Monströse T i efen

3. Tag nach Bezwingen der Nadel, 17. Jahr der Kuppel

Im letzten Tageslicht saß Kröte vor ihrem Bretterverschlag und fettete mit einem Stück Schwarte des geklauten Schinkens ihre Schuhe ein. So ein Schatz wollte gepflegt sein. Tief in Gedanken bemerkte sie die Katze erst, als sie an ihrem Bein entlangstrich. Alle Rippen zeichneten sich unter ihrem Fell ab, das Tier war jung und vermutlich noch zu klein und unerfahren, um Ratten zu jagen. Viel mehr an Beute gab es im Schlammring nicht zu holen, es sei denn, sie begnügte sich mit Würmern, Maden und Fliegen.

»Wieso machst du auch dieses Drecksloch zu deiner Heimat?«, flüsterte Kröte und wusste nicht, ob sie mit der Katze oder mit sich selbst redete. Sie warf dem Tier ihr letztes Stück Schinken und auch die Schwarte zu. »Mehr habe ich nicht, jetzt verschwinde.«

Die Katze stürzte sich auf die Leckerbissen und schlang sie hinunter, bevor Kröte es sich anders überlegen könnte. Dann miaute sie. Es klang nicht wie Danke schön, sondern eher nach Du kannst mich mal.

»Einverstanden.« Kröte grinste dem Kätzchen hinterher.

Das Tier würde es schwer genug haben, älter zu werden. Wenigstens musste es nicht befürchten, aufgespießt an einem Stock zu enden. Nicht einmal im Grubenstedter Schlammring landeten Katzen über dem Feuer. Weil sie gegen die Rattenplage nützlich waren, hieß es. Sogar ein Gesetz gab es dafür. Vielleicht aber auch nur, weil sie lediglich aus Haut und Knochen bestanden.

Nach der Aufregung der letzten Tage verspürte Kröte inmitten des Elends einen Hauch Zufriedenheit. Nachdem sie die Kette für ihren Freund Wacker gestohlen und ihm geschenkt hatte, konnte sie feststellen, dass nicht nur das Nehmen, sondern auch das Geben seinen Reiz besaß. Niemals zuvor hatte sie Wacker derart glücklich gesehen. Nun kam sie endlich ein wenig zur Ruhe – das Putzen der Schuhe trug zu ihrer Zerstreuung bei.

Der trügerische Frieden hielt nicht lange an – etwas zerrte an ihr wie die Amseln an den Würmern in der Erde. Eine innere Unruhe erfüllte sie. Sie nestelte am Verschluss der Gürteltasche herum. Zitterten ihre Hände etwa? Ach was. Kröte fühlte sich bestens. Sie starrte hinein. Nur noch ein einsames Kügelchen des seltsamen Blumenharzes klebte am Rand. Machte es ihr etwas aus? Nein, nein. Oder doch? Ein schier unerträglicher Gedanke, dass sie nur noch ein einziges Mal ihre Sinne schärfen konnte. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, wusste Kröte tief in ihrem Inneren, dass der Genuss der Kügelchen noch weitere Effekte mit sich brachte. Der kleine Klumpen schien sie zu betören, ihr zuzuflüstern: Du brauchst mich, dein Körper und dein Geist verzehren sich nach mir, koste mich, nutze mich.

Das Unangenehme daran war, dass sie kaum widersprechen konnte. Sie warf einen schrägen Blick auf ihre rattenfellige Gürteltasche; der Drang, das Kügelchen unter die Zunge zu klemmen, ließ sie erneut zittern – die Kraftanstrengung, dem zu widerstehen, schwindeln.

In einem versteckten Winkel ihres Schädels raunte eine Stimme: Ich kümmere mich um dich, ich gebe deinen Empfindungen Raum. Lass dich fallen und genieße. Koste mich!

Auf einmal hielt sie das Kügelchen in den Fingern, so als hätte jemand es ihr aufgezwungen. Misstrauisch sah sie sich um. Außer ihr war weit und breit niemand zu sehen, folglich konnte nur sie das Kügelchen aus der Gürteltasche genommen haben. Der Kampf gegen sich selbst war der schwerste.

Nun ja, wenn sie es schon in der Hand hielt, konnte sie auch den nächsten Schritt tun. Sie steckte es sich unter die Zunge. Der süßliche Geschmack breitete sich an ihrem Gaumen aus, sie atmete tief durch und genoss die sich entspannende Leichtigkeit. Plötzlich schien ihr Kopf über ihren Schultern zu schweben, so als fehle ihr der Hals. Die vollendete Schwerelosigkeit ihrer Gedanken berauschte Kröte. Sie dachte an Wacker, wie er den Blick ins Sternenzelt genoss. Was er wohl zu dem sonderbaren Pflanzenzeugs sagen würde?

Mitten in ihre träumerischen Überlegungen traf sie eine schmerzende Erkenntnis: Nun besaß sie keinen einzigen Harzknubbel mehr. Allein der Gedanke ließ sie erneut zittern. Dabei lag doch die Lösung auf der Hand: Sie musste Nachschub besorgen – schließlich wusste Kröte genau, wo sie mehr davon auftreiben konnte. Mitten im Bruch in einer geheimen dunklen Kammer an einer seltsamen Pflanze. Die Wirkung der fremdartigen Substanz würde über Nacht anhalten. Sie sollte ihre geschärften Sinne ausnutzen und sich auf den Weg machen.

Um diese Tageszeit war die Sonne von hier unten schon lange nicht mehr zu sehen, nun wandelte sich auch ihr letztes Licht im Westen des Facettrings in Schatten. Somit erfreute sich nur noch der ebenerdige Palastring der Sonne, und selbst wenn sie vollständig untergegangen war, schien sie den Seidensäcken da oben noch aus dem Arsch.

Kröte schlich sich zwischen den langen Abraumhaufen aus dunkler Erde Richtung Bruch. In der Hand trug sie ihre Blendlaterne, die sie bereits entzündet, jedoch verdunkelt hatte.

»Wohin willst du noch so spät am Tag?« Eine Frage wie ein Befehl, gebellt von einem Soldaten der Schildwache, der plötzlich auf dem Ringwall auftauchte.

Was patrouillieren die so gewissenhaft hier im Totland herum? Statt zu antworten, sauste Kröte in Richtung des östlichen Hangs, wo die Schatten immer tiefer wurden. Die Böschung drohte nicht mehr mit Schlammlawinen, da die wolkenbruchartigen Regenfälle seit Tagen vorbei waren. Mit schnellen Schritten verkrümelte sich Kröte in die Schatten. Dann würde sie eben einen anderen Eingang nehmen, schließlich kannte sie mehrere Stollen, die in den Bruch führten. Die Wache hatte offenbar wenig Lust, einer Schlammkriecherin hinterherzulaufen; sie brüllte noch etwas in ihren Rücken und war schon bald vergessen.

Wenig später passierte Kröte eine seit langem verlassene Stollenkaue und quetschte sich in den halb verschütteten Nebenstollen. Der First über ihr knarzte laut und bedrohlich, als würde er sie jeden Moment unter sich begraben. Bange machen gilt nicht, dachte Kröte. Es musste an ihrem gesteigerten Hörvermögen liegen. Vermutlich konnte sie mit dem Zeug intus auch die Flöhe furzen hören.

Nach einer Reihe Tunnel und Gänge erreichte sie den seigeren Grottenschacht. Dieses Mal ergoss sich kein Modder in das Loch, denn inzwischen war das Wasser abgelaufen, und die Sohlen ringsherum glänzten nur noch feucht. Kröte empfand es als ungewohnt angenehm, sich mal ohne riesigen Schlamassel durch den Bruch zu bewegen. Der Schacht mit der Planke darüber war nicht ihr Ziel, sie überquerte ihn zügig; sie hatte nur noch die Pflanze mit dem Harz im Sinn. Die kleine Kammer schien nach ihr zu rufen.

Mit der Laterne leuchtete sie die Sackgasse aus. Hier fand sie alles noch genauso vor, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Gleiche galt für den linken Stoß, hinter der sich der enge Tunnel verbarg. Sie stellte die Laterne ab – wohlweislich in gebührendem Abstand, denn eines war klar: Nie wieder würde sie das Licht versehentlich mit dem Fuß umstoßen. Mit beiden Händen kratzte sie den Lehm von der Wand, bis die Öffnung groß genug war, um sich hindurchzuquetschen. Diesmal legte sie ihre Gürteltasche samt Kordel ab und schob sie, genau wie die Blendlaterne, vor sich her. Auf diese Weise würde sie die schmale Stelle katzengleich meistern. Für einen kurzen Moment kam ihr der kleine fellige Besucher vom Abend in den Sinn.

Alles lief reibungslos, verdächtig glatt sogar. Schon kniete Kröte vor besagter Pflanze und betrachtete deren Knospen, unter denen sich das Harz knubbelte. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die klebrigen Kügelchen erntete. Sie sammelte sieben oder acht davon ein und widerstand dem Drang, alle zu pflücken. Instinktiv wusste sie, dass es besser und richtiger war, etwa die Hälfte davon zurückzulassen, anstatt das gesamte Blumenharz auf einmal zu pflücken. Irgendeinen Nutzen musste es für die Pflanze haben, und den wollte sie ihr nicht nehmen. Kröte musste verhindern, dass die wild wuchernden Stängel eingingen und ihre Quelle für immer versiegte. Ein Wunder, dass die Pflanze überhaupt in völliger Dunkelheit wuchs.

Da sie nach wie vor unter dem Einfluss des Harzes stand, roch sie den lieblichen Duft in der Kammer noch stärker als beim ersten Mal. So aufdringlich wie betörend bohrte sich das süßliche Aroma in ihre Nase, es schien einen Gedanken anzustoßen und immer schneller kreiseln zu lassen: Was geschieht, wenn ich alles auf einmal in mich hineinstopfe? So wie die Katze die Schinkenstücke. Sie betrachtete die Ausbeute in ihrer Hand.

Sei keine Närrin , schalt sie sich. Verschwinde von hier, bevor dich das Zeug noch völlig um den Verstand bringt.

Zurück in der Sackgasse, fühlte sie sich klarer im Kopf. Der Umgang mit dem Harz verlangte eine Menge Willensstärke, denn es war verdammt schwer, dem permanenten, penetranten Lockruf zu widerstehen. Dennoch überwog die Erleichterung, einen so großen Vorrat ergattert zu haben. Mit beiden Händen türmte Kröte Lehmbrocken übereinander, um das Loch in der Stollenseite wieder zu verbergen. Danach machte sie sich auf den Rückweg.

Als sie den Tunnel zum Grottenschacht betrat, vernahm sie ein seltsames Schnauben. Ein Geräusch, das ganz und gar nicht hierhergehörte. Überraschungen im Bruch waren niemals gut und endeten meistens tödlich. Erschwerend kam hinzu, dass sie gegen eine ihrer eigenen Regeln verstoßen hatte: Niemals nach Sonnenuntergang in den Bruch.

Mit einer schnellen Bewegung schob sie die Blende vor die Flamme. Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit. Ein widerwärtiges Gurgeln, begleitet von einem unregelmäßigen Schaben, drang an ihr Ohr. Trotz ihrer durch das Harz geschärften Sinne konnte Kröte es weder einem Menschen noch einem Tier zuordnen, und sie verspürte auch keinerlei Drang, dem auf den Grund zu gehen. Egal was, wer und wie – eine Begegnung mitten im gefährlichsten, verbotensten Teil des Bruchs galt es unbedingt zu vermeiden. Sie sollte einen kleinen Umweg in Kauf nehmen und tunlichst von hier verschwinden. Trotz dieser Überlegung rührte sie sich nicht von der Stelle – vielleicht waren ihre Muskeln neugieriger als ihr Verstand. Derweil näherten sich die Geräusche.

Es sind keine Schrittgeräusche, überlegte Kröte mit einem trockenen Schlucken. Demnach kein Mensch, sondern … Sie versuchte den Gedanken abzuwürgen, bevor ihre Phantasie mit ihr durchging und ihr noch mehr Angst einjagte. Das Schleppen, Schlurfen und Schleichen kam immer näher. Große Ungewissheit krabbelte durch den Gang genau in ihre Richtung. Ein vielbeiniges Krabbeln, nicht nur auf allen vieren, sondern – sie hörte noch genauer hin – auf allen achten. Sie vermochte nicht länger ihren Hirngespinsten Einhalt zu gebieten. All die Geschichten rund um menschenfressende Monster im Bruch wurden auf einmal lebendig. Eine gigantische Spinne mit giftstrotzenden Mundwerkzeugen, ein riesiger Erdwurm mit gierig pulsierendem Schlund, eine tollwütige Bestie mit dolchartigen Reißzähnen. Und alle hatten sie eines gemein: Sie fraßen am liebsten kleine Kröten.

Das riss sie aus der Lethargie. Gerade als sie sich umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung fortstürmen wollte, hörte sie es.

Ein Schniefen, gefolgt von Worten. »Warum hast du mich verlassen?«

Eine zweite Stimme erklang mit einem würgenden Gurgeln. »Ich bin doch hinter dir.«

Monster führten keine Gespräche dieser Art. In einer Biegung tauchten Umrisse auf. Kröte konnte zwei Gestalten erkennen. Fassungslos starrte sie in den Tunnel. Keine Spinne, kein Wurm, keine Bestie, sondern zwei Volltrottel, die durch den Bruch krabbelten, ohne einen einzigen Funken Licht oder Verstand. Erleichterung erfasste sie. Ein Ungeheuer wäre mit Sicherheit gefährlicher gewesen als diese beiden Dummköpfe. Sie wollte ihnen nicht im Weg stehen, sondern sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Das Problem würde sich von allein lösen – das Tageslicht würden die beiden nicht mehr erblicken.

Mit diesen Gedanken schlug Kröte die entgegengesetzte Richtung ein. Doch nach wenigen Schritten blickte sie sich abermals um. Die Deppen krochen genau auf den Grottenschacht zu – vermutlich würde zumindest der erste hineinstürzen, was seinen sicheren Tod bedeutete.

»Warum lässt du mich im Stich, graue Tür? Warum nur?«, hörte sie es hinter sich jammern. Was immer das bedeuten mochte.

Die sind völlig verrückt, dachte Kröte. Ich sollte mich nun wahrlich auf den Heimweg machen. Was kümmert es mich? Ein paar Herzschläge vergingen.

Verflucht noch eins! Und wer auch immer!

Es kümmerte sie.

Handelte sie aus Mitleid oder Dummheit? Jedenfalls ging sie den Stümpern entgegen, wobei sie die Blendlaterne verdunkelt hielt und sich auf ihre gesteigerte Sehkraft verließ. Die beiden Männer krabbelten zielstrebig auf das Loch im Boden zu – umgeben von tiefster Schwärze ahnten sie nichts von der Gefahr. Jeden Moment würde der Vordere ins Leere greifen und kopfüber in den Schacht fallen.

Noch kannst du zurück und dich nicht einmischen.

»Halt!«, rief sie. »Sonst stürzt du in den Tod!«

Sie schob die Blende der Laterne zur Seite, der tiefe Schacht verschluckte einen Gutteil des Lichts.

Abrupt blieb der Vordere stehen und hielt sich geblendet die Hand vor die Augen. »Uh!«, machte er. Und »Oh! Uh! Oh!«, als er erkannte, dass er um ein Haar in den Schacht gekrabbelt wäre. »Graue Tür, hab Dank …« Er unterbrach sich. »Du kommst genau im rechten Moment, kleines Fräulein.« Umständlich rappelte er sich hoch. Schaudernd lehnte er sich vor und schielte in das Loch hinein.

Kröte betrachtete ihn. Er war groß und hager, mit auffällig roten Haaren.

»Was … was bist du für eine?«, fragte er. »Wo kommst du denn her? Kennst du dich hier aus?«

Respekt! Ansatzlos gleich drei dämliche Fragen aus dem Ärmel zu schütteln, erforderte Übung.

Als sie nicht antwortete, erklärte er: »Ich bin übrigens Woulf.« Dann sagte er nichts mehr. Selbst sein Schweigen wirkte unbeholfen.

Kröte wandte sich dem zweiten Mann zu. Der lag nun bäuchlings auf der Erde und fing an, fürchterlich zu würgen, so als wäre ihm ein dicker Fleischbrocken in die falsche Röhre gerutscht. Der Anfall ging vorüber, er hob den Kopf, während ihm grüner Schleim aus beiden Mundwinkeln troff. Offenbar kam er ohne fremde Hilfe kaum noch auf die Beine. Er blinzelte hektisch, seine Augen gewöhnten sich nur langsam an den Schein der Laterne. Er war bestimmt zehn Jahre älter als sein Kumpan. Rund um seine Nase war sein Gesicht von kleinen Narben gezeichnet. Doch Augen hatte Kröte nur für den Mund des Mannes. Wuchs dort eine Pflanze heraus? Ein dicker Stängel verzweigte sich in fünf oder sechs weitere Triebe.

»Was hat denn der verschluckt?«, fragte Kröte.

»Das ist Pitter. Er … er ist mein Stammgast … in der Knospe, das ist mein Gasthaus«, erklärte der Hagere in einem Tonfall, als würde das ihre Frage beantworten. Er wandte sich zu seinem Kumpan um. »Mensch, Pitter! Was … was kommt denn da aus deinem Mund?«

Der Gefragte gurgelte nur unverständlich.

Mit Gruseln im Bauch beleuchtete Kröte Pitters Gesicht. »Wächst das wirklich von innen heraus?«

Erschrocken betastete Pitter den Stängel. Das grässliche Würgen wurde noch grässlicher. Panisch versuchte er, den Stängel aus dem Mund zu ziehen, woraufhin er sich schmerzverkrümmt auf dem Boden rollte. Ein Beißgeräusch ertönte, offenbar hatte er das Gewächs abgebissen. Er versuchte, so deutlich wie möglich zu sprechen. »O nein! … In meinem Körper. Das Bauchdrücken …«

Bitter für Pitter. Kröte fröstelte. Unwillkürlich kam ihr die seltsame Pflanze in ihrer Bauchtasche in den Sinn. Verstohlen rieb sie sich mit einer Hand über den eigenen Bauch. Ob ihr nun auch solch ein Tod blühte ?

»Wenn ich die Rispe näher betrachte, könnte es sich um eine Kümmelpflanze handeln«, sagte Woulf. »Solche baue ich in meinem Garten selbst an.«

Das hilft enorm weiter. Aber immerhin kennt er sich mit Pflanzen aus.

»Wir müssen ihn zu einem Heiler bringen. Schnell!« Erstmalig gab dieser Woulf etwas Sinnvolles von sich.

»Wie kommt ihr hierher?«, fragte Kröte, die sich immer noch keine klare Meinung von der Situation gebildet hatte.

»Wir waren bei einer Unheilerin, die vermutlich Pitters Leiden verschlimmert hat. Und mir konnte sie auch nicht helfen.« Der Rothaarige hob eine Hand. Diese sah aus, als gehörte sie einer halb verwesten Leiche. Merkwürdigerweise roch sie nicht danach. Der Tunnel stank nach Schweiß und Verzweiflung, aber nicht nach Fäulnis. Über was für zwei erbärmliche Gestalten war sie da nur gestolpert? »Und ihre Helfer wollten uns … umbringen«, schloss Woulf seine traurige Zusammenfassung ab.

»Er sieht aus, als schaffte er es kaum bis nach oben. Kann er denn gehen?«, fragte sie.

Der Rothaarige packte seinen Stammgast unter den Achseln und hievte ihn trotz der lädierten Hand mit erstaun licher Leichtigkeit auf die Beine. »Ich stütze ihn. Wir schaf fen das.«

Woulf war stark und setzte sich für seinen Kameraden ein. Und er log nicht, das konnte Kröte spüren. All das verbesserte ihre Meinung über ihn. Dennoch blieb sie vorsichtig. Sie schielte auf die Ranke, die diesem Pitter erneut aus dem rechten Mundwinkel quoll. Sie schien schnell nachzuwachsen. Was, wenn sie sich bei dem ansteckte und selbst auch so buschig wurde?

»Bitte, zeig uns den Weg hier raus. Pitter braucht Hilfe, und ich muss mit wichtigen Neuigkeiten zu Gunter vom Adlerstein.«

Das hätte er besser nicht gesagt, denn zum Hauptmann des Schlammrings wollte Kröte im Moment als Allerletztes. »Nee, kein Interesse. Mit der Schildwache will ich nichts zu tun haben.«

»Dann führe uns wenigstens zum Ausgang der Mine. Ohne dich und deine Laterne sind wir verloren«, bat Woulf. »Dann gehen wir getrennter Wege.«

»Also gut. Folgt mir.«

Sogleich machten sie sich auf den Weg. Eine Unterhaltung fand nicht statt, da Woulf diesen Pitter halb tragen musste und beide vor Anstrengung um die Wette keuchten. Schwer abzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sie das Stollenmundloch erreichten – zumindest war noch Nacht.

»Danke!«, stöhnte Woulf. »Ohne deine Hilfe hätten wir niemals herausgefunden.« Vollends außer Atem beugte der Wirt sich vor und stemmte die Hände auf die Knie. »Kannst du mir noch helfen, Pitter durchs Totland zu bringen? Bitte!«

Von »Bitte« konnte sie sich nichts kaufen. »Was kriege ich dafür?« Kröte verspürte keine Lust, sich noch länger um die beiden zu kümmern.

»Ich lade dich zu einem Festessen in die Knospe ein. Ich … ich bin berühmt für den leckersten Bierbraten in Grubenstedt.«

Braten. Sofort roch Kröte den Braten. Das war ihr Verhängnis. Das Wort wirkte wie ein Zauberspruch, den dieser verfluchte Wirt mitten in ihre Magengrube feuerte. »Gut, wenn das so ist …«

Sie bot Pitter an, sich zusätzlich auf ihre Schulter zu stützen, und die merkwürdige Gesellschaft schleppte sich in Richtung Bresche. Das Tor des Schlammrings war geschlossen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Trotz der Nachtstunde hatte sich eine aufgebrachte Menschentraube davor versammelt. Kröte jubelte innerlich, als sie Wacker unter ihnen entdeckte.

»Wartet hier!«, sagte sie, ließ die beiden stehen und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als sie ihren blinden Freund erreichte, nahm sie ihn bei der Hand. »Was geht hier vor?«

»Anständige Kröten liegen um die Zeit in ihrem Bett und schlafen«, entgegnete Wacker und folgte ihr bereitwillig aus der Menge hinaus.

»Ich brauche deine Hilfe. Im Bruch bin ich über zwei unglückselige Gestalten gestolpert.«

»Hat dein Besuch dort was mit dem süßlichen Geruch in deiner Gürteltasche zu tun?«

Dieser Wacker steckte sein Riechorgan auch überall hinein.

»Ja, ich erkläre es dir später.«

Sie führte ihn zu Woulf und Pitter. Die Nase des ehemaligen Söldners bog und kräuselte sich bedrohlich. »Ich rieche Schweiß, Krankheit und Alkohol.«

»Sei froh, dass du das Elend nicht auch noch sehen musst«, sagte Kröte.

»Du bist der Blinde vom Staubring«, meinte Woulf.

»Und du der Wirt aus der Knospe «, entgegnete Wacker, der keine Stimme vergaß und offenbar mal bei ihm eingekehrt war.

»Jawohl, mein Herr. Die junge Dame hat uns aus einer äußerst schwierigen Situation geholfen. Genauer gesagt, wir verdanken ihr unser Leben. Meinem Freund Pitter geht es sehr schlecht. Er braucht dringend Hilfe. Wir müssen ihn schleunigst zu einem Heilkundigen bringen.«

Pitter gab ein mitleiderregendes Gurgeln von sich.

»Hm«, machte Wacker. »Da habt ihr euch einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht. Aufgrund der Unruhen hat die Schildwache die Bresche geräumt, indem sie uns rücksichtslos nach unten getrieben hat.«

»Unruhen?«, fragte Kröte stirnrunzelnd.

»Ja. Nachdem die Kuppel zusammengebrochen ist, sind die Menschen in Panik geraten, vor allem die weiter oben.«

Kröte schaute in den Nachthimmel. »Aber die Kuppel sieht aus wie immer.«

»Ich erkläre es dir später«, entgegnete Wacker. »Wichtig ist jetzt, dass gerade sämtliche Ringtore geschlossen sind und wir hier nun festsitzen.«

»Der Hauptmann der Schlammwache, Gunter vom Adlerstein, kennt mich und wird uns helfen. Wir sollten direkt zu ihm gehen.« Woulf reckte den Hals, als könne er ihn so auf dem Wehrgang entdecken.

»Gunter ist nicht am Schlammtor. Soweit ich weiß, hält der sich mit den anderen Hauptleuten im Palastring auf. In der momentanen Lage habt ihr keine Möglichkeit, zu ihm vorzudringen. Die Wachen lassen niemanden durch.«

»Aber … es geht um Leben und Tod. Wir müssen alles versuchen, um zu ihm zu gelangen!« Woulf wirkte äußerst hartnäckig. »Und ich habe wichtige Neuigkeiten über die Unheilerin, die er sucht.«

Wacker überlegte einen Augenblick, fasste sich dann an den Hals und löste die Kette. »Hier, Kröte. Ein Veteran namens Rutger schiebt am Schlammtor Wache. Er ist ein ehemaliger Doppelsöldner und etwas sperrig im Umgang. Gib ihm das Artefakt und lasst euch zu dritt von ihm zu Gunter bringen.«

Was bitte? Hier ging es offensichtlich um weit mehr als um das Leben dieses Pitters. Auf einmal fand sich Kröte inmitten eines Ränkespiels wieder. Sie hasste Politik. Und die allerletzte Person, zu der sie sich freiwillig begeben wollte, war dieser Gunter, der hinter ihr herjagte. »Hör mal, Wacker, der könnte mich mir nichts, dir nichts in den Kerker werfen lassen.«

Mit einem Kopfschütteln entgegnete der blinde Söldner: »Ich kenne ihn seit vielen Jahren, das wird er nicht tun. Ganz im Gegenteil, wenn du ihm die Kette zurückbringst, streicht er dich von der Liste der gesuchten Personen.«

Mit gemischten Gefühlen nahm Kröte das Schmuckstück entgegen, für das sie ihr Leben gleich mehrfach aufs Spiel gesetzt hatte. »Bist du sicher, Wacker? Ich habe dich noch nie so glücklich erlebt wie nach dem Anlegen der Kette.«

»Da war auch viel unbändige Freude über deine Großmut und deine gelungene Überraschung dabei – und die empfinde ich auch ohne das Artefakt.« Er seufzte. »Und nun ist es wichtig, dass du aus dem Fokus von Nasiima Feehlenwerk verschwindest und dich die Schildwache in Ruhe lässt. Zudem sollten wir Woulf und Pitter helfen.«

Kröte zögerte einen Moment. »Gehen wir also zum Schlammtor.«

Wirt, Stammgast und Kröte erreichten das Schlammtor. An einem der Fenster über dem Tor stand eine Wache und hielt sich an ihrer Hellebarde fest.

»Wir wollen mit Rutger sprechen«, rief sie dem Mann entgegen.

»Haut ab!«, grunzte er.

Kröte beschloss, es darauf ankommen zu lassen. »Es ist wichtig. Wenn Rutger erfährt, dass du mich weggeschickt hast, ohne ihn vorher zu rufen, tritt er dir kräftig in den hageren Arsch.«

Diese Vorstellung schien dem Wachmann nicht zu gefallen, dennoch schüttelte er den Kopf. »Verpiss dich!«

Auf einmal mischte sich Woulf in die Unterhaltung ein. »Du bist doch Klas. Ich kenne dich aus der Knospe. Du bekommst bei mir eine Woche Freibier, wenn du Rutger Bescheid gibst.«

Kröte verdrehte die Augen, dass es schmerzte. Zugegeben, sie selbst hatte dieser Woulf mit dem Braten geködert, doch glaubte er wirklich, er könne mit einem derart plumpen Versuch eine Schildwache bestechen?

»Einverstanden, ich frage ihn.« Der Mann verschwand in der rechten Turmstube.

Perplex wartete Kröte ab.

Ein riesiger Schatten näherte sich polternd. »Wenn es nicht wahrlich wichtig ist, hänge ich dich an deinen Eiern auf«, dröhnte es. Dann lugte dieser Rutger zu ihnen hinunter.

Der hünenhafte Soldat in der abgewetzten Lederrüstung war Kröte schon früher aufgefallen. Er gehörte zu der Art Männer, um die sie instinktiv einen großen Bogen machte. Ein übellauniger Rüpel, ausgestattet mit schnellen Beinen und langen Armen.

Woulf neben ihr bestätigte ihre Einschätzung. »Der Fäustling«, er stöhnte, »einer der schlimmsten Schläger der Schlammwache.«

Und genau dieser Kerl verblieb als einzige Hoffnung, in den Palastring und zum Hauptmann vom Adlerstein zu gelangen.

Kröte legte den Kopf in den Nacken. »Du bist also Rutger!«

»Da erzählst du mir nichts Neues. Und du bist diese diebische Kröte! Du hast Nerven, einfach hierherzukommen, das muss ich dir lassen.«

»Ich habe nichts gestohlen, nur was gefunden. Sieh her!« Sie streckte den Arm mit der Kette aus und ließ sie hin und her baumeln. »Die will ich zurückgeben. Natürlich nur gegen einen gehörigen Finderlohn.«

»Von mir kannst du einen ungehörigen Finderlohn haben, wie du ihn noch nie erlebt hast.« Rutger lachte rau, um dann zu knurren: »Wenn ich jetzt runterkomme und das Tor öffne, ist es zu spät für dich zu verschwinden. Also überlege es dir gut. Einmal in meinen Fängen, liefere ich dich da oben ab, samt Kette selbstverständlich, tot oder lebendig – komme, was wolle. Nasiimchen wird hocherfreut sein – dann gibt es zwar Finderlohn, aber nur für mich.« Selbst sein Glucksen klang schmutzig.

»Mein Freund braucht dringend Hilfe«, rief Woulf und schob Pitter ins Licht der Laterne.

»Ach du Scheiße«, entgegnete Rutger. »Das wird den Hauptmann interessieren. Wir müssen diesem Pflanzenmist auf den Grund gehen.« Er blickte zur anderen Wache. »Klas, hol dir eine Armbrust und mach denen da unten klar, dass du auf den Ersten schießt, der sich durchs Tor drängelt, während ich diese drei Bittsteller unten abhole.«

Ein Flügel des Tores öffnete sich knarzend. Rutger trat auf Kröte zu und streckte die Hand aus. »Kette her!«

Jetzt, da er direkt vor ihr stand, wirkte er noch riesiger und seine Schultern noch breiter. Er packte sie am Oberarm, seine Finger schienen sich gleich zweimal darum zu winden. »Hab ich dich! Los – gib die Kette!«

Kröte legte ihm das Schmuckstück in die Pranke. Viel lieber hätte sie ihm ein oder zwei seiner Finger abgebissen.

Woulf trat hinzu. »Herr Wachsoldat. Nun erfüllt Euren Teil des Handels und geleitet uns zu Gunter vom Adlerstein.«

Der Hüne betrachtete ihn wie einen Spucknapf. »Halt’s Maul, Wirt. Meine Abmachung habe ich ausschließlich mit der Kleinen hier, also misch dich nicht ein.« Er ließ Kröte los. »Im Gegensatz zu den Pudersäcken halte ich mein Wort und geleite dich nach oben. Den Blumenkerl nehmen wir mit. Soll uns dieser Knospenwirt auch begleiten? Oder soll ich ihn hier festsetzen lassen?«

Mehr Beteiligte bedeutete weniger Aufmerksamkeit für sie. »Wir sollten zu viert gehen«, entschied Kröte.

»Also gut. Dann mal los!«

Auch die Menschentraube rückte vor. Bei dieser Gelegenheit wollte ein Gutteil von ihnen ebenfalls durch das Schlammtor die Bresche hoch. Mehrere Soldaten mit Hellebarden drängten sie zurück.

»Ihr habt kein Recht, uns hier unten einzusperren!«, beschwerte sich einer. »Ich wohne im Kupferring.«

»Dann warte, bis das Tor wieder freigegeben wird!«, lautete die lapidare Erwiderung.

Mit Gewalt schloss sich der Torflügel hinter Rutger, Pitter, Woulf und Kröte.

Obwohl sie sich in Gewahrsam der Schildwache befand, genoss sie den Gang die entvölkerte Himmelstreppe hoch. So leer hatte sie die Bresche noch nie erlebt, links und rechts säumten Lampen die höher liegenden Schuhstiege. Dazu hatte die Schildwache langstielige Fackeln aufgestellt, vermutlich damit niemand ungesehen den Weg hinaufschleichen konnte. Wabernde Schatten auf Stufen und Wänden hauchten der Umgebung Leben ein.

Rutger machte keinerlei Anstalten, sie erneut festzuhalten, sondern ließ sie neben sich herlaufen. Für einen seiner Schritte brauchte Kröte zwei.

»Woulf und Pitter können nicht so schnell«, mahnte sie, denn die beiden blieben zurück, weil der Wirt seinen Freund nach wie vor stützen musste.

Der Hüne grummelte etwas, ließ sich dann aber dazu herab, Pitter zu helfen.

Die meisten Wachen erkannten ihren Führer, bevor er »Lasst uns durch!« brüllen musste. Offensichtlich eilte ihm sein Ruf voraus – die Tore öffneten sich wie von selbst. Sie passierten die Staubringtürme, es folgte das Kupferringtor, und schließlich standen sie vor dem Eingang zum Bronzering. Hier lugten bestimmt ein Dutzend Wachen durch die Fenster über dem Tor auf sie herab.

Nach einem kurzen Wortwechsel durften sie passieren, wobei sie fortan von zwei Schildwachen mit ockerfarbenen Umhängen eskortiert wurden.

Sie marschierten in Richtung der Gelben Burg.

Das Tor der aus hellem Sandstein gebauten Festung stand sperrangelweit offen. Augenscheinlich hatte ein Bote den Hauptmann der Schlammwache bereits über ihr Kommen informiert, denn ihnen schritt ein bartloser Mann mit gelocktem, langem Haar entgegen. Der Wind bauschte den typischen braunen Umhang der Schlammwache auf.

»Schau mal, wen ich dir alles bringe!«, rief Rutger.

Wortlos blieb der Hauptmann im gut beleuchteten Innenhof vor ihnen stehen und musterte die Neuankömmlinge mit scharfem Blick. Eine Augenbraue zuckte nach oben, als er Pitter betrachtete. Er überging Woulf und lenkte seine Aufmerksamkeit auf Kröte. Sie glaubte zu spüren, wie seine Blicke regelrecht an ihr zupften. Sie stand immer noch unter dem Einfluss des Blumenharzes, ein Sturm unterschiedlichster Empfindungen wehte ihr durch den Kopf. Sie versuchte, die Widersprüchlichkeiten, die sich ob dieser Begegnung in ihr auftaten, zu begreifen. Wie passte das intelligente, neugierige Flackern in den Augen des Hauptmanns mit seinen ernüchtert verkniffenen Mundwinkeln zusammen? Seine Brigantine wirkte altbacken, doch gut gepflegt, an seinem Schwertgurt baumelte eine Hasenpfote. Warum sich ein scharfsinnig denkender Mensch mit toten Tierteilen schmückte, konnte Kröte nicht nachvollziehen – sie selbst lehnte jede Art Talismane ab. Was sollte der bewirken? Die Götter gnädig und gewogen stimmen. Welche auch immer.

Aber diesen Mann umgab eine ganz spezielle Aura, er strahlte spürbar mehr aus, als die in die Jahre gekommene Kleidung, die abgewetzte Hasenpfote und der schlammige Umhang vermuten ließen. Langsam begriff Kröte, warum Wacker so große Stücke auf diesen Gunter vom Adlerstein hielt. Bevor der Hauptmann das erste Wort gesprochen hatte, wusste sie, dass er sie nicht anlügen würde und sie ihm ein gewisses Vertrauen entgegenbringen konnte. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass er sie nicht konsequent an den Galgen bringen würde, wenn sie den Bogen überspannte. Doch in der augenblicklichen Situation würde er ihr helfen und das Richtige tun – zu dieser Schlussfolgerung verhalf ihr die Menschenkenntnis oder das Blumenharz oder beides in Kombination.

Kröte hielt seinem Blick stand. »Gut, dass wir uns treffen.«