komm herein!«, forderte ihn eine rauchige Stimme jäh auf.

Verdutzt blickte Woulf in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Höhle erweiterte sich zu einer Kammer, deren Boden und Wände komplett mit farbenfrohen Decken, Teppichen und Behängen ausgekleidet waren. Eine Feuerschale verströmte Wärme und heimeliges Licht und erstaunlicherweise kaum Rauch. Mittendrin, auf einem Berg aus seidig glänzenden Kissen, thronte die Unheilerin. Eine alterslose schlanke Frau mit kurzen mausbraunen Haaren und asketischem Gesicht. Sie war in eine ausladende karmesinrote Robe gekleidet, deren edler Stoff nicht so recht zur hier behandelten Kundschaft passte. »Willkommen, mein Name ist Artemisia.«

Trotz seiner Aufregung musste Woulf schmunzeln. Das war mit Sicherheit nicht der wirkliche Name dieser beeindruckenden Frau. Artemisia – oder wie es der Volksmund nannte: Wermut – mengte er in seinen Bierbrand, damit dieser nach dem schweren Braten für eine gute Verdauung sorgte. Die Heilpflanze war darüber hinaus vielfältig einsetzbar und linderte zahlreiche Leiden. Genauso wie die Unheilerin.

»Setz dich!« Sie blickte ihn aus sanften blauen Augen an, unter denen die Müdigkeit dunkle Ringe gebildet hatte.

Sie ist auch nur ein Mensch und erschöpft von den vielen Heilungen, die sie heute schon vollbracht hat. Dennoch wand sich Woulf unter ihrem prüfenden Blick wie ein Regenwurm in einer Pfütze. Ungeschickt nahm er sich ein Kissen und versuchte mit wenig Erfolg, darauf Platz zu nehmen. Es musste definitiv aus Seide sein, denn kaum dass er es sich unter seinen Allerwertesten geschoben hatte, schlüpfte es darunter wieder hervor. Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen setzte er sich einfach auf den weichen Teppich.

Artemisia lächelte amüsiert. »Du wirst ohnehin nicht lang bleiben«, sagte sie. »Zeig mir deine Hand.«

»Woher wisst Ihr …?« Woulf schluckte den Rest der Frage hinunter. Eine gute Heilerin erkannte eben auf den ersten Blick, was einem Siechen fehlte. Ohne zu zögern, beugte er sich vor und streckte den Arm aus.

»Hm«, machte die Unheilerin nachdenklich. »Eine merkwürdige Läsion. Sie geht tief.« Sie schenkte ihm einen beruhigenden Blick. »Aber wenn dich nur ein eingerissener Fingernagel plagte, wärst du ja sicher auch nicht zu mir gekommen.«

»Genau«, hauchte Woulf mit vor Aufregung trockenem Mund. Er wusste zwar nicht, was eine Liaison war, aber er war froh, dass sie ihn nicht fragte, woher er die Verletzung hatte. Der unbeholfene Rami war da deutlich neugieriger gewesen.

»Also gut, dann wollen wir dich mal von deinem Leiden befreien.« Sie strich beinahe zärtlich über die grauschrumpelige Haut von Woulfs Hand, schloss die Augen und begann, rhythmisch zu summen.

Fasziniert beobachtete er das Prozedere. Das macht hier alles einen viel besseren Eindruck als bei Rami, diesem Pfuscher. Er sah auf seine Hand. Leider ist das Ergebnis das Gleiche. Keine Besserung, keine neue, rosafarbene Haut und immer noch Schmerzen.

Feine Schweißperlen bildeten sich auf Artemisias Nase. Sie summte in tieferem Ton.

Bewusst folgte Woulf ihrem Beispiel und grunzte, dass seine Nasenflügel nur so flatterten. Schaden konnte das auf keinen Fall.

Die Unheilerin öffnete die Augen. »Ich verstehe das nicht.« Sie schluckte schwer. »Noch nie zuvor habe ich …« Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Die schön geschwungenen Brauen zogen sich zusammen. Sie holte einen bernsteinfarbenen Anhänger unter ihrer karmesinfarbenen Robe hervor. »Ein hartnäckiger Fall. Ich werde es mit all meiner Kraft noch einmal versuchen! «

Zustimmend nickte Woulf. Er hatte keine Eile.

Sie pendelte mit dem Anhänger über seiner Hand. Gleichzeitig begann sie, diese zu massieren.

Woulf biss die Zähne zusammen. Der Druck ihrer Finger war furchtbar schmerzhaft. Er brummte die Qualen im Takt heraus. Woulf der Rote hält das durch, redete er sich gut zu. Immerhin hatte er vorhin fast einer alten Frau geholfen, wie konnte er da jetzt jammern?

Der Schweiß lief Artemisia in Strömen über das schmale Gesicht. Sie murmelte Worte in einer Sprache, die Woulf nicht verstand.

Mit vor Aufregung aufgerissenen Augen blickte er beständig von ihrem Antlitz zu seiner Hand und wieder zurück.

Die Unheilerin wurde vor Anstrengung rot.

Woulfs Hand leider nicht.

Die Unheilerin wurde blass.

Woulfs Hand blieb grau.

Schließlich kippte die Unheilerin wortlos zur Seite.

Woulfs Hand blieb an ihrem Platz.

Immerhin.

***

Es waren nur noch etwa zwei Meilen bis zum Stadttor, als Nasiima den Blick erneut auf die Kuppel richtete. Die Magie des Kraftfelds waberte nun in unheilvoll gleißenden Farben – in zornigem Rot und drohendem Violett –, die Nasiima noch nie an der Kuppel gesehen hatte. Ihre Gefühle bei diesem Anblick schwankten zwischen purer Angst und der morbiden Neugier einer Forscherin, die ein seltenes, wenn auch unheilvolles Phänomen beobachten konnte. Furchtsames Gemurmel erhob sich innerhalb des Reitertrupps. Dann wurden Signalhörner aus dem Inneren Grubenstedts laut und drangen bis an das Ohr der reitenden Schildwachen.

»Vorwärts!«, brüllte Opundelus und gab seinem Hengst die Sporen. »Die Obersten der Stadt müssen vom nahenden Blutsturm erfahren!«

Die Stadtgrenze war nicht mehr fern und die schnaufenden Pferde am Ende ihrer Kräfte, als es geschah: Von einem auf den anderen Moment war der Spuk vorbei, und das glühende Rot der Kuppel verschwand, als hätte es nie existiert. Nasiima atmete auf, bis sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag traf:

Die Kuppel hatte sich nicht schlagartig erholt. Sie war verschwunden!

Die panischen Rufe, die sich nach und nach aus Grubenstedt erhoben und wie ein vielstimmiger Chor des Entsetzens gen Himmel erschollen, spiegelten die Furcht in Nasiimas Herzen wider, die an abgeschlachtete Dorfbewohner dachte, eingepfercht in einem Kreis aus Barbaren.

***

»Meisterin Artemisia, ich denke, es ist Zeit zu gehen.« Einer der Hünen erschien plötzlich hinter Woulf. Beinahe zärtlich hob er die schlanke Frau von ihren Kissen. An Woulf gewandt sagte er barsch: »Geh zurück in die Höhle, in der du vorhin gewartet hast, von dort wird dich jemand in den Schlammring zurückbringen.«

Woulf zögerte. »Ist sie –«

»Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Sie hat sich nur zu sehr verausgabt. Geh jetzt!«

Ungläubig sah Woulf auf seine Hand. Unverändert. Bevor er auf diesen unbefriedigenden Umstand hinweisen konnte, war der Fremde bereits mit Artemisia in einem weiteren Tunnel verschwunden. Deprimiert machte er sich auf den Rückweg. Die Dankessprüche auf den Wänden schienen ihn jetzt zu verhöhnen. In der angrenzenden Höhle erwartete ihn der Kerl, der zuvor den Trockenfisch verteilt hatte. Er hielt einen Sack in der Hand. »Zieh den über! Wir führen dich und die anderen zurück durch die Minen.«

Notgedrungen kam Woulf der Aufforderung nach. Hoffentlich riecht der besser als der Erste. Er hatte Glück, mit diesem Sack hatte man definitiv keine Fische transportiert – vielmehr schien in ihm einstmals Pferdedung deponiert gewesen zu sein.

Der Helfer der Unheilerin führte Woulf ein kurzes Wegstück, bis er das aufgeregte Gemurmel einer größeren Menge vernahm.

»Liebe Freunde«, säuselte Woulfs Bewacher in seinem Rücken. »Genießt eure neu gewonnene Gesundheit. Wir werden euch jetzt zurück in den Schlammring führen. Bleibt alle zusammen und behaltet die Säcke bitte die ganze Zeit auf dem Kopf. Ihr wisst, dass wir die Meisterin schützen müssen, damit sie auch in Zukunft ihre wundersamen Kräfte für das Gute einsetzen kann.«

Zustimmendes Raunen brandete auf.

Woulf konnte sich dem leider nicht anschließen. Und da war er wohl nicht der Einzige. Neben ihm erklang gequältes Husten und Stöhnen.

»Pitter, bist du das?«

»Woulf?«

Ohne auf seinen Bewacher zu achten, tastete er nach seinem Stammgast. »Ja, ich bin es«, sagte er, nachdem er die Hand auf dessen Schulter gelegt hatte. »Geht es dir nicht gut?«

Pitter brummte etwas Unverständliches. »Nein, ich fühle mich schlechter als vorher. Irgendetwas hat die alte Hexe mit mir gemacht, und«, ein gequältes Husten, »das Bauchdrücken wird immer schlimmer.«

»Los geht’s!«, befahl einer der für Woulf unsichtbaren Helfer Artemisias. Jemand umfasste seinen Unterarm. »Nicht trödeln!«

»Mein Freund und ich«, widersprach Woulf, »wir müssen zurück zur Unheilerin. Unsere Leiden sind keineswegs geheilt.«

»Dafür ist keine Zeit. Ihr könnt ein anderes Mal zurückkommen. Jetzt müssen wir gehen.« Bestimmt zog der Mann Woulf weiter.

Bedächtig setzte der einen Fuß vor den anderen. Der Boden war uneben, außerdem befürchtete er die ganze Zeit, sich erneut den Schädel an der Decke anzuschlagen. Das Ergebnis war, dass er watschelte wie eine Ente und gleichzeitig den Kopf einzog wie eine verängstigte Schildkröte. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was Pitter erleiden musste. Sein Freund schnaufte und stöhnte unablässig.

»Schneller, Alter!«, forderten ihre Begleiter ihn in immer kürzeren Abständen und immer schrofferem Ton auf.

»Ich kann nicht.« Pitter keuchte.

Er tat Woulf leid. »Der Mann ist mein Freund. Könnt ihr ihm denn gar nicht helfen?«

Ihre Begleiter tuschelten miteinander.

»Er darf bei nächster Gelegenheit zurück zur Unheilerin kommen, und wir gehen langsamer. Gemach, Alter, schon bald kannst du gesund und munter wieder ein Bierchen trinken. Na, wie hört sich das an?«

Pitter versuchte sich an einem Lachen, das von einem feuchten Husten unterbrochen wurde.

»Danke!«, antwortete Woulf an seiner statt und fragte: »Darf ich ebenso wiederkommen?«

»Natürlich!«

Woulf lächelte unter seinem Sack. Auch wenn Artemisias Helfer wie grobe Kerle aussahen, hatten sie das Herz doch am rechten Fleck. Mit deutlich verringertem Tempo führten sie die Leute weiter durch die Tunnel der Minen. Sein Glück ließ ihn nicht im Stich. Kurz dachte er an die graue Tür. »Ich finde es toll, dass ihr unentgeltlich solch eine großartige Arbeit tut«, lobte er ihre unbekannten Führer im Rausch des Augenblicks.

»Mhh …«, brummten die nur.

Woulf war es egal. Betont laut sagte er: »Das sehen hier sicher alle so.«

Nur Stille antwortete ihm.

Erst jetzt bemerkte er, dass es ungewöhnlich ruhig geworden war. Sie waren eine recht große Gruppe, fünfzehn hatte er gezählt. So viele Leute konnten sich bei aller Mühe niemals derartig leise bewegen. Er horchte. Deutlich hörte er seine und Pitters schlurfende Schritte. Dazu die von vielleicht zwei oder drei Personen, so genau vermochte er das nicht zu sagen. Haben sie die Gruppe geteilt? Ist der Rest vorausgegangen? Wir sollten doch zusammenbleiben.

Noch etwas anderes irritierte ihn. Nach einer Wegbiegung fiel es ihm auf: Statt bergauf führten die Gänge seit geraumer Zeit hinab.

Pitters Husten brandete bellend auf. Dazwischen vernahm Woulf die geflüsterte Stimme eines Führers.

»Wir müssen ihn loswerden …«

Husten.

»…noch einer. In der Grube können wir die nicht mehr verscharren, weil …«

Husten.

»Den anderen auch. Seine Hand ist nicht geheilt und …«

Husten.

»Einfach hier unten. Niemand wird sie finden …«

Husten.

»Ein schneller Schnitt über die Kehle und …«

Husten.

Woulfs Herz schlug ihm bis zum Hals. Übelkeit überkam ihn. Die Kerle haben uns von den anderen weggeführt, um uns zu beseitigen. Vermutlich will diese Artemisia nicht, dass jemand von ihren Misserfolgen erfährt.

»Pitter«, raunte er.

»Hä?«

Vorsichtig lüftete Woulf den stinkenden Sack. Er blickte sich um. Pitter lief mit seinem Führer direkt hinter ihm.

»Achtung!«, knurrte sein eigener Wachhund. »Hier gibt es Schlaglöcher, die sind tiefer als der Schlamm der Grube. Die meisten führen sogar zu anderen Ebenen, von denen niemand mit Gewissheit sagen kann, ob sie von Menschen oder Mauerwürmern gegraben wurden.« Er lachte gehässig und spuckte mit einem übelkeiterregenden Geräusch aus. »Und lass deine Finger von dem Sack weg, sonst schlage ich ihn dir auf dem Kopf fest.«

Blitzschnell traf Woulf eine Entscheidung. Er riss sich den Beutel vom Kopf, packte den noch immer blinden Pitter und zog ihn in das nächstgelegene Loch hinein.

»Waaa…?«, schrie sein Stammgast.

Das unbeschreibliche Gefühl des Fliegens währte nur kurz. Der Aufschlag war dafür umso heftiger. Woulf hatte das Gefühl, ihm hätte ein Maultier in den Rücken getreten. Sein Knöchel schmerzte und fühlte sich an, als würde er demnächst auf doppelte Größe anschwellen. Dennoch hatten sie Glück gehabt. Sie lebten noch.

»Verfluchte Scheiße, Woulf«, jammerte Pitter. »Willst du mich endgültig umbringen?«

»Leise!«, raunte Woulf und zog Pitter den Sack herunter. »Die Kerle haben Schlimmes mit uns vor.«

Zu seiner Verblüffung akzeptierte Pitter diese Erklärung augenblicklich und schien sogar seinen Husten zu unterdrücken.

Woulf beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die beiden Laternen in den schmalen Schacht hineinleuchteten. Er drückte sich so eng an die klamme Wand in seinem Rücken, dass er beinahe damit verschmolz.

»Wo sind sie?«, drang es von oben herab.

»Ich weiß nicht! Ich kann da nichts erkennen. Und runtersteigen werde ich ganz bestimmt nicht. Nur die Götter wissen, wie tief das ist und was da im Dunklen lauert.«

Pitter stöhnte, hielt aber seinen Mund.

»Lass die Idioten. Falls sie nicht schon tot sind, werden sie es bald sein. Die finden hier eh nie wieder hinaus.«

Ein gemeines Lachen folgte. »Die Dunkelheit erledigt unsere Arbeit!«

Woulf lauschte angestrengt den leiser werdenden Schritten der Männer. Selbst als er schon eine geraume Zeit nichts mehr gehört hatte, verharrten er und Pitter noch bewegungslos in ihrem feuchtkühlen Versteck.

Es war Pitters gequälter Husten, der die allumfassende Stille schließlich durchbrach.

Vor Schreck zuckte Woulf zusammen. Doch ihre Bewacher tauchten nicht wieder auf. Sie sind weg. Die erste Freude über diese Erkenntnis wurde sogleich von einer weiteren getrübt: Wir sind hier allein. Ohne Licht, ohne Orientierung. Und ohne Aussicht, je herauszukommen.

»Nie zuvor war ich an einem solch finsteren Ort. Und jetzt?«, fragte Pitter, der offensichtlich davon ausging, dass Woulf einen Plan hatte.

Hatte er aber nicht. Ganz im Gegenteil. Sein unmittelbarer Plan bestand darin, nicht vor Panik schreiend aufs Geratewohl in die undurchdringliche Dunkelheit zu rennen. Alles, was anschließend kam, hatte er noch nicht durchdacht.

»Nun … ich …«, stammelte er.

»Das hat Hand und Fuß«, kommentierte Pitter trocken.

Woulf ärgerte sich. Er hatte dem Mann gerade das Leben gerettet, da wäre doch ein wenig Dankbarkeit statt Spott angebracht gewesen.

»Tja, eigentlich war ich ohnehin davon ausgegangen, dass ich mal in deiner Gesellschaft sterben würde«, sinnierte Pitter. »Allerdings hatte ich gedacht, dass ich in der Knospe über einem Becher Bier zusammenbreche und mit dem Gesicht im Braten lande.« Das Lachen des alten Mannes ging in einem neuen Hustenanfall unter.

Woulf wünschte sich ebenfalls nichts sehnlicher, als in seinem Gasthaus zu sein. »Komm, Pitter, wir müssen zumindest versuchen, hier wieder rauszukommen.«

»Das ist sinnlos. Lass mich! Willst du uns durch die Dunkelheit zerren, bis wir zusammenbrechen?«

Woulf erhob sich und stieß sich den Kopf an der Decke. »Autsch. Ist das hier niedrig.« War es die tiefe Decke oder die Verzweiflung, die ihn zurück auf die Knie zwang? Wir werden nie wieder das Licht sehen, sondern hier elendig zugrunde gehen.