Eine unhe i lvolle Botschaft

72. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel

Als sich das mächtige Breschentor vor ihnen öffnete, erkannte Nasiima, dass ein Großteil der Schildwache bereits dort zusammengezogen worden war. Die Verteidigung Gru benstedts konzentrierte sich auf diesen einen Bereich, der im Angriffsfall gewöhnlicherweise den einzigen Schwachpunkt der Stadt darstellte. Jetzt sahen die Männer und Frauen mit entsetzten Gesichtern gen Abendhimmel, dessen beginnendes Nachtblau weiterhin das Fehlen der Kuppel enthüllte.

»Dort«, sagte Opundelus grimmig und deutete auf eine Ansammlung von Würdenträgern, die von einer Ehrenwache umschlossen wurden.

Der Bürgermeister, der Aldermann, der Obrist und sämtliche Hauptleute der Schildwache, zählte Nasiima die Anwesenden in Gedanken auf. Dazu kam der fragend bohrende Blick Ludmilla Feehlenwerks, die sich offensichtlich als Gesandte der Acht Häuser und als ständiges Ratsmitglied selbst zu dieser Versammlung eingeladen hatte. Sogar Gunter ist da. Jeder, der bei der Verteidigung etwas zu sagen hat oder in dieser Krise seine eigenen Interessen geschützt sehen will. Und alle schauen sie uns an. Nasiima schluckte. Schauen mich an. Das Sprichwort über den Boten mit schlechten Nachrichten schoss ihr durch den Kopf, und sie beschloss, das Reden weitgehend Opundelus zu überlassen.

»Bericht!«, donnerte der Obrist, kaum dass die Pferde des Reitertrupps zum Stehen gekommen waren. »Ist das eine Hexerei des Blutsturms?« Sein Finger deutete anklagend in den Himmel hinauf.

»Wir können die Anwesenheit einer Kriegerhorde außerhalb der Stadt bestätigen«, sagte der Hauptmann des Palastrings mit einem zackigen Salut, und die Gesichter ringsum wurden bleich. »Allerdings schien es, als würden sie auf den Zusammenbruch der Kuppel warten, und nicht, als wären sie direkt dafür verantwortlich.«

»So oder so müssen wir unsere Truppen aufteilen«, warf Gunter ein, was ihm umgehend schiefe Blicke der anderen Hauptleute einbrachte, weil ausgerechnet der Geringste unter ihnen sich erdreistete zu sprechen. Nasiima hatte beinahe Mitleid mit ihrem Vetter.

»Aldermann«, sagte Bürgermeister Dregelberg, ein kleiner drahtiger Mann mit einem dünnen Schnauzer, der besser zu einem heranwachsenden Jüngling gepasst hätte denn zu einem Mann von mehr als fünfzig Jahren, »könnt Ihr den Schildstein erneut aktivieren?«

Der Angesprochene wand sich wie ein Aal in einem zu kleinen Fass. »Leider steht unser Verständnis des Schildsteins noch immer ganz am Anfang. Wenn wir die nötigen Experimente hätten durchführen dürfen, um die ich seit Jahren bat …«

»…dann hätten wir vielleicht schon vor langer Zeit dort gestanden, wo wir nun stehen«, entgegnete der Obrist.

»Jetzt ist keine Zeit für alte Fehden«, sagte der Bürgermeister und sah Nasiima an. »Sondern für Antworten.«

Sie seufzte kaum merklich und saß ab. Es war Zeit, ihre unheilvolle Kunde wiederzugeben.

Nasiima schloss nach ihrem hastig vorgetragenen Bericht den Mund. So viel sie auch schluckte, er blieb trocken. Grimmige Mienen sahen sie an, eine düsterer als die andere. Selbst ihre Mutter schien sie stumm zu beschuldigen, dass Nasiima sich in diese elende Sache hatte hineinziehen lassen. Steht der Sündenbock dieses Abends bereits fest?, fragte sie sich bang, als der Aldermann sich vor ihr aufbaute. Es waren Boten schon für wesentlich weniger schlechte Nachrichten hingerichtet worden – obwohl diese nicht gerüchteweise für ein feindliches Reich arbeiteten, wie man es Nasiima nachsagte.

Das war der Moment, in dem die Kuppel mit einem gleißenden Lichtermeer zu neuem Leben erwachte und innerhalb weniger Augenblicke zu ihrem gewohnten schimmernden Selbst zurückkehrte.

Das Aufatmen der Anwesenden war beinahe greifbar, und in die panischen Rufe aus der Stadt mischten sich erste Laute der Erleichterung.

Der Aldermann sah sich um, einen berechnenden Ausdruck in den Augen, und legte Nasiima väterlich eine Hand auf die Schulter. »Danke für Euren Einsatz, edle Herrin Feehlenwerk. Es ist für alle ersichtlich, wie viel Ihr im Namen der Nadel für die Sicherheit dieser Stadt auf Euch genommen habt.«

Ihre Mutter reckte den Hals und achtete offensichtlich darauf, dass jeder das Lob des Mannes zur Kenntnis nahm.

Nasiima sah den dicken Mann dankbar an, auch wenn sie sich dafür hasste. Heegfort war offensichtlich nicht bereit, sie zu opfern, wenn er stattdessen einen Vorteil aus diesem Zwischenfall ziehen konnte.

»Die Frage ist doch: Wie stellen wir sicher, dass die Kuppel nicht wieder zusammenbricht?«, fragte Gunter, und Nasiima hätte ihren Vetter in diesem Moment küssen können, da er die Aufmerksamkeit von ihr ablenkte.

»Das ist ganz einfach«, sagte der Obrist und verschränkte die Arme vor der Brust. »Keinerlei Unheilungen mehr in dieser Stadt, bis wir wissen, was genau los ist.« Er sah Nasiima, Ludmilla und Opundelus streng an. »Das gilt auch für jene Unheiler, die in den oberen beiden Ringen geduldet werden.«

»Aber deren Unheilungen werden streng überwacht und die betroffenen Kuppelabschnitte vor jedem angemeldeten Zauber mit Wachen bestückt …«, protestierte der Hauptmann des Palastrings, bis sein Vorgesetzter drohend einen Finger hob.

»Keine. Unheilungen. Mehr«, sagte er drohend.

»Ist das klug?« Der Bürgermeister war sichtlich nervös. »Der Adel und die reichen Kaufleute werden diese Nachricht nicht wohlwollend aufnehmen.«

Ludmilla Feehlenwerks Schnauben war nur als donnernde Zustimmung zu interpretieren.

»Wie, glaubt Ihr, werter Bürgermeister«, entgegnete der Obrist, »werden sie wohl reagieren, wenn sie in ihren Palästen verbrennen oder abgeschlachtet werden, weil die Kuppel versagt und der Blutsturm in Grubenstedt einfällt?«

»Na schön«, sagte der Bürgermeister widerstrebend. »Bis auf weiteres keine Unheilungen mehr.«

»Die Acht Häuser werden Euch das nicht vergessen«, drohte Ludmilla den Männern mit leiser Stimme. »In der nächsten Ratssitzung werde ich Euch in ihrem Namen einiges zu sagen haben.«

Der Kommandant der Schildwache sah sie nur kühl an. »Ich werde es überleben, edle Dame.«

»Die Maßnahme löst das grundlegende Problem aber nicht«, warf Nasiima entnervt ein. »Es muss eine Vielzahl verbotener Unheilungen gegeben haben, um den Schirm zusammenbrechen zu lassen. Deutlich mehr als gewöhnlich.«

»Darum kümmere ich mich«, sagte der Obrist mit unheilschwangerer Stimme.

Gunter sah zu Nasiima, und sein Gesicht wirkte elend. Anscheinend ahnte ihr Vetter mehr als sie, was der Befehlshaber aller Schildwachen damit meinte.

Ein Tumult am Breschentor lockte Nasiimas Aufmerksamkeit auf sich. Die Flüchtlinge, die sie auf dem Rückweg passiert hatten, versuchten verzweifelt, in die Stadt zu gelangen.

»Was ist da los?«, verlangte der Bürgermeister zu wissen.

»Ich frage nach«, sagte Opundelus pflichteifrig und eilte zum Tor.

»Fliehen diese Leute vor dem Blutsturm?«, fragte Gunter leise, als er neben Nasiima trat.

»Unwahrscheinlich«, antwortete sie schaudernd. »Der Blutsturm hinterlässt keine Verwundeten.« Ihre Stimme brach, und sie musste sich zusammenreißen, um die letzten Worte hervorzubringen. »Nur Tote.«

Opundelus kam zu den versammelten Würdenträgern zurück, einen zappelnden Hirten mit sich ziehend, der einen Arm in einer improvisierten Schlinge trug. »Sag ihnen, was du mir erzählt hast«, befahl er dem schlotternden Mann grimmig.

»Also … also ich bin in einen Graben geklettert, weil sich die kleine Hamli dort ein Bein eingeklemmt hatte, und dabei hab ich mir den Arm gebrochen«, stammelte der unterernährte Mann. »Sie ist ein richtiger Wirbelwind, hat aber so schöne Wolle, dass sie den Ärger wert ist –«

Opundelus’ Gesicht färbte sich dunkel vor Wut. »Nicht das! Erzähle uns von den Gerüchten, die du gehört hast.«

Der Hirte wand sich wieder, bis eine der Schildwachen seinen verletzten Arm packte. »Eine Unheilerin«, rief er daraufhin schmerzerfüllt aus. »Es heißt, in Grubenstedt gibt es eine Unheilerin, die Kranke und Verletzte heilt, ohne dafür Silber zu verlangen! Jeder im Umland flüstert davon.«

»Was weißt du noch über diese höchst abtrünnige Zauberin?«, fragte der Aldermann hoheitsvoll und mit einem bedeutungsvollen Seitenblick zum Bürgermeister, wie um sich zu versichern, dass der die Wortwahl auch bemerkt hatte.

Ein Schütteln des verletzten Armes durch eine Schildwache unterstrich Heegforts Frage. »Sie soll leicht zu erreichen sein, auch für jene ohne Breschentaler«, jammerte der Hirte.

»Also lebt sie im Schlammring«, sagte Opundelus mit einem vernichtenden Blick in Richtung Gunter.

Der reckte kampflustig das Kinn vor. Diese beiden werden niemals Freunde werden, dachte Nasiima flüchtig.

»Oder zumindest in der Nähe des Schlammrings«, sagte der Obrist, und seine Augen wurden schmal. »Wir haben einen Aschling in Gewahrsam, der sich ebenfalls der Unheilung schuldig gemacht hat. Ich sage ja schon die ganze Zeit, dass diese kleinen grauen Nichtmenschen sich mehr um ihre eigenen Gesetze scheren als um jene, die für die Allgemeinheit gelten.« Er sah den Hirten eindringlich an. »Was hast du gehört? Könnte diese Unheilerin eine Aschlingsfrau sein?« Auf einen Wink des Obristen ließen die Schildwachen den wimmernden Mann los.

Der Hirte rieb sich einen verletzten Arm und zuckte mit der unversehrten Schulter. »Möglich«, murmelte er mit gesenktem Kopf.

»Das reicht mir«, sagte der Obrist und warf Gunter einen gereizten Blick zu. »Es wird Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen und in der Stadt ordentlich aufzuräumen. Und ich weiß genau, mit welchem Viertel ich anfangen werde.« Er stürmte Befehle rufend davon, und seine Hauptleute verstreuten sich, um die Anweisungen in die Tat umzusetzen.

Gunter sah zu Nasiima auf, eine ungewohnte Milde in seinem sonst so abweisenden Blick. »Wie schlimm war es?«, fragte er leise.

»Sehr schlimm.«

»Ruht Euch aus«, sagte Gunter und sah dem Obristen nach. »Ich gehe derweil in die Gelbe Burg, um nach Möglichkeit das Schlimmste zu verhindern. Was nützt es uns, wenn wir den Blutsturm aufhalten und dabei selbst halb Grubenstedt niederbrennen?«

Nasiima schauderte bei diesen Worten und drückte aus einem Impuls heraus den Unterarm ihres Vetters, bevor der davoneilte. Sie beschlich das Gefühl, dass die bisherigen Ereignisse des Abends sich als der Auftakt einer äußerst ungemütlichen Nacht für viele Einwohner Grubenstedts erweisen würden – sie selbst eingeschlossen.

***

Es musste Stunden her sein, dass Rami vom Trampeln zahlreicher Stiefel auf dem Flur geweckt worden war. Über eine längere Zeitspanne hinweg war dann außer dem Jammern des Käfermanns nichts mehr zu hören gewesen. Der Kerker schien verlassen zu sein, als kümmerte sich keine Menschenseele mehr um die Gefangenen in der Gelben Burg.

Irgendwann ertönte das Knarzen des Durchschubs an der Tür, und etwas wurde hereingeschoben. Es dauerte lange, bis Rami es wagte nachzusehen, worum es sich dabei handelte. Das Verlies war nicht vollständig dunkel, doch der spärliche Lichtschein, der unter der Türritze durchfloss, ließ es nicht zu, den Gegenstand aus mehreren Schritten Entfernung zu erkennen. Er kroch darauf zu und streckte die Hände danach aus. Seine Finger ertasteten die Form – es war ein Krug! Herrliches Wasser befand sich darin, zwar abgestanden und lauwarm, aber vermutlich rein. Dem Geruch nach schien zumindest niemand hineingepinkelt zu haben.

Mit zitternden Händen führte Rami das Gefäß an den Mund und zwang sich, nur kleine Schlucke davon zu trinken. Wer wusste schon, wann er wieder etwas bekommen würde? Das Wasser rann seine Kehle hinab wie Öl, schien gar in seinem ausgedörrten Hals zu versickern, ehe es seinen Magen erreichte, dennoch überkam ihn unendliche Erleichterung.

Wer ihm den Krug wohl geschickt hatte? Vermutlich vom Adlerstein, dem daran gelegen war, ihn am Leben zu erhalten. Was genau der Schlammwachen-Hauptmann vorhatte, verstand Rami zwar nicht, aber er hoffte aus tiefstem Herzen, dadurch einer weiteren Folter zu entkommen.

Erschöpft und auch ein klein wenig gestärkt von dem lebensspendenden Trunk, rollte er sich in seiner Ecke zusammen und schlief ein.

Diesmal erwachte er nicht vom Biss der Ratte, sondern vom Knarzen des Türriegels. Augenblicklich kehrte die Panik zurück. Was, wenn gleich Handlanger Stinkmaul mit einer neuen Auswahl von Folterwerkzeugen in der Tür stand? Eine zweite Marter würde er niemals aushalten!

Entgegen seiner Erwartung erschien jedoch kein hochgewachsener Umriss im Licht einer Fackel. Stattdessen wurde etwas Kleineres hereingestoßen, stürzte auf das dreckige Stroh und rollte ein Stück in seine Richtung. Das alles ging so schnell, dass Rami nicht einmal erkennen konnte, ob es sich um eine Person oder ein Tier handelte, bevor die Tür wieder zugeschlagen wurde. Womöglich musste er gleich gegen einen hungrigen Straßenköter kämpfen oder den verrückten Käfermann von nebenan, der schon länger nichts mehr von sich hatte hören lassen.

Er hielt den Atem an.

Das Etwas in der Mitte der Zelle regte sich. Ein leises Wimmern war zu hören, dann richtete die Gestalt sich auf und raunte: »Großer Zünder, was tust du mir an?«

Es war ein Aschling!

»Wer bist du?«, platzte Rami heraus.

Er robbte ein Stück auf den Besucher zu, doch dieser hatte sich beim Klang von Ramis Stimme so erschrocken, dass er panisch auf allen vieren davonkroch.

»Lass mich in Ruhe, du Verbrecher! Ich habe niemandem etwas … ahhh!«

Ein aufgebrachtes Fiepen ertönte, gefolgt vom Trippeln winziger Pfoten.

»Das ist nur Ronger, meine Ratte«, klärte Rami den verängstigten Leidensgefährten auf. »Er beißt, wenn man ihm zu nahe kommt, aber dafür ist er ein guter Zuhörer. Bisher ist er mir nicht ein Mal ins Wort gefallen.«

»Rami? Rami Verglimm, bist du das?« Erst jetzt, da die Stimme des Aschlings weniger aufgewühlt klang, erkannte Rami, um wen es sich handelte.

»Teflin Sandwurf!«, stieß er hervor.

»Beim Lodern der Flammen, du bist auch hier?«

Es war seltsam: Kaum dass man einen Gefährten an seiner Seite hatte, schien die Welt gleich ein Stückchen heller zu werden. Selbst die feuchte Finsternis des Kerkers fühlte sich von einem Herzschlag zum anderen überlebbar an.

Sie krochen aufeinander zu, betasteten ihre Gesichter und lachten vor Erleichterung.

»Ich habe dich für einen Hund gehalten!«, platzte Rami heraus.

»Und ich dich für einen verurteilten Mörder!«, krächzte Teflin.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten. Gemeinsam rückten sie in der Ecke aneinander wie Schafe im Winter, die sich gegenseitig wärmten.

»Wie ist es dir ergangen? Erzähl mir, was dir passiert ist!«, forderte Rami den Freund auf.

Der stieß ein tiefes Seufzen aus. »Irgendetwas ist mit der Kuppel der Stadt passiert. Es heißt, sie ist sogar kurz zusammengebrochen. Deshalb hat die Schildwache das Kehrichtviertel durchsucht. Nicht nur die Staubwache ist dabei, auch andere Männer mit Umhängen verschiedener Farben. Sogar weiße habe ich gesehen! Sie sind außer Rand und Band. Alle Aschlinge wurden aus ihren Häusern gezerrt und als Unheiler verdächtigt, auch Kinder und Alte. Die verfluchten Schergen haben uns geschlagen, beraubt und unsere Möbel zerschmettert. Ein Dach ging in Flammen auf, und eine Eimerkette musste gebildet werden. Überall Rauch, Blut und Geschrei. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie gewütet haben!« Er schluchzte, seine zitternden Hände umfassten Ramis. »Selbst im Tempel waren sie, haben unserem Priester Dulgam die Schuhe ausgezogen und ihn über das große Feuer des Zünders laufen lassen. Sie waren auf der Suche nach irgendeiner grauen Ratte.«

Heftige Gewissensbisse suchten Rami heim. Den Überfall auf den Tempel hatte er zu verschulden, indem er der Schildwache diesen falschen Tipp gegeben hatte. Vom Adlerstein hatte seine Lüge gewiss durchschaut, aber vermutlich die entfesselte Horde aufgeputschter Wachen nicht aufhalten können.

»Das ist alles meine Schuld«, sagte er zerknirscht.

»Deine? Wieso das denn?«

Tränen stiegen in seine Augen. »Sie haben mich gefoltert. Es war schrecklich, ich konnte nicht anders und habe sie auf eine falsche Fährte geführt, um von mir selbst abzulenken. Ich wollte«, er schluckte schwer, »wollte keine Namen nennen. Auch deinen nicht. Also habe ich behauptet, ein Unheiler würde sich unter dem Tempel verstecken.«

Teflin schwieg. Lange. Erst als Rami schon glaubte, er würde von ihm wegrücken und ihn für den Rest ihrer gemeinsamen Gefangenschaft missachten, rang er sich wieder zum Reden durch. Dabei klang seine Stimme brüchig. »Ich danke dir dafür, Bruder, dass du mich schützen wolltest. Wir beide wissen, wie stark der Ruf eines Facetts sein kann, wenn er auf eine Seele trifft, die zum Helfen und Heilen geschaffen ist. Aschlinge wie wir gehören nirgendwo dazu. Und doch – in Stunden von Krankheit und Not ist jeder froh, dass es uns gibt.«

Also stimmte es, was Rami stets geahnt, aber niemals laut ausgesprochen hatte: Auch Teflin war ein Unheiler, der sich seit Jahren hinter der Fassade des Sonderlings versteckte.

»Sie glauben, wir würden den Schild absichtlich erschüttern, um ihn zum Erlöschen zu bringen«, erklärte Rami. »Doch wer auch immer es ist, der irgendwo in Grubenstedt diese zahlreichen Unheilungen durchführt, macht etwas falsch. Denn einige – oder vielleicht auch alle – seiner Kranken sterben, und aus ihren Körpern wachsen Pflanzen heraus.«

»Pflanzen? So etwas habe ich noch nie gehört. Also sind wir des Mordes verdächtig?«

Rami nickte, obwohl die Dunkelheit jede Geste und Mimik schluckte. Teflin schien ihn trotzdem zu verstehen. Er stieß ein angsterfülltes Wimmern aus.

»Haben sie dein Facett bei dir gefunden?«, wollte Rami wissen.

»Als sie in das Viertel einmarschiert sind, war ich, dem Zünder sei Dank, zu Hause. Somit konnte ich es gerade noch rechtzeitig in einem Geheimfach hinter meinem Schrank verstecken. Aber meine Nachbarin hat sofort ihren Zeigefinger auf mich gerichtet, nachdem eine Kupferwache damit gedroht hat, ihrem einzigen Huhn den Hals umzudrehen.«

»Dann bist du nur auf Verdacht hier. Ich glaube, du kommst bald wieder frei.« Rami wollte ihn beruhigen, obwohl er selbst nicht an Gerechtigkeit in der Gelben Burg glaubte.

»Meinst du?«

Es lag so viel Hoffnung in Teflins Stimme, dass Ramis Herz blutete.

»Ja.«

Lange sagten sie nichts mehr, sondern hörten nur dem Rascheln der Ratte im Stroh zu und den gelegentlichen schlurfenden Schritten im Flur. Rami versuchte sich vorzustellen, was in diesem Moment draußen im Kehrichtviertel passierte, doch die Bilder, die ihm nach Teflins Bericht durch den Kopf jagten, waren so furchtbar, dass er sich lieber wieder auf die Kerkerzelle konzentrierte. Wie viel Schuld trug er an diesem Überfall der Schildwache auf seinesgleichen? Hätte er ihn verhindern können?

»Und du?«, fragte Teflin schließlich. »Wo ist dein Facett?«

Rami seufzte. »In den Händen der Schlammwache. Ich war leider nicht schnell genug, um es zu verstecken. Und ein dummer Gastwirt, dessen Hand ich nicht heilen konnte, hat mich verpfiffen.«

»Haben sie dich gefoltert?«

Wieder nickte Rami, und erneut brauchte Teflin keine weitere Bestätigung als das Schweigen seines Mitgefangenen, um ihn zu verstehen.

»Ich streiche Asche auf dein Haupt«, sagte der Freund, was unter ihresgleichen so viel bedeutete, wie Ich habe große Ehrfurcht vor dir. »Wäre mir eine solche Behandlung widerfahren, so hätte ich sicher nicht lange widerstanden.«

Ich hoffe, diese Erfahrung bleibt dir erspart. Rami behielt den Gedanken bei sich, um keine schlafenden Schatten zu wecken, doch die Erzählungen, die Teflin von außerhalb der gelben Mauern mitgebracht hatte, breiteten tiefe Dunkelheit über seinen Geist. Nie mehr würde einer von ihnen beiden dieses Verlies verlassen, wenn der Hauptmann der Schlammwache sie nicht befreite. Doch vielleicht hatte Rami sich dessen Zögern ebenso eingebildet wie vom Adlersteins Bereitschaft, die Sache anders anzupacken als der dicke Obrist. Sollte dem so sein, dann hoffte Rami aus tiefstem Herzen, dass der unbekannte Unheiler den Schild mitsamt dem ganzen verkommenen Grubenstedt einstürzen ließ. Er war es so leid, immer nur getreten und verachtet zu werden!

»Wir müssen hier irgendwie rauskommen«, jammerte Teflin, dessen Gedanken vermutlich in eine ähnlich verdrießliche Richtung gingen.

»Vielleicht kommt uns ja noch eine gute Idee«, sagte Rami schwach.

Und der Gefangene aus dem Nachbarverlies, der nun offenbar doch seine Stimme wiedergefunden hatte, antwortete durch die Wand:

»Ich sehe die Käfer, die Käfer ich seh!«