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Eine Riesenüberraschung

Nach ihrem unerwarteten Abenteuer wieder ganz normal in die Schule zu gehen, fiel Nella ziemlich schwer. Vor allem, weil sie gar nicht dafür gelobt wurde, dass sie zusammen mit Nick das Delfinweibchen Aurelia befreit hatte. Im Gegenteil. Sie bekam insgesamt sogar drei Standpauken. Das fand Nella ganz schön ungerecht.

Der erste Rüffel kam von ihrem Fechtlehrer Señor Nigri. Er war beleidigt, dass sie ihn nicht eingeweiht hatte, bevor sie mit Nick losgeritten war.

Der Tentakelschluckspecht war ein uralter Feind von ihm, der ihm schon sehr viel Ärger bereitet hatte, erzählte er. Und auch mit den Wasserhyänen hatte er schon manchen Schneckenalarm gehabt. Nella musste ihm versprechen, nie wieder auf eigene Gefahr loszuziehen.

Eigentlich hatte Señor Nigri ja Recht. Mit seiner Hilfe wären sie vermutlich gar nicht erst im Kerker der versunkenen Stadt gelandet. Aber Nella konnte ihm ja schlecht eingestehen, dass sie eigentlich vorgehabt hatte, heimlich zu ihrer Oma Ida zu reiten und mal wieder ein Pläuschchen mit Max zu halten. Sonst hätte Señor Nigri ihr vermutlich mindestens zwei Wochen Hausarrest und zwei Stunden tägliches Fechttraining aufgebrummt.

Die Nächste, die mit Nella meckerte, war – wie konnte es anders sein – ihre Schulleiterin Frau Pataria. Sie war aus dem Felseninternat zurückgekommen und hatte kein Wort darüber verloren, was sie mit Professor Patros besprochen hatte. Auch wenn alle vor Neugier beinahe platzten. Stattdessen regte sie sich wahnsinnig darüber auf, dass Nella ohne ihre Erlaubnis mit dem Seepferdchen Firlefanz, das ihr gar nicht gehörte, fortgeritten war.

„Aber ich wollte doch nur helfen, Aurelia wiederzufinden!“, verteidigte sich Nella. „Wir Meermädchen sollen doch hilfsbereit sein und immerfort Gutes tun. So steht es als oberste Regel in der Schulordnung.“ Sie zog einen beleidigten Flunsch.

Frau Pataria lachte schrill auf. „Erstens, Ozeana, bist du ein halber Mensch. Und deshalb zweitens nur ein äußerst mickriges Meermädchen. Und drittens lautet das oberste Gebot des Muschelinternats, mir zu gehorchen. Kapiert?“ Sie schob Nella wie eine lästige Nacktschnecke aus der Tür.

Aber so schnell ließ sich Nella nicht abschütteln. Sie startete einen allerletzten Versuch, die Schulleiterin umzustimmen. „Entschuldigung, Frau Pataria. Aber darf ich wenigstens für einen halben Tag meine Oma Ida besuchen? Sie hatte nämlich gerade Geburtstag.“

Anstelle einer Antwort warf Frau Pataria eine bis zum Rand gefüllte Schüssel mit in Schneckenschleim eingelegten Wasserspinnen nach Nella und brüllte: „Sofort raus! Schluss-aus-basta!“

Die dritte Lektion musste sich Nella von Frau Süßlippe anhören. Denn auf unerklärliche Weise hatte sie herausgefunden, dass das Referat Schneeflocken oben und unten nicht aus Nellas Feder geflossen war. Irgendjemand hatte sie verpetzt und während Frau Süßlippe Nella mit Vorwürfen vollblubberte, überlegte diese, welches Meermädchen sie wohl verraten hatte.

„Du hast alles Mögliche im Kopf, nur keine Korallen!“, sagte Frau Süßlippe betrübt.

Gegen ihren Willen musste Nella leise kichern. Die Vorstellung, dass Korallenbäumchen aus ihren Ohren wuchsen, fand sie nämlich nicht sehr verlockend.

„Zum Lachen ist das nicht.“ Frau Süßlippe seufzte. „Ich habe das Gefühl, du nimmst das Leben im Muschelinternat nicht besonders ernst. Vielleicht wärst du ja doch lieber oben in einer ganz normalen Schule mit ganz normalen Kindern, die auf Apfelbäumen herumklettern und Schneebälle werfen. Wenn du willst, spreche ich mit meinen Kollegen, ob du wieder nach Hause darfst. Ich habe gehört, dass du schon mehrmals heimlich weggelaufen bist, weil du deine Großeltern so sehr vermisst.“

Vor Schreck schossen Nella Tränen in die Augen. „Oh nein, bitte nicht, Frau Süßlippe!“, rief sie aus. „Ich will in Zukunft viel fleißiger lernen und außerdem übernehme ich gerne noch ein zweites Referat. Großes Schneckenehrenwort. Aber ich bin am liebsten hier im Muschelschloss, bei Herkules und meiner Schildkröte und meinen Freundinnen. Nur ganz manchmal habe ich Sehnsucht nach Oma Ida und ihrem Apfelkuchen. Und nach Papa. Und nach Opa. Und nach Max und dem traurigen Erdbeerfröschchen.“ Sie sah Frau Süßlippe bittend an.

Die Lehrerin schürzte nachdenklich die Lippen. „Ich habe bereits mit Doktor Achilles gesprochen. Er glaubt, du brauchst eine eigene Aufgabe, damit du nicht immer auf so verrückte Gedanken kommst. Komm doch mal mit. Ich will dir etwas zeigen.“

Nella schwamm neugierig hinter Frau Süßlippe her. Sie führte sie in die Ställe. Dort kauten die Seepferdchen zufrieden an frischen Wasserrosen. Herkules und Firlefanz begrüßten sie mit einem fröhlichen Schnauben. Nella klopfte ihrem Seepferdchen glücklich auf den Hals. Es erholte sich täglich schneller von seiner gefährlichen Vergiftung und bald würde sie wieder auf seinem Rücken durchs Wasser sausen, als wäre nichts geschehen.

Hinter den Boxen der Seepferdchen war ein Stall für Aurelia eingerichtet worden. Doktor Achilles, der die Tiere des Muschelschlosses mindestens so gut versorgte wie die Meermädchen, wollte sie noch eine Zeit lang beobachten, bevor er sie wieder zurück ins Felseninternat schickte.

„Guck mal gründlich hin, Nella!“, sagte Frau Süßlippe. „Fällt dir etwas auf?“

Nella betrachtete Aurelia genau. Aurelia sah aus wie immer. Anscheinend ging es ihr schon wieder ziemlich gut, denn sie hatte einiges an Gewicht zugelegt, seit sie im Muschelinternat von Nellas Freund, dem Vampirtintenfisch, mit Futter versorgt wurde.

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Nella schüttelte den Kopf. „Außer dass ihr unser Futter schmeckt, nicht“, antwortete sie ratlos.

Frau Süßlippe kicherte wie eine kleine Nixe. „Aurelia hat solchen Appetit, weil sie ein Baby bekommt“, erklärte sie. „Deshalb ging es ihr in dem Kerker auch so schlecht. Doktor Achilles hat mit Professor Patros abgesprochen, dass wir das kleine Delfinbaby behalten dürfen. Und wenn du willst, kannst du in Zukunft für das Junge sorgen. Hast du Lust? Aber du musst dich regelmäßig um es kümmern. Deine Schildkröte Olivia und Herkules finden sich mittlerweile ja auch ohne dich zurecht.“

Nella machte vor Freude einen doppelten Salto. „Juchuh! Juchuh! Juchuh!“

Bevor die Muschelkundelehrerin wusste, wie ihr geschah, hatte Nella ihr einen Kuss auf ihre dicken Lippen gedrückt. „Ich will, ich will, ich will! Dann habe ich endlich meinen ganz eigenen Delfin. Und ich habe auch schon einen Namen. Ein Mädchen nenne ich Tuula und einen Jungen Tule. Vielen Dank, Frau Süßlippe, Sie sind echt lieb. Das muss ich sofort den anderen erzählen.“

Sie kraulte in Höchstgeschwindigkeit davon.

Am selben Abend schrieb sie eine Flaschenpost an ihren Freund Max, in dem sie ihm erzählte, was sie alles erlebt hatte. Der Brief endete mit folgenden Sätzen:

Und deshalb finde ich es super, dass du jetzt jeden Tag schwimmen übst.

Du musst mich einfach mal in unserem tollen Muschelschloss besuchen kommen. Ganz ehrlich! Dann können wir zusammen auf einem richtigen Delfin reiten.

Ich wette, das würde dir gefallen!

Also, tunk deine abstehenden Ohren weiter unters Wasser, damit wir uns bald wiedersehen. Bis ganz bald, du alte Schnecke.

Deine treue Freundin Nella