Dem Tode nah

73. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel

Der Kerl führte eine verdammt flinke Klinge. Gunter war in Schweiß gebadet und hatte den Verdacht, dass der Meisterfechter immer noch nicht alles gezeigt hatte, was er konnte. Er wagte es nicht einen Herzschlag lang, den Blick vom Schwarzhaarigen zu nehmen. Seine Gefährten schienen noch beschäftigt zu sein. Er hörte den Lärm der anderen Kämpfe. Rutger, mach schneller, dachte er verzweifelt. Brachiale Gewalt wäre jetzt nicht schlecht.

Gunter riss den Kopf zur Seite, um einem Stich, der auf sein Gesicht zielte, auszuweichen. Der Schwarzhaarige tänzelte vor und zurück. Er hatte sichtlich Spaß. Er führte eine dieser neuen Klingen, die man hin und wieder sah. Ein Stoßrapier. Einen Schritt lang, schmal wie ein Finger, aus bestem Stahl gefertigt, und die Hand des Fechters wurde von einem Korb aus verschlungenen Bronzeschlangen geschützt. Die Mehrzahl der Krieger, die Gunter kannte, hielt diese Art Waffe für ein Spielzeug. Nicht so Genoveva. Hätte er sich nur ein paar Fechtstunden mit der Trabantin gegönnt! Rapiere waren verflucht schnell. Abgesehen von einem Lederwams trug sein Gegner keinerlei Rüstung, was ihn außerordentlich beweglich machte. Er würde sich unter Rutgers Zweihänder vermutlich einfach hinwegducken.

»Zwei!«, rief der hagere Drecksack.

Gunter riss die Klinge hoch, um einen weiteren Stich wegzudrücken, der ihn links im Gesicht treffen würde.

Der Fechter drehte seine Waffe mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk unter Gunters Schwert hinweg und stach rechts zu.

Gunter spürte, wie kalter Stahl ihn streifte. Warmes Blut rann über seine Wange und troff am Kinn hinab. Er spürte keinen Schmerz. Das würde später kommen.

Sein Gegner trat erneut zurück. »Pfeift Eure Kettenhunde zurück, Hauptmann, sonst muss ich das hier sehr schnell beenden. Eure Ehre wird keinen Schaden nehmen. Ihr habt bis zum ersten Blut gegen einen besseren Fechter gekämpft.«

Gunters Atem ging keuchend. Endlich war für einige Herzschläge Zeit zu sehen, was die anderen trieben. Genoveva hatte es offensichtlich mit einem geübten Fechter zu tun, aber sie schlug sich gut und wirkte nicht, als sei sie in Not. Rutger gebärdete sich wie ein Berserker, und eine Spur von Leichen kennzeichnete seinen Weg durch die Höhle. Außer dem nächsten armen Schwein, dem er den Schädel einschlagen wollte, nahm er nichts um sich herum wahr.

Auch der Meisterfechter blickte kurz zu Rutger und Genoveva. Es sah nicht gut aus für seine Seite. Er hob die Klinge, um Gunter zu grüßen. »Keine Antwort ist auch eine Antwort, Hauptmann.«

Jetzt würde nur noch einer dieser kleinen schmutzigen Tricks helfen, die ihm Wacker – einst eine Legende unter den Doppelsöldnern der Schwarzen Schar  – beigebracht hatte. Er sollte …

Mit einem wütenden Schrei stürzte sich Rami auf den Fechter. Er musste sich bei den Toten einen Dolch besorgt haben, den er wie ein Brotmesser hielt. Das war nicht gut! Der Schwarzhaarige schwenkte sein Rapier in Richtung des Aschlings.

Gunter machte einen Ausfallschritt und zielte mit der Klinge abwärts. »Der schnelle Stich in den Fuß überrascht die meisten und beendet den Kampf, bevor er anfängt«, hatte ihn Wacker gelehrt.

Der Meisterfechter drehte sich mit tänzerischer Eleganz, und Gunters Klinge klirrte Funken stiebend auf den Felsboden.

»Der Klassiker der Verzweifelten«, bemerkte sein Gegner spöttisch. »Der schnelle Stich in den Fuß. Sehr vorhersehbar.«

Aus der Drehung versetzte der Fechter Rami einen Tritt gegen die Brust, der den Aschling durch die Luft schleuderte. Der hagere Söldner drehte sich weiter. Sah zu Gunter. Seine Klinge schnellte hoch.

»Drei! Sauberer Stich in die Kehle. Das war es mit uns, Hauptmann.«

Einen Herzschlag lang sah Gunter den Stahl unter seinem Kinn. Dann glitt die Klinge zurück. Der Meisterfechter hob sein blutbeflecktes Rapier zum Gruß. »Stirb wohl, Hauptmann.« Damit wandte er sich ab und ging ruhig Rutger entgegen, der wie ein wütender Stier heranstürmte.

Gunter griff sich an den Hals. Blut quoll zwischen seinen Finger hindurch. Er fühlte sich schwach, kniete nieder, bevor er stürzte. Er wollte etwas sagen, brachte aber nicht einmal ein Krächzen hervor.

Nasiima war plötzlich an seiner Seite. Sie nahm ihn in die Arme. »Du kannst jetzt nicht gehen. Hörst du? Ich verbiete dir, dass du einfach von uns gehst, du …« Sie brach ab. Brachte nichts mehr über die Lippen. Es war das erste Mal, dass Gunter sie sprachlos erlebte.

Er hätte ihr gern etwas gesagt, aber er war sehr müde.

»Eins!«, hallte es durch die Höhle.

Gunter wandte den Kopf. Der Fechter tänzelte um Rutger. Es sah nicht gut aus für den Doppelsöldner.

Rami hinkte heran.

»Du musst ihm helfen«, drängte Nasiima den Aschling.

Gunter schüttelte den Kopf. Nicht noch mehr Unheilung! Er gab einen gurgelnden Laut von sich. Den Kopf mit durchstochener Kehle zu schütteln, war eine dumme Idee gewesen. Grelle Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Der Schmerz war so intensiv, dass ihm Tränen in die Augen traten. Wie peinlich! Jetzt flennte er wie ein Kind.

Der Aschling trat dicht vor ihn und zog sein Facett unter der Tunika hervor. Etwas glühte tief im Stein. Ramis kleine graue Hand legte sich auf Gunters Kehle. Sie war warm. Beinahe heiß. Die Züge des Unheilers verhärteten sich vor Anspannung.

Das ist wohl eher kein gutes Zeichen, dachte Gunter. Ein Stich in die Kehle eben.

»Zwei!«, hallte es durch die Höhle.

Rutger machte einen Satz zurück. Auf seiner rechten Wange klaffte ein tiefer Schnitt. Das sah übel aus.

Es fühlte sich an, als rühre Rami mit einem glühenden Schüreisen in seiner Kehle herum. Da war ein Flackern in den Augen des Aschlings. Als brenne ein Feuer darin. Bestimmt nur das reflektierte Licht des Facetts. Dennoch wandte Gunter den Blick ab. Diese Augen waren unheimlich.

Der Fechter trat zurück, wie immer, wenn er einen Treffer gelandet hatte. Er ließ die Klinge auf und ab wippen, als plötzlich ein Schatten hinter der Tropfsteinsäule neben ihm hervorschnellte. Woulf! Der Wirt lief geduckt, hatte die Hände schützend über den Kopf gefaltet, als prasselten Schläge auf ihn nieder, und warf sich hinter dem Fechter zu Boden, so dass er ihn unter Kniehöhe rammte.

Der Meisterfechter strauchelte, hielt gerade noch die Balance, als Rutger ihm mit Wucht zwischen die Beine trat.

Mit einem gellenden Schrei stolperte der Fechter über Woulf und schlug hart auf den Höhlenboden. Rutger setzte sofort nach und sprang über den Wirt hinweg. Wie eine Sense fuhr sein Zweihänder nieder.

»Drei!«, rief der Doppelsöldner triumphierend. »Glatter Schnitt durch den Hals.« Er bückte sich und hob den Kopf des Fechters an dessen Haaren hoch. »Für dich, Hauptmann! Der ist noch vor dir drüben.«

Was für ein Barbar, dachte Gunter und musste doch lächeln. »Gut gemacht«, sagte er leise.

Rami griff ihm an die Wange.

Nasiima glotzte ihn an. »Du sprichst wieder, Vetter. Du sprichst!« Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Stirn. Dann wirkte sie erschrocken über sich selbst, räusperte sich und sagte so ernst und würdevoll, wie es nur jemand konnte, der jahrelang an einem Königshof gelebt hatte: »Gut gemacht, Rami Verglimm. Sehr gut. Ich bin beeindruckt. Man stelle sich den Skandal für die Familie vor, wenn ein vom Adlerstein in einem feuchten, kalten Schmugglerstollen stirbt.« Da war sie wieder, die alte Nasiima. Das hatte nicht lange gedauert.

Gunter tastete über seine Kehle. Die Blutung war gestillt. Da war kein Schnitt mehr. Nicht mal eine Narbe. »Unglaublich«, sagte er zögerlich, rechnete damit, dass der Schmerz zurückkehrte.

Rami nahm die Hand von seiner Wange. Er wirkte müde.

»Das war ganz große Kunst!« Nasiima bedachte den Aschling mit einem Blick, als schmiede sie bereits grandiose Zukunftspläne für ihn.

Rami winkte ab. »Das war nicht sehr schwer. Ein glatter Stich, ein glatter Schnitt. Leicht zu heilen. Eitrig schwärende Wunden, zerfetztes Fleisch, gesplitterte Knochen … Das sind Herausforderungen!«

»Und ’ne graue Hand«, grummelte Woulf, der gemeinsam mit Rutger zu ihnen herüberkam.

Der Doppelsöldner kniete nieder und legte Gunter den tropfenden Kopf des Fechters vor die Füße. »Ein Andenken an die Nacht, in der du fast gestorben wärst.« Er wandte sich an Rami. »Kannste den Schnitzer auf meiner Backe wegmachen? Da ’ne Narbe zu haben, würde übel beim Rasieren stören. Und die Weiber mögen so was auch nicht.« Er grinste Nasiima frivol an.

Gunters Base wandte sich angewidert ab.

»Also ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht …«

»Willst du ’nen großen Freund in der Schildwache haben?« Rutger grinste und blutete auf den Aschling, als er sich über ihn beugte. »Das kann sehr hilfreich sein, wenn man mal wieder im Kerker sitzt.«

Gunter fühlte sich erstaunlich gut dafür, dass ihm gerade die Kehle durchstoßen worden war. Er schob das Andenken, das ihm Rutger gereicht hatte, von sich und sah zu, wie der Aschling mit einem einzigen Streicheln über die Wange die böse Schnittwunde des Doppelsöldners heilte. Und da war es wieder, das unheimliche Leuchten tief in Ramis Augen. Er konnte das nicht dulden!

»Rami Verglimm«, sagte er ernst. »Durch die Ausübung der magischen Kraft der Unheilung verstößt du gegen die Gesetze von Grubenstedt und bringst die Stadt in Gefahr.« Seine Rechte schloss sich fest um den Arm des Aschlings.

»Seid Ihr verrückt geworden, werter Vetter?« Nasiima sah ihn fassungslos an. »Ohne Rami wärt Ihr in Eurem eigenen Blut ertrunken.«

»Rutger! Nimm den Aschling fest!«

Der Doppelsöldner schüttelte langsam den Kopf. »Nein.«

»Gesetze sind der eherne Wall gegen das Chaos. Ohne Gesetze und den Willen, sie einzuhalten, sind wir nichts. Genoveva! Kommt her und verhaftet den Aschling!«

»Das kann ich nicht, Hauptmann.« Die Trabantin kniete auf dem Rücken des Fechters, mit dem sie sich so lange duelliert hat. »Es besteht die Gefahr, dass der Kerl hier verschwindet, wenn ich ihn jetzt nicht binde.«

»Wenn Ihr das tut …« Nasiima bohrte Gunter einen Finger in die Brust. »Das ist eines vom Adlersteins nicht würdig.«

Gunter war zufrieden zu sehen, wie sie sich geschlossen vor Rami stellten. »Im Namen der Schildwache erkläre ich dich für verhaftet.«

»Das ist …«, begann Nasiima.

Gunter brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Aus Recht muss Gerechtigkeit erwachsen, Rami Verglimm. Du hast heute das Leben eines Hauptmanns der Schildwache gerettet und dabei Gefahr für deinen Leib und dein Leben auf dich genommen. Eine Gemeinschaft, die Männer wie dich hervorbringt, darf von Stolz erfüllt sein. Ich mache Gebrauch von meinem Rang als Hauptmann und begnadige dich im Namen der Stadt, für deine außerordentlichen Verdienste und deinen Heldenmut. Doch ich muss dich ermahnen, von der Unheilung abzulassen. Sie ist der Grund für das Flackern des Schildes, und sie gefährdet die Stadt.«

»Bei allem, was recht ist«, meldete sich Kröte zu Wort und deutete zur Öffnung in der Höhlendecke. »Wir haben uns zu lange mit Gemetzel und Gelaber aufgehalten. Die Olle ist entkommen.«

Gunter sah auf. Der Korb war in dem Deckenloch verschwunden, und jemand dort oben holte das Seil des Flaschenzugs ein.

»Die sind entwischt«, bemerkte Rutger nüchtern.

»Das wären sie wohl, wenn ihr ohne ’ne Kröte unterwegs wärt.« Die schmächtige Diebin lief auf eine der Säulen zu, die aus verwachsenen Stalagmiten und Stalaktiten entstanden waren. Behände begann sie, an dem rutschigen Gestein hochzuklettern.

»Ich wollte es nicht glauben, als sie mir erzählte, dass sie so in die Nadel eingestiegen sei«, murmelte Nasiima mit widerwilliger Anerkennung.

»Das müsst Ihr verbieten Hauptmann!«, rief Woulf. »Die bricht sich gleich den Hals. Dabei kann man doch nicht einfach zusehen. Macht was!«

Ich hätte sie nicht geschickt , dachte Gunter, aber nun, da sie auf dem Weg war, würde er sie nicht aufhalten. Sie war ihre letzte Hoffnung, die fliehende Unheilerin vielleicht noch einzuholen.

Kröte war schon mindestens zehn Schritt hoch und hatte etwas mehr als den halben Weg hinauf zur Höhlendecke geschafft. Allein ihr zuzusehen, verursachte Gunter ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Er trat an einen Stalagmiten und strich über den bleichen Stein. Er war feucht und glitschig vom Kalk. So ein Ding hinaufzuklettern, war, als versuche man, ein riesiges Stück Schmierseife zu erklimmen. Wie machte die Kleine das nur? Keine Palastfassade der Stadt war vor ihr sicher. Aber im Schlammring stehen ja keine Paläste, dachte er mit grimmigem Lächeln. Ihr Talent würde nicht seine Sorge sein.

»Nein!«, schrie Rami auf.

Kröte war abgerutscht und hing nur noch an einer Hand. Verzweifelt suchte sie mit den Füßen Halt.

»Scheiße! Die kratzen wir gleich vom Höhlenboden.« Rutger bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »War ’ne blöde Idee, die Kleine da hinaufzuschicken.«

»Es war ihre Idee«, protestierte Gunter.

Irgendwie fand Kröte zurück an den Felsen. Die krabbelt wirklich wie eine Fliege. Gunter hörte Nasiima hinter sich erleichtert aufatmen.

»Und was macht sie, wenn sie oben an der Säule ist?«, fragte Genoveva in die Runde. »Von da sind es mindestens fünf Schritt bis zur Öffnung in der Decke.«

»Die ist aus dem Dreck des Schlammrings geboren. Die schafft das!« Rutger schien völlig vergessen zu haben, wie er ihn, seinen Hauptmann, eben noch angegangen war.

Gunter hielt den Atem an, als Kröte das Ende der Säule erreichte, das in einer Wölbung mit der Decke verschmolz. Ringsherum hatte der Fels kleinere Stalaktiten geboren, die wie Vipernzähne aus der Decke ragten. Kröte griff nach einem. Er brach ab und stürzte in die Tiefe. Sie reckte sich ein wenig weiter und streckte die Hand nach dem nächsten aus.

»Da wird einem ja nur vom Zusehen ganz anders!«, jammerte Woulf. Dem Wirt stand der blanke Schweiß auf der Stirn.

Die kleine Diebin griff entschlossen nach dem Stalaktiten.

Gunter konnte sehen, wie ihre Hand auf dem glitschigen Zapfen rutschte.

Sie stieß sich von der Säule ab, nutzte den Schwung, um nach dem nächsten Tropfstein zu greifen, und schwang sich weiter.

Einer der steinernen Dornen brach ab und stürzte hinab, kaum dass sie ihn losgelassen hatte. Aber das hielt Kröte nicht auf. Sie hangelte sich von Dorn zu Dorn, als kenne sie keine Angst. Am letzten Stalaktiten, nah am Loch in der Decke, schwang sie sich halb herum und griff hinauf in die dunkle Öffnung im Felsen. Sie zog ihren kleinen drahtigen Körper mit erstaunlicher Kraft hinauf in die Finsternis. Dann war sie verschwunden. Ein kopfgroßer Fels fiel aus dem Dunkel und zerschellte krachend auf dem Boden.

War sie entdeckt worden? Warf die Unheilerin mit Steinen nach ihr?

Alle blickten mit in den Nacken gelegtem Kopf nach oben. Niemand sagte etwas.

Dann erschien der Korb in der Öffnung. Breit grinsend ließ sich Kröte am Seil des Flaschenzugs in die Höhle hinab. »Na, Hauptmann. Willst du mich jetzt verhaften, weil ich verboten gut klettere?«

»Nur wenn ich dich an einem Ort im Schlammring erwische, wo du nicht hingehörst. Weiter oben bist du das Problem meiner Kameraden.«

Kröte schaute in die Runde. »Hoffe, keinem von euch ist der bösartige Stein auf die Füße gefallen, der sich gelöst hat und mich in den Abgrund reißen wollte.«

Der Korb setzte hart auf dem Höhlenboden auf.

»Jetzt sind Muskeln gefragt, Hauptmann.« Rutger winkte ihm. Gemeinsam stiegen sie in den Korb, dessen geflochtene Zweige bedenklich unter dem Gewicht des Doppelsöldners knackten.

Rutger lieferte, was er versprochen hatte. Seine Zugkraft beförderte den Korb schneller in die Höhe, als dies zuvor der Helfer der Unheilerin geschafft hatte. Ihre Reise endete in einer kleineren Höhle, die deutlich näher am Tageslicht war. Sickerwasser perlte aus den unzähligen Poren des schwammartigen Gesteins und verschwand im Boden. Es roch nach Moder. Gunter richtete die Blendlaterne auf einen Tunnel, den einzigen Fluchtweg. Er war finster wie die Nacht, aber in der Ferne glaubte der Hauptmann, schlurfende Schritte zu hören.

Als Rutger wieder in den Korb steigen wollte, hielt Gunter ihn zurück. »Die anderen müssen es selbst schaffen. Jetzt ist Eile das höchste Gebot.«

Der Doppelsöldner blickte in den Tunnel, knurrte etwas, stieß den Korb durch die Öffnung im Boden und zog seinen Katzbalger, das kurze Schwert mit breiter Klinge und s-förmiger Parierstange. »Zu eng für ’nen Zweihänder«, sagte er und schob sich vor Gunter. »Einmal sterben ist genug für einen Tag. Ich geh voran.«

Gunter war nicht in der Stimmung zu widersprechen und übernahm die Laterne. So schnell es der unebene Boden erlaubte, stürmten sie vorwärts.

Der Gang wand sich wie ein Regenwurm am Haken. Alle paar Schritt wechselte er die Richtung, so dass Gunter nie weit voraus sehen konnte. Meist erblickte er nicht mehr als Rutgers breiten Rücken, außer in jenen Abschnitten, wo sich der Tunnel zu unregelmäßigen Felskammern verbreiterte. Es ging kontinuierlich bergauf.

Unvermittelt blieb der Doppelsöldner ruckartig stehen. Gunter lugte an ihm vorbei. Der Tunnel weitete sich hier erneut zu einer kleinen Höhle. Auf einem Haufen Abraum an der linken Wand saß eine schlanke Frau mit kurzem braunem Haar. Ihr asketisches Gesicht wirkte alterslos. Ihre großen Augen blickten müde. Sie war in eine karmesinrote Robe aus kostbarem Brokat gekleidet. Der Stoff hatte mindestens so sehr gelitten wie die Frau selbst. Der Saum war eingerissen, das edle Gewand mit dem Schlamm des Bergwerks besudelt.

Gunter schob sich an Rutger vorbei, der misstrauisch in den Tunnel blickte, zu dem sich die Höhle nach ein paar Schritt wieder verengte.

»Das riecht nach ’ner Falle«, flüsterte der Recke.

Gunter tastete nach der Hasenpfote an seinem Gürtel. Manchmal hatte man auch einfach Glück. Es schien, als seien die Kämpfe beendet.

»Ihr seid der verbotenen Unheilung beschuldigt«, sagte er mit fester Stimme und verließ sich darauf, dass sein harscher Ton und Rutgers Anblick genügte, um die Dame in Rot zu beeindrucken.

Es genügte nicht …

»Ich empfinde den Begriff der Unheilung als sehr unglücklich gewählt«, entgegnete sie ruhig. Sie klang erschöpft. »Ich lindere das Elend und bereichere mich nicht durch meine Gabe. Das Unglück ist, dass ich mich wegen dem, was ich tue, verstecken muss.«

Einen Augenblick lang war Gunter perplex. Das war unglaublich dreist! »Euch ist schon klar, dass der Schutzschild der Stadt zu flackern beginnt, wenn Unheiler ihre dunkle Kunst ausüben?«

»Und was wiegt schwerer?« Sie hatte schöne blaue Augen und einen eindringlichen Blick. »Ein Augenblick des Flackerns oder ein gerettetes Leben?«

»Der Schutzschirm war zusammengebrochen. Grubenstedt besaß für eine Weile keine Stadtmauer! Ihr rettet ein Leben und gefährdet die ganze Stadt. Da muss ich nicht lange überlegen, was schwerer wiegt.«

Jetzt bröckelte die Selbstsicherheit der Heilerin sichtlich. »Der Schirm ist zusammengebrochen? Aber das ist doch noch nie geschehen …«

»Ihr habt Euer Wirken wahrlich übertrieben!«

»Der Mann mit der grauen Hand«, sagte sie nachdenklich. »Vielleicht …«

»Wo sind Eure übrigen Leibwächter?«

»Fortgelaufen. Ich war am Ende meiner Kräfte. Sie wollten oder konnten mich nicht tragen und haben Eure Schritte im Tunnel hinter uns gehört. Sie haben durch das Loch in der Höhlendecke das Gemetzel beobachtet, das dieser …« Sie bedachte Rutger mit einem verächtlichen Blick. »Das dieses Vieh da angerichtet hat. Die schlotterten vor Angst.«

»Völlig zu Recht«, kam es markig von Rutger.

»Werdet Ihr mir ohne Widerstand folgen?«

»Der Schirm …« Sie wirkte aufgewühlt. »Ist er wieder da?«

»Eine Zeitlang sah es fraglich aus. Aber ja, er spannt sich wieder über die Stadt. Könnt Ihr laufen?«

»Säße ich dann hier?« Sie lächelte entschuldigend. »Habt ein wenig Geduld mit mir. Ich heiße übrigens Artemisia.« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Rutger blickte zu dem Tunnel, durch den die Gehilfen der Unheilerin verschwunden waren. »Die spielt auf Zeit …«

»Ich spiele nie!«, stellte Artemisia scharf klar. »Das ist etwas für Glücksritter, wie Ihr einer seid. Ein Mann ohne Moral, der davon lebt, dass er sich zur Ermordung anderer anheuern lässt. Ich bin ein Geschöpf des Lebens und nicht des Todes, so wie Ihr.«

»Ich würde den Mund mal nicht so voll nehmen, Madämchen. Ich wette, deine Liste der Toten ist wesentlich länger als meine. Und auf meiner Liste stehen nur Arschlöcher und Trottel, die so dumm waren, sich mir in den Weg zu stellen.«

»Bei mir gibt es nur eine Liste der Geheilten«, sagte sie bestimmt und hielt Rutgers Blick stand.

Gunter konnte nicht anders, als in diesem Augenblick Respekt vor ihr zu empfinden. Dem wütenden Doppelsöldner die Stirn zu bieten, wagten nur die wenigsten. Und es überlebten noch weniger.

»Was ist mit all denen, die du zu Pflanzendünger gemacht hast, Heuchlerin? Zählen die nicht?«

»Manche Kranke sind nicht mehr zu retten. Ich kann ihnen auf dem kurzen Weg, der ihnen noch bleibt, lediglich Linderung verschaffen. Solche Menschen auf eine Todesliste zu setzen und meine Taten mit den Euren zu vergleichen, ist einfach nur perfide!«

»Ich spreche von jenen Unglücklichen, denen Mohnblüten aus dem Arsch wachsen oder die an einem Hals voller Ähren ersticken!«

Die Unheilerin sah Rutger auf eine Art an, wie man Fliegen auf einem Scheißhaufen betrachtete. Gunter schob sich zwischen die beiden, bevor es ein Unglück gab.

»Hat Euer Mann einen Schlag auf den Kopf bekommen? Er redet wirr.«

Gunter musste tief einatmen und für einige Herzschläge die Augen schließen, um ruhig zu bleiben. »Dort in der großen Höhle stirbt gerade ein Mann, der vor wenigen Stunden bei Euch war. Er wird von den Pflanzen erdrosselt, die ihm durch die Kehle wuchern.«

»Das kann nicht sein!«, entgegnete sie entschieden.

»Nicht?« Es wurde Gunter endgültig zu viel. »Wir gehen nach unten. Ihr seht ihn Euch an, und dann sagt Ihr mir noch einmal ins Gesicht, dass das nicht sein kann. Rutger. Trag sie. Ich will, dass sie bei Kräften ist, wenn sie Pitter sieht.«

»Ist mir ein Vergnügen!« Rutger schob den Katzbalger in die Scheide, ging zu der Unheilerin, die keinen Widerspruch mehr erhob. Grob und gründlich durchsuchte der Doppelsöldner sie nach Waffen. Dann nahm er sie auf seine Arme.

Dieses Mal ging Gunter voran. Er leuchtete den Tunnel aus. Es war leicht, den Weg zurückzufinden. Es gab keine Abzweigungen. Sie mussten das Ziel schon fast erreicht haben, als er vor sich Schritte im Tunnel hörte. Erschrocken verharrte Gunter, wechselte die Laterne in die Linke und legte die Rechte auf den Schwertgriff. Es war alles zu leicht gewesen. Eine nette, harmlos wirkende Dame als Quell des Übels, als die Mörderin so vieler Unschuldiger. Er war sich bewusst, dass ihm seine guten Umgangsformen auf gefährliche Art im Weg standen. Hätte er hier im Tunnel einen vernarbten Söldner mit finsterem Blick gestellt, er hätte nicht gezögert, ihm gleich vor Ort Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber diese Artemisia hatte etwas an sich … Sie wirkte arglos, ehrlich, etwas naiv. Vielleicht ist das alles nur gespielt.

Die Schritte im Dunkel näherten sich unerbittlich. Gunters Rechte schloss sich fest um den Griff seines Schwertes, als Nasiima um die Biegung des Tunnels kam.

»Was macht Ihr denn hier?«

Seine Base sah ihn vorwurfsvoll an. »Was wohl? Ich habe entschieden, dass hier außer zwei Kriegern auch jemand mit klarem Verstand gebraucht wird. Genoveva kommt als Nächste hoch. Woulf und Rami kümmern sich um Pitter. Mit ihm ist es wohl bald vorbei. Und Euer Recke Klas hat nach den Kämpfen unten die Hose voll und sich nicht gerade nach vorne gedrängelt.« Sie blickte zu Rutger. »Ihr habt sie also erwischt.«

»Ich habe aufgegeben zu fliehen«, stellte Artemisia klar. »Und ich bin bereit, vor Gericht darüber zu streiten, ob es wirklich ein Unrecht ist, Mittellosen zu helfen.«

»Sie sollte Pitter sehen«, sagte Gunter. »Mir scheint, sie ist sich nicht aller Konsequenzen ihrer Taten bewusst.« Er wandte sich um. »Wohin sollte die Flucht eigentlich gehen?«

Artemisia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Meine Beschützer waren plötzlich sehr aufgeregt. Man hat mir nur mitgeteilt, dass ich aus den Stollen an einen sicheren Ort gebracht werden sollte.«

»Und wer hat Euch beauftragt, meine Liebe?«, mischte sich Nasiima in die Befragung ein.

»Ein Menschenfreund. Er hat mir einen Boten geschickt, der mir von den schrecklichen Missständen in Grubenstedt berichtet hat. Ich war nicht mehr als eine begabte Kräuterhexe, bis mir der Bote jenes Facett anvertraute, mit dem ich so viele Leben retten konnte …« Sie senkte den Blick. »Er hat mir auch etwas Gold überlassen, um mich zu überzeugen. Aber wirklich nicht viel. Eigentlich waren es die Argumente seines Boten, die mich überzeugt haben.«

»Natürlich«, sagte Nasiima leise.

»Und wer war dieser Bote?«, drängte Gunter.

»Wolfram.« Sie seufzte. »Er war stets sehr umsichtig und hat mir alles besorgt, was ich benötigte, um mich tief in den Tunneln wohlzufühlen. Wolfram organisierte, wie mir die Siechen zugeführt wurden. Er hat meine Wächter ausgewählt. Und er wollte mich zu meinem Gönner bringen. Ihr kennt Wolfram. Er hat pechschwarzes Haar.«

»Der Fechter!« Gunter griff sich an die Kehle.

Rutger rollte mit den Augen, was wohl so viel heißen sollte wie: Die redet sich nur raus. Aber Gunter fürchtete, dass es die Wahrheit sein könnte. Vielleicht wusste sie ja wirklich nicht von den Todesfällen und wie verheerend ein Versagen der Kuppel war; vielleicht hatte sie einfach nur Leidenden helfen wollen.

Sie erreichten den Flaschenzug, der hinab in die große Höhle reichte. Rutger stieg als Erster in den Korb. Die Unheilerin stellte er neben sich. Sie lehnte sich erschöpft an den Doppelsöldner. Gunter fand nicht, dass sie wie eine Lügnerin aussah. Eher wie eine Menschenfreundin. Sie schien nicht zu wissen, worauf sie sich hier eingelassen hatte, und war offensichtlich zu gutgläubig gewesen, sich zu fragen, warum sie Krieger als Wächter hatte und keine Heilkundigen. Oder war er es, der zu gutgläubig war? Erlag er ihrem Charme? Ließ er sich blenden? Er wusste, wie er die Wahrheit herausfinden würde.

Der Flaschenzug quietschte. Gunter blickte zu den Rollen an der Höhlendecke. Viele Fahrten mussten sie nicht mehr aushalten.

»Hauptmann?«

Das war nicht Nasiimas Stimme. Gunter drehte sich um. Sah das Messer am Hals seiner Base. Und hinter ihr den Mann, dem es gehörte. Begleitet von einem Spießgesellen.

»Ihr solltet mich loslassen«, sagte Nasiima bewundernswert ruhig. Ganz langsam legte sie ihre Rechte auf die Hand, die das Messer hielt. Mit der Linken nahm sie den zweiten Krieger bei der Hand, als seien sie ein Liebespaar auf einem Spaziergang.

»Der Kleinen gefällt es bei uns. Mir scheint, die will mit uns gehen. Wahrscheinlich braucht die mal zwei richtige Kerle.«

Gunter strich über die Hasenpfote an seinem Gürtel.

»Hand weg vom Schwert!«, sagte der Kerl mit dem Messer.

Das Quietschen der Seilrolle verstummte. Rutger musste etwas gehört haben.

Die beiden Handlanger waren halb im Dunkel des Tunnels verborgen.

»Ich dachte, ihr haut ab. Das wäre die klügere Entscheidung gewesen«, sagte Nasiima bewundernswert gelassen. »Was wollt ihr?«

Gunters Gedanken überschlugen sich. Solange das Messer an Nasiimas Hals lag, konnte er es nicht wagen, sein Schwert zu ziehen. Gut, dass sie mit ihnen sprach. Das gab ihm mehr Zeit zu denken.

»Ihr gebt uns die Unheilerin. Der Alte hat uns zurückgeschickt. Mit dem willst du keinen Ärger, Hauptmann. Das sag ich dir.«

»Artemisia ist zu erschöpft. Ihr könnt sie nicht mitnehmen.«

»Müssen wir nicht«, sagte der Kerl, der Nasiima hielt. »Entweder sie rafft sich auf und läuft oder …«

Gunter sah, wie sich der Druck des Messers auf Nasiimas Kehle verstärkte.

Die Seilrolle begann wieder zu quietschen. Gunter blickte durch das Loch. Der Korb kam hoch. Rutger sah zu ihm herauf. Er hatte den Doppelsöldner noch nie so wütend gesehen.

»Lasst die Gefangene gehen!«, forderte Gunter scharf.

»Erst wenn wir die Unheilerin haben und am Ausgang des Tunnels stehen.«

»Das kann ich nicht hinnehmen.« Gunter überlegte fieberhaft, was er tun konnte. Sobald Rutger aus dem Korb stieg, würden Chaos und Blut regieren.

»Du wirst gegen uns nicht gewinnen. Wir haben gesehen, was du für ein lausiger Fechter bist. Wolfram hat dich ganz schön tanzen lassen.«

»Noch könnt ihr entscheiden abzuhauen. Wolfram hat damit zu lange gewartet und ist jetzt ganz schön tot. Macht nicht denselben Fehler.«

»Sie ist auf jeden Fall die Erste, die stirbt.« Der Druck der Klinge verstärkte sich noch etwas. Ein feiner Blutstropfen erschien auf Nasiimas Hals.

»Das reicht jetzt«, sagte sie so entschieden, als würde sie einen Richtspruch fällen.

Der Kerl, der Nasiima bedrohte, tat einen seltsamen Seufzer. Der, den sie bei der Hand hielt, keuchte auf. Er griff mit der freien Hand an seine Brust. Seine Augen quollen hervor.

»Das … tut so …« Seine Beine zitterten. Er brach in die Knie.

Das Messer an Nasiimas Hals entglitt den Fingern des Schurken.

Seine Base hielt die beiden immer noch fest. Sie zitterten am ganzen Leib. Auch der hinter ihr Stehende ging in die Knie. Er drückte den Rücken durch, keuchte, dann erschlaffte er plötzlich. Der Zweite kippte ebenfalls leblos zur Seite.

»Du kannst den Korb abseilen, Rutger. Hier oben ist alles in Ordnung.« Sie trat an die Öffnung im Boden und winkte dem Doppelsöldner huldvoll zu.

Gunter kniete sich neben die beiden Halunken, legte die Finger an den Hals des Messermanns. Da war kein Puls mehr. »Was habt Ihr getan? Die beiden hätten noch reden können!«

»Glaubt Ihr, die hätten den Mann verraten, der ihnen so viel Angst machte, dass sie lieber zu Rutger dem Metzger zurückgekehrt sind?« Nasiima bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. »Selbst in den Kerkern der Gelben Burg hätten sie nicht geredet.«

Gunter blickte auf die Toten und fühlte sich unendlich müde. »Ich hätte Eure Hilfe bei dem Fechter brauchen können, Base. Ich habe nicht geahnt, was Ihr zu tun vermögt.«

Nasiima schüttelte den Kopf. »Ich muss sehr nah herankommen und meine Feinde berühren. Die beiden Trottel hier haben es mir leicht gemacht. Sie haben mich für harmlos gehalten.« Sie schnaubte. »Der Fechter war anders. Ich hätte Euch geholfen, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte.«

Die Seilrolle stand still. Rutger war unten angekommen. Gunter entschied, dass er dies mit Nasiima ausdiskutieren würde, wenn er gewaschen und ausgeschlafen war. Er griff nach dem Seil und holte den Korb hoch. Gemeinsam mit seiner Base ließ er sich herab. Sie schwiegen, bis der Korb auf dem Boden aufsetzte.

Artemisia kniete bei Pitter.

Woulf rannen Tränen über die Wangen, aber kein Schluch zer kam über seine Lippen. Er wirkte wie versteinert.

»Ich hab das nicht gewusst!«, beteuerte die Unheilerin und sah Rami an. »Wirklich nicht. Ich hätte doch nicht …« Sie strich dem alten Trinker über die Stirn. »Ich wollte ihnen doch nur helfen. Ihnen allen … Ich wollte neue Hoffnung dorthin bringen, wo die Stadt am hoffnungslosesten ist.«

Sich Lügen anzuhören, war Gunters tägliches Geschäft. Sie klang nicht wie eine Lügnerin. »Ich muss Euch in die Gelbe Burg bringen, Artemisia. Alles, was sich ereignet hat, muss ans Licht gebracht werden. Man hat die Aschlinge verdächtigt. Es wird einen Prozess geben, und die ganze Stadt wird erfahren, was wirklich geschehen ist und was ihr getan habt.«

Rami nickte zufrieden.

Die Unheilerin sah Gunter verängstigt an. »Die werden mich hängen, nicht wahr?«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Dies ist eine raue Stadt, aber die Schildwache sorgt dafür, dass Recht und Gesetz etwas zählen. Ich werde für Euch aussagen. Ich glaube Euch. Und mein Wort hat Gewicht.«

»Sie sagt die Wahrheit«, sagte Kröte unvermittelt und mit einer feierlichen Gewissheit, als könne sie in den Gedanken der Unheilerin lesen.

Gunter betrachtete die kleine Diebin nachdenklich. Wusste sie etwas über die Unheilerin, das ihm entgangen war? »Seht Ihr, Artemisia, die Erste habt Ihr bereits überzeugt. Ihr werdet bestraft werden, doch man wird Euch anhören. Es wird lange verhandelt werden, aber am Ende wird Euch Gerechtigkeit widerfahren.«

Gunter hatte weniger als drei Stunden geschlafen, und der Regen half auch nicht, ihn wacher werden zu lassen. Es war ein elender grauer Morgen, und er wunderte sich, wie viele Schlammkriecher schon in der Bresche unterwegs waren. Die Tage der Unruhe waren wie ein Schluckauf für das schlammspeiende Ungeheuer gewesen – wie manche Grubenstedt nannten. Nun würgten die Minen wieder, und es schien, als solle alles nachgeholt werden. Vermutlich war das auch der Grund, warum der Obrist seine Hauptleute zum Appell einbestellt hatte. Es musste dringend beraten werden, wie das Unrecht, das man den Aschlingen angetan hatte, wieder geradegerückt werden konnte. Wenn der Obrist nur ein wenig geduldiger gewesen wäre …

Eine Bö klatschte Regen in Gunters Gesicht. Er blickte zu dem grauen, trostlosen Himmel auf. Es wird keine Leichen mehr geben, denen etwas aus dem Schlund wächst, dachte er zufrieden und tastete nach seiner Kehle. Es war verdammt knapp gewesen gestern Nacht. Diese merkwürdige Truppe, vom Schicksal zusammengewürfelt, hatte sich entgegen allen Erwartungen bewährt. Wäre er gestern nur mit der Schlammwache dort unten gewesen, dann würde er sich nie mehr über eine zu kurze Nacht ärgern.

Er bog auf die Straße zur Gelben Burg ein. Zwei Wachen standen vor dem Tor und grüßten zackig. »Ihr werdet im hinteren Hof erwartet, Hauptmann vom Adlerstein. Die anderen sind schon alle da.«

Im hinteren Hof? Er erwiderte fahrig den Gruß und beschleunigte seine Schritte. Der große Hof war verwaist. Kein Wunder, zu dieser Stunde und bei diesem Sauwetter. Er ging an den Ställen vorüber und nahm den Durchgang beim Heldenturm. Weiße Marmorplatten waren hier an den Wänden aufgehängt. Die Namen der Männer und Frauen, die im Dienst der Schildwache gefallen waren, waren tief in den Stein geschnitten und dann in roter Farbe nachgezogen worden. Er verharrte kurz an der hintersten Platte. Dort stand ein neuer Name: Cuno Sachtleben, Hauptmann im Kupferring.

Das hatte der Obrist gedreht. Eigentlich sollten hier nur jene stehen, die in Ausübung ihrer Pflicht gefallen waren. Cuno war entlassen gewesen. Aber er hatte seinen Platz an dieser Wand sicherlich verdient.

Gunter trat in den Regen auf den hinteren Hof hinaus und versteinerte. Vom Galgen hing eine frische Hanfschlinge. Die Hauptleute aller Ringe waren in Reihe angetreten wie Rekruten. Auf dem Podest unter dem Galgen stand der Obrist in polierter Vollrüstung. Ein weißer Umhang mit Goldstickerei an den Säumen hing tropfnass von seinen Schultern.

»Ihr seid der Letzte, Hauptmann Gunter Hyazinth vom Adlerstein«, begrüßte ihn der Obrist frostig. Alle Hauptleute blickten stur zu ihm auf. Niemand riskierte einen Blick in Gunters Richtung.

»Einreihen, Hauptmann!«, befahl der Obrist scharf.

Gunter nahm Aufstellung neben Hauptmann Opundelus, dem Befehlshaber der Spiegelhelme. Wie immer sah der Kerl aus wie aus dem Ei gepellt. Makellos weißer Umhang, nicht der kleinste Hauch Flugrost auf der gut gefetteten Plattenrüstung. Er hatte den Helm unter den Arm geklemmt. Nur sein blondes Haar war vom Regen leicht derangiert.

Helm!, dachte Gunter. Den hatte er in der Eile des Aufbruchs vergessen. Seine Hose und sein Umhang waren schlammbesudelt, der rote Stoff seiner Brigantine zerrissen, wo ihn gestern der Stoß des Fechters getroffen hatte.

»Kameraden!«, rief der Obrist schneidig. »Gestern ist der Schildwache ein vernichtender Schlag gegen die Feinde unserer Stadt gelungen. Die Unheilerin, die so viel Unglück über Grubenstedt gebracht hat, konnte gestellt werden. Es kam zu einem verbissenen Kampf mit einer ganzen Horde bis an die Zähne bewaffneter Leibwächter, doch Mut und Tapferkeit der Schildwache triumphierten. Dies ist ein Tag, der uns alle mit Stolz erfüllen soll. Ein Tag, der uns alle strahlen lässt und den Bürgern der Stadt die Gewissheit zurückgibt, dass zuletzt immer Recht und Ordnung siegen werden.«

Gunter blickte zu der Hanfschlinge auf, von der silberne Regentropfen perlten.

Das kann nicht sein , redete er stumm gegen seine schlimmsten Befürchtungen an. Unmöglich!

Hinter ihnen öffnete sich knarrend eine Tür auf den engen Hof. Schritte genagelter Stiefel erschollen auf dem nassen Pflaster. Gunter drehte sich um. Zwei Schildwachen führten Artemisia vor. Ihr prächtiges rotes Kleid war beschmutzt, ihre Hände auf den Rücken gefesselt, das Gesicht geschwollen von Schlägen. Ein Knebel steckte in ihrem Mund. Sie war gebrochen. Ihre schönen Augen begegneten Gunters Blick. Sie waren leer, ausdruckslos.

»Was geht hier vor?«, begehrte Gunter auf.

Opundelus versetzte ihm einen Knuff mit dem gepanzerten Ellenbogen. »Seid besser still. Ihr redet Euch noch um Kopf und Kragen.«

»Das könnt Ihr nicht tun!«, rief Gunter. »Sie gehört vor ein Gericht, so verlangen es die Gesetze von Grubenstedt!«

»Während Ihr im Bett gelegen habt, um zu schlafen, Hauptmann vom Adlerstein«, entgegnete der Obrist herablassend, »habe ich keine Mühen gescheut, den einzigen Spießgesellen der Unheilerin, den die Schildwache lebend zu fangen vermochte, zu befragen. Seine außergewöhnliche Verstocktheit und mutmaßlich ein schwaches Herz führten dazu, dass er leider verstarb. Anschließend habe ich den Rat zusammengerufen. Das Urteil war einhellig. Die Mörderin Artemisia, deren Heimtücke Dutzende verdienter Bürger der Stadt zum Opfer fielen, die durch ihre dunklen Künste beinahe den Schild vernichtet hätte, der unsere Stadt schützt, ist umgehend hinzurichten.«

»Das Urteil ist falsch!«

»Sie hat alles gestanden«, entgegnete der Obrist ruhig. »Gestanden, dass sie wissentlich in Kauf genommen hat, Grubenstedts Sicherheit zu gefährden, indem sie den Schild geschwächt hat.«

»Unter der Folter?«, wollte Gunter wissen. »Wir alle hier wissen, dass unter der Folter jeder alles gesteht!«

Artemisia war inzwischen auf das Podest gebracht worden. Von der stolzen Frau, die er im Tunnel angetroffen hatte, war nichts geblieben. Die Oberen der Stadt wollen das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, begriff Gunter. Ein Prozess würde die ungerechtfertigten Ausschreitungen gegen die Aschlinge aufdecken. Also breitete man den Mantel des Schweigens über alles. Deshalb gab es keine öffentliche Hinrichtung. Nicht das Volk, nur die Hauptleute der Wache sollten Zeugen sein. Jene Hauptleute, denen es nicht gelungen war, die Unheilerin zu finden. Auch sie würden schweigen. Die Morde hörten auf, ebenso das Flackern, und bald wäre all dies nur noch eine Thekengeschichte. Die Stadt fand in ihren Trott zurück, so wie die Schlammkriecher, die schon so früh die Bresche bevölkert hatten.

»Das ist keine Gerechtigkeit!«, rief Gunter empört. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Opundelus mit dem Kiefer mahlte. Denkt er ähnlich? Aber er schwieg, so wie alle Hauptleute hier schwiegen.

Eine Wache legte Artemisia die Schlinge um den Hals und zog sie straff.

»Sie hat das Recht auf ein paar letzte Worte!«, forderte Gunter. »Diese Gnade wird jedem zum Tode Verurteilten gewährt!«

»Ich erwäge, Euch vom Hof entfernen zu lassen, Hauptmann Gunter Hyazinth vom Adlerstein. Stehen die Sterne ungünstig am Himmel? Oder warum seid Ihr so von Sinnen?«

Einer in der Reihe der Hauptleute lachte. Gunter konnte nicht sehen, wer es war.

»Die Delinquentin hat derart liederliche Flüche ausgestoßen, dass ich sie zum Schutz der Schildwache knebeln lassen musste. Sie hat auf das Unglückseligste bewiesen, wie gefährlich ihre Zauber sind. In ihrem Heimatdorf ist sie als Hexe bekannt, wie sie selbst zugab. Als Kommandant der Schildwache darf ich meine tapfere Truppe nicht einem solchen Risiko aussetzen. Geht das in Euren Dickschädel, Hauptmann vom Adlerstein?« Seine Rede hatte dem Obristen die Zornesröte in die Wangen getrieben. Er winkte unwirsch den beiden Wachen. »Lasst sie tanzen!«

Artemisia sah ihn an. In ihre Augen war ein wenig vom alten Glanz zurückgekehrt, obwohl sich die Schlinge straff um ihre Kehle schloss und sie langsam hochgezogen wurde, bis sie einen halben Schritt über dem Henkerspodest schwebte.

Sie begann zu zucken, kämpfte gegen den Tod an.

Gunter blickte in den Himmel hinauf und wünschte verzweifelt, dies wäre eine Bardengeschichte, in der jetzt ein Drache vom Himmel stieg, um die unschuldige Jungfer zu retten. Nichts zu sehen. Ein kühner Bogenschütze, der den Henkersstrick durchschießt, um dann mit seiner Räuberbande den Hof zu stürmen und unter Schwertergeklirr die holde Maid zu befreien, würde es auch tun.

Doch das hier war Grubenstedt. Die schlammfarbene Wirklichkeit.

Gunter wollte fortlaufen, wollte es nicht sehen! Aber zu bleiben und ihren Blick zu erwidern war die letzte Ehre, die er Artemisia erweisen konnte.

Sie sah ihn unverwandt an. Verzweifelt mit dem Tod ringend, wurde ihr Blick schließlich sanft, als wolle sie ihm sagen, dass sie ihm verzieh.

Gunter blieb.

Es dauerte lange, bis Artemisias Kampf um ihr Leben verloren war.