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Röhrende Kiemen und Flotte Flöten

Fräulein Weißkäppchen guckte eine halbe Sekunde lang verdutzt, als Nella und Nick zusammen mit dem Wirbelwassergeist in der Bar zum fauligen Haifischzahn auftauchten. Zum Glück war sie eine gute Schauspielerin.

„Guten Tag, liebe Wanderer“, rief sie freundlich. „Haben Sie ein hübschfein Plätzchen zum Übernächtigen gefunden? Wie aufmerksam von Ihnen, dass Sie uns noch mit Ihrem großartigen Besuch beehren. Kleiner Happen zum Verschlingen gefällig, bevor die große Singtanzshow heute Abend beginnt?“

Sie tippte mit ihrer Flossenspitze auf eine Muschelschale mit gesalzenem Meerkohl und knackigen Seetangsprossen und zwinkerte Nella verstohlen zu.

Nella konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen. Ihre Sprachlehrerin sah in ihrem Geisterpfeifenkostüm einfach zu witzig aus. „Vielen Dank, Madame Sola. Herumreisen macht mich immer total hungrig“, rief sie so unbefangen wie möglich. Dabei zwinkerte sie dankbar zurück.

Bestimmt hatte Fräulein Weißkäppchen das frische Gemüse extra für Nella und Nick aufgetrieben. Denn in allen übrigen Schälchen, die auf der Theke herumstanden und aus denen die Fischgäste naschten, entdeckte Nella nur getrocknete lila Wasserspinnenlarven und in Schneckenschleim gewälzte Wasserflöhe. Eklig!

Sie griff beherzt zu. Die Sprossen waren saftig und hatten einen angenehmen sauren Nachgeschmack. Sie erinnerten Nella an Oma Idas selbst eingemachte Essiggurken. Sie kaute andächtig und probierte eine Handvoll gesalzenen Meerkohl. Schmeckte eigenartig, aber lecker. Nur das viele Salz machte einen ganz schön durstig.

„Der frische Wasserrosensprudel fließt drüben im tiefen Vasenschwamm direkt neben der Bühne, falls Sie trinken möchten“, sagte Fräulein Weißkäppchen alias Madame Sola, als ob sie Nellas Gedanken lesen konnte. „Bitte bedienen Sie sich von der guten Quelle.“ Sie rollte Nella mit ihren Flossen eine Muschel über die Theke, welche die Form eines Bechers hatte.

„Madame Sola, wie lange sollen wir denn noch warten? Wo bleiben unsere Schnäpschen?“, rief in diesem Moment der Tentakelschluckspecht. „Wir brauchen Nachschub!“ Seine Stimme klang ungeduldig.

„Eile wie fliegender Fisch, Chef!“, säuselte Fräulein Weißkäppchen. Sie schnappte sich mit ihrem Maul gekonnt eine Flasche, die randvoll mit Seetraubenschnaps war, und verschwand im Hinterzimmer.

Nella sah ihr neugierig hinterher.

Um einen runden Tisch saßen der grässliche Tentakelschluckspecht und ein paar andere recht merkwürdig aussehende Fischgesellen. Sie spielten mit echten Spielkarten, die sie mit ihren scharfen Raubzähnen festhielten. Als Spieleinsatz diente ihnen offenbar ein aufgehäufter Berg Perlen.

Nella staunte. Auch wenn sie im Muschelkundeunterricht bei Frau Süßlippe häufig nicht sehr gut aufpasste, erkannte sie mit einem Blick, dass die verschiedenfarbigen Perlen, die auf dem Spieltisch lagen, besonders wertvoll waren. Sie fragte sich verwundert, von wem der Tentakelschluckspecht sie geschenkt bekommen hatte. Oder hatte er sie womöglich gestohlen? Frau Süßlippe würde jedenfalls einen dreifachen Flossenüberschlag vor Freude machen, wenn sie diese Schätze ihrer Muschelsammlung einverleiben dürfte.

Nella beobachtete bewundernd, wie Fräulein Weißkäppchen den Spielern schwungvoll Schnaps nachschenkte. Sie benahm sich dabei so geschickt, als ob sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht hätte. Nella kicherte. Als Sprachlehrerin im Muschelschloss hatte sich Fräulein Weißkäppchen sehr viel linkischer angestellt. Anscheinend war sie die geborene Spionin.

Gerade trudelte sie geschäftig mit der leeren Flasche zum Tresen zurück.

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„Wer sind diese ulkigen Typen?“, flüsterte Nella ihr zu. „Ich habe noch nie einen Fisch mit einer so langen Nase gesehen. Der sieht ja aus wie der Pinocchio aus meinem Märchenbuch. Und die zwei anderen erinnern mich an die Clowns aus dem Zirkus. Machen die da etwa verbotene Glücksspiele?“

Fräulein Weißkäppchen nickte. „Es geht heute Abend um viel teuer Perle.“ Sie schwamm wie zufällig an Nellas Ohr vorbei und wisperte: „Der Fisch mit langem Nasenbein ist Langnasen-Doktorfisch. Er schnüffelt herum überall wie Seeigel auf Wasserflohsuche. Nimm deine Schuppen bloß in Acht vor seine grätigen Flossen. Und die zwei anderen sind Zwillingsbrüderchen, Pyjama-Kardinäle mit richtigem Namen. Mit ihren schuppig bunten Kleidern kommen sie durch die Tür wie besonders fröhliche Fischgesell, aber in ehrliche Fischleben sind sie ständig schlecht gelaunt und meckern herum wie hungrige Krokodile in Wasserrosenbeet. Sie sind jeden Abend zuletzt hier und wollen nie hinaus in frische Blubberwasser. Mein guter Musikerfreund Flo von den Flotten Flöten kennt beide trampelige Fische von lange her früher. Sie waren schlimme Gefängniswärter im fernen Tal der Weißen Haie. Also legt euch nicht mit ihnen Schuppe an Schuppe.“

Nella machte ein erschrockenes Gesicht. „Gefängniswärter?“, wiederholte sie. „Der Wirbelwassergeist hat sich vorhin verplappert und jetzt wissen wir, dass Aurelia im Kerker der versunkenen Stadt versteckt ist. Er hat versprochen, uns nach seinem Auftritt mit den Röhrenden Kiemen dorthin zu bringen.“

Fräulein Weißkäppchen begann aufgebracht mit den Flossen zu zittern. „Coralla ist so falsch wie stinkende Miesmuschel, die sich als Auster ausgibt!“, sagte sie warnend. „Ihr Ehrenwort hält keine Wasserblase lang und aus ihrem Mund quillt nur fauler Schneckenschleim.“

Ihre Stimme sank zu einem kaum hörbaren Flüstern. „Seid achtsam auf eure Flossen, meine Liebsten! Der Chef erwartet noch eine besondere Gast heute. Habe geheim schlimme Gedanke, wer das sein könnte …“ Sie schwänzelte hinter die Theke und begann geschäftig, die Muschelschälchen aufzufüllen.

Eine Gruppe Sandaale schwärmte soeben in die Bar und verteilte sich auf den besten Plätzen. Im gleichen Moment betraten die Flotten Flöten die Bühne. Sie blickten mit ihren großen seitlichen Augen scheu ins Publikum und stimmten ihre Tonlagen aufeinander ein. Anscheinend sollte die Show jeden Augenblick losgehen.

Die Haie, die sonst um die Theke herumlungerten, verließen ihre angestammten Hocker und drängelten sich in die erste Reihe. In letzter Minute wälzte sich noch ein Leierfisch durch die Tür, dessen Schuppen wie Felsgestein aussahen. Er ließ sich stöhnend an der Theke nieder und bestellte einen Vasenschwamm Algenaltbier.

„Es singt die tollen Flöten los mit wilde Tanz, Chef!“, rief Fräulein Weißkäppchen mit glockenheller Stimme ins Hinterzimmer hinein.

Sie klapperte mit ihren Flossen begeistert Applaus, denn nun tauchten endlich auch die Röhrenden Kiemen auf. Diese hatten bis zuletzt ihre Tanznummer geprobt und waren schon vor ihrem Auftritt ganz außer Atem.

Fräulein Weißkäppchen erklärte Nick und Nella flüsternd, dass die Röhrenden Kiemen eine meeresbekannte Messerfisch-Truppe waren, die schon seit ihrer Kindheit zusammen auftrat. Sie stammten aus einer Großfamilie, deren Vorfahren in Amerika und Japan gelebt hatten. Ihr Trainer Mystus, ein sehr erfahrener Tanzlehrer, war extra aus Afrika angereist. Er hatte sich auch die Wirbelwassergeist-Nummer ausgedacht.

Die Lampenfische strahlten die Bühne an und ein Trompetenfisch blies einen Tusch. Die Vorstellung begann.

Noch nie zuvor hatte Nella Flötenfische so gefühlvoll blubbern hören. Ihr kamen fast die Tränen. Fräulein Weißkäppchen ging es anscheinend ähnlich. Sie wischte sich immer wieder mit einem Algenlappen über die Augen.

Die Röhrenden Kiemen trommelten mit ihren Mäulern auf Schneckenhäusern und Muschelschalenkanten herum, dass Nella und Nick am liebsten selber mitgemischt hätten. Coralla übertraf sich mit ihrer Wirbelnummer selbst. Sie brachte das Wasser so wild zum Sprudeln, dass es sich anschließend auf Nellas Haut anfühlte wie eine Mischung aus Brausebonbons aufgelöst in Spucke und Juckpulver.

Die Gäste in der Bar klatschten wie verrückt.

Der Tentakelschluckspecht guckte so zufrieden, als ob er die Kunststücke alle selbst vorgetragen hätte. Seine letzten Vorräte Seetraubenlikör flossen den Fischen nur so die Kehlen hinunter. Gerade als Madame Sola alias Fräulein Weißkäppchen auf die Bühne hüpfte und zusammen mit ihrem alten Bekannten Flo von den Flotten Flöten ein herzzerreißendes Abendlied anstimmte, zupfte der Wirbelwassergeist Nella am Ellbogen.

„Los“, zischte er leise, „die Zeit ist günstig. Wir müssen!“

Und während die Lampenfische Madame Sola in ihr schönstes Regenbogenlicht tauchten, schlichen Nella und Nick auf leisen Schwanzflossen aus der Bar in die Dunkelheit hinaus.