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Der Brunnen bekommt Ohren

„Der Graue König steckt dahinter“, flüsterte Nella furchtsam. „Ich bin schuld, dass wir jetzt alle in diesem schlimmen Kerker gefangen sind.“ Sie schluchzte leise. Jeden Augenblick konnten die Soldaten des Grauen Königs auftauchen. Oder kam der Graue König diesmal selbst, um sie zu holen?

„Quatsch!“, widersprach Nick energisch. „Du bist doch nicht schuld. Schließlich habe ich dich überredet, mitzukommen. Wegen mir hast du sogar die Schule geschwänzt und bist nicht zu deiner Oma geschwommen. Coralla hatte Recht: Ich bin so dumm wie eine blinde Wassernacktschnecke. Der Graue König hat Aurelia und mich nur als Lockmittel benutzt, um an dich ranzukommen. Weil er wusste, wie hilfsbereit du bist. Total hinterhältig. In Wirklichkeit bin ich also schuld, weil ich daran nicht gedacht habe. Onkel Aquarius ist sicher stinksauer auf mich, wenn er davon Wellenwind kriegt. Es tut mir so leid, Nella.“

Er tastete sich mit den Handflächen an der Wand vorwärts. „Wir müssen hier schleunigst verschwinden. Auf Fräulein Weißkäppchens Hilfe können wir nicht warten. Außerdem muss sie aufpassen, dass sie nicht auffliegt. Sie ist doch eine Spionin. Vielleicht riecht der Tentakelschluckspecht bereits faule Schneckengrütze, weil sie uns in die Haifischbar mitgenommen hat. Sag mal, was stand noch in deinem Abenteuerbuch? Vielleicht gibt es hier ja tatsächlich einen zweiten Ausgang. Was ist mit dem Brunnen? Der ist doch ganz in der Nähe“, sagte er aufgeregt.

„Ja, das würde passen“, überlegte Nella. „In meiner Lieblingspiratengeschichte, die mir Papa früher immer erzählt hat, konnten die Piraten aus dem Gefängnis entkommen, weil es eine geheime Verbindungstür zum Dorfbrunnen gab. Und der Brunnen auf dem Marktplatz ist nur ein paar Flossenschläge von uns entfernt. Vielleicht haben wir Glück.“

Sie nahmen den Delfin in die Mitte und tasteten sich langsam in die Richtung weiter, in der sie den Brunnen vermuteten.

Aurelia fiepte die ganze Zeit ängstlich und drückte sich eng an Nella und Nick.

„Sie atmet so schwer“, sagte Nella. „Höchste Zeit, dass sie hier rauskommt.“

Im gleichen Moment prallte sie gegen ein Hindernis und stieß sich den Kopf. „Aua! Was ist das?“, rief sie erschrocken und rieb ihre schmerzende Stirn.

„Ein eiserner Türknopf!“ Nick schubste Nella eilig zur Seite und versuchte, ihn mit beiden Händen nach rechts zu drehen.

„Probier’s doch mal in die andere Richtung!“, rief Nella und griff ebenfalls danach.

Der Knauf hatte die Form eines Löwenkopfes. Sie bewegten ihn vorsichtig nach links. Mit einem hellen Pling sprang eine schmale Tür auf.

„Jaaa!“, schrien Nella und Nick gleichzeitig. Sie umarmten sich vor Freude.

Nella küsste Aurelia übermütig auf die Nase. „Ich liebe Piratengeschichten. Sie sind wirklich nützlich.“

Nick lachte. „Das wäre ein tolles neues Unterrichtsfach, jedenfalls spannender als Muschelkunde.“

Nella stöhnte bei dem Gedanken an die langweiligen Schulstunden laut auf. „Sag das mal Frau Süßlippe, wenn wir wieder zu Hause sind.“

Sie ruderte forsch in den Brunnen hinein und entdeckte die Stufen, die sie bereits zuvor gesehen hatten. „An den Sprossen entlangzupaddeln und Aurelia über den Brunnenrand zu hieven, ist kein großes Problem“, sagte sie fachmännisch. „Aber wie kommen wir ungesehen aus der Stadt? Aurelia ist ja nicht gerade winzig. Außerdem habe ich leider nicht so auf den Weg geachtet, sondern bin nur Fräulein Weißkäppchen hinterhergedüst.“

Nick stimmte geknickt zu. „Ich auch nicht. Feine Spione sind wir …“

Er wirbelte mit seiner Flosse fast so schnell wie Coralla herum, um Auftrieb zu bekommen. „Ich gucke mal vorsichtig raus. Vielleicht sind ja noch alle in der Bar und kippen sich diesen Seetraubenschnaps hinter die Kiemen.“

Im gleichen Augenblick beugte sich jemand von oben über den Brunnenrand.

Nick gab Nella einen kräftigen Stoß, sodass sie unsanft in den Gang zurückplumpste. Hastig drängte er hinterher und klemmte sich die Flosse an der Eisentür ein. „Autsch!“

„Pscht!“, zischte Nella ärgerlich. „Du verrätst uns doch mit deinem Gejammer.“ Sie schloss die Tür und horchte angestrengt nach draußen.

Aurelia begann anklagend zu schreien.

„Pscht“, wies Nella nun auch den Delfin zurecht. „Du musst dich noch eine kleine Weile zusammenreißen, Aurelia.“ Sie kraulte ihre Schnauze, bis sie sich beruhigte.

Plötzlich hörten sie ein lautes Aufplatschen. Einen Moment später klopfte es an die Eisentür und eine Stimme rief drängend. „Nella? Nick? Seid ihr da irgendwo? Ich habe euch doch eben gehört!“

Nella wurde kochend heiß vor Freude. „Dafne!“, rief sie, jede Vorsicht außer Acht lassend. Sie riss die Tür auf und umarmte ihre Freundin stürmisch. „Wie hast du uns denn gefunden?“

Dafne grinste überlegen. „Ich sage nur: Nautilusmuschel. Nachdem du am nächsten Morgen nicht zurückgekommen warst, haben Effi und ich natürlich angenommen, dass du ihr Seepferdchen geklaut hast. Und so mussten wir herausfinden, wohin du durchgebrannt bist.“ Sie kicherte übermütig.

„So etwas habt ihr gedacht?“, fragte Nick entrüstet.

Dafne lachte belustigt. „Gequirlter Schneckenunsinn. Wir haben uns gleich schreckliche Sorgen gemacht und ahnten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Zuerst haben wir Frau Süßlippe irgendwelchen Unsinn erzählt, warum du nicht da bist. Aber sie hat sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt und es Frau Pataria gemeldet. Die horchte sogleich an ihrer Nautilusmuschel und erfuhr, dass Nick zur gleichen Zeit aus dem Felseninternat verschwunden war, um Aurelia zu suchen.

Daraufhin hat Frau Pataria auf der Stelle Bobo von seiner Fortbildung zurückgepfiffen, um ihn euch hinterherzuschicken. Der war aber gar nicht zu gebrauchen. Stellt euch vor: Dieser dumme Quallenagent glaubt, er sei von Frau Pataria zum General befördert worden, und blubbert nur noch völlig wirres Zeug über Spione. Jetzt liegt er auf der Krankenstation und Doktor Achilles testet, ob er seinen Verstand verloren hat.

Und dann tauchte plötzlich Firlefanz auf! Er hatte den Weg ganz alleine gefunden, um Hilfe zu holen. Effi hat echt Glück mit ihrem Seepferdchen!“

Nella seufzte erleichtert. „Ich habe gewusst, dass ihr mich nicht im Stich lasst. Hinter der ganzen Sache steckt nämlich der Graue König. Er wollte mich entführen. Leider darf ich nicht verraten warum. Das ist zu gefährlich.“

Dafne guckte überrascht. „Oh! Dann geht es gar nicht darum, dass Haimanus Katz Aurelia verkauft hat, weil er Spielschulden hatte und Geld brauchte?“

Nella und Nick schüttelten die Köpfe.

„Nein!“, antwortete Nick. „Viel schlimmer. Dieser Tentakelschluckspecht ist wahrscheinlich als Baby in faulendem Schneckenwasser gebadet worden. Dem ist alles zuzutrauen. Sind genug Agenten da, um diesen gemeinen Typ und seine Kumpel zu verhaften?“

„Ja, genau“, fiel ihm Nella ins Wort. „Und außerdem ist da auch noch so ein hinterhältiger Wirbelwassergeist, der hat Papas Halskette gestohlen. Die will ich zurück.“

Dafne räusperte sich verlegen. „Oh“, wiederholte sie. „Das ist nämlich so …“ Sie schwieg einen Moment. „Frau Pataria hat sich ins Felseninternat kutschieren lassen und uns allen streng verboten, irgendetwas zu unternehmen, bis sie sich mit Professor Patros abgesprochen hat. Und Señor Nigri hat zwar eine Kiste nagelneuer Schwerter bekommen, aber keine ausgebildeten Fechter, die damit fechten können. Und, na ja, die Quallenagenten sind doch momentan ohne Chef, weil Bobo seinen Verstand verloren hat. Aber Effi und ich hatten die ganze Zeit so ein komisches Gefühl. Da habe ich mir heimlich die Nautilusmuschel gemopst und dachte, es kann nichts schaden, mit Firlefanz mal vorzureiten. Er kennt ja jetzt den Weg. Und deshalb bin ich alleine hier.“

Nick wurde kreidebleich. „Ach du grüne Algenpest! Dann müssen wir schnell abhauen, bevor der Tentakelschluckspecht Schneckenkleber aus uns macht.“

Der Marktplatz war immer noch wie leer gefegt. Aus der Haifischbar kam lärmender Gesang, der nicht mehr ganz so glockenklar wie am frühen Abend klang. Dafne schwamm voran und spähte den Weg aus.

Sie erreichten unentdeckt die Stadtmauer, an der Peng immer noch treu auf Nick wartete. Die Kugelfische hatten ihre Posten offenbar wegen des Konzerts verlassen, jedenfalls war das Stadttor unbewacht.

Im allerletzten Augenblick tauchte Coralla auf. Sie wirbelte wie verrückt und machte dabei ein Höllenspektakel. Der Tentakelschluckspecht und seine Gäste kamen blubbernd hinterhergehetzt. Aber diesmal hatten sie Pech. Nella und Nick schwangen sich eilig auf Peng und ritten, mit Aurelia im Schlepptau, los, während Dafne auf Firlefanz in gestrecktem Galopp voran ins Muschelschloss raste.