DREI

Seit fünfzig Jahren stand Milena Rossi im Dienst ihres geschätzten Pfarrers und Seelsorgers Armando Negroni. Ein halbes Jahrhundert kochte sie für ihn, pflegte Haus und Garten und hatte immer ein offenes Ohr für ihn. Seit fünfzig Jahren kam Pfarrer Negroni pünktlich zum Nachtessen. Immer um halb sechs sass er am Tisch, faltete die Serviette auf seinem Schoss auseinander und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Kurz nach seiner Pensionierung hatte er Milena gebeten, ihm beim Essen Gesellschaft zu leisten. Früher war das nie der Fall gewesen, als hätte er Angst davor gehabt, sie könnte ihm unangenehme Fragen stellen, was seine Arbeit betraf. Der gestrenge Pfarrer, dem im Religionsunterricht auch mal die Hand ausgerutscht war, wenn er einer Horde ungezogener Jugendlicher hatte gerecht werden müssen, war in seinem Alter von achtzig Jahren sanfter geworden. Milena, selbst schon siebzig, stellte keine Fragen. Wenn Pfarrer Negroni gut aufgelegt war, erzählte er von sich aus. Sie war eine gute Zuhörerin.

Gestern, am Montag, war er zum ersten Mal nicht zum Essen erschienen.

Milena war nervös. Bislang hatte sie sich auf den Pfarrer verlassen können. Er war dankbar für jedes Abendessen, das sie ihm kredenzte.

Die Jahre hatten auch vor ihr nicht haltgemacht. Vieles, was sie sich als junge Frau vorgestellt hatte, war nicht eingetroffen. Eigentlich gar nichts. Ihre Eltern waren krank geworden, als sie achtzehn war. Vater war früh gestorben, die Mutter pflegebedürftig gewesen. Milena hatte in Lugano eine Lehre als Hochbauzeichnerin abgebrochen und war fortan für ihre Mutter da gewesen bis zu ihrem Tod. Per Zufall hatte sie die Stelle als Köchin und Haushaltshilfe in einem Pfarrhaus in Einsiedeln entdeckt, im Amtsblatt war sie ausgeschrieben gewesen. Man hatte eine Italienisch sprechende Frau gesucht. Milena hatte sich beworben und bald darauf den Vertrag unterzeichnet. Sie hatte damals nicht damit gerechnet, fast ihr ganzes Leben im Dienst der katholischen Kirche zu stehen. Vor fünfzig Jahren hatte sie sich keine Gedanken gemacht, war nur unendlich froh gewesen, einer Arbeit nachgehen zu können, auch wenn sie dafür ihr geliebtes Tessin hatte verlassen müssen. Kochen und Gartenarbeiten fielen an, das Messgeschirr reinigen, Pfarrer Negroni pflegen, wenn er wegen einer Grippe im Bett lag. Milena war die gute Seele in der Kirchgemeinde, die rechte Hand des Pfarrers. Und sie hatte, was ansonsten die Nonnen ausführten, die Oblaten selbst gefertigt – aus Weizenmehl und Wasser. Im Keller standen ein Feuchtofen und Stanzeisen mit drei verschiedenen Sujets, die seit einiger Zeit nun brachlagen. Milena ging heute nur noch in den Keller, wenn es nicht zu umgehen war.

Sie hatte «Coniglio in umido con polenta» gemacht, welches zu den Spezialitäten des Tessins zählte. Ein Kaninchenragout mit Polenta, Pfarrer Negronis Leibspeise. Um neun Uhr am Abend hatte sie die zwei Schüsseln mit Frischhaltefolie zugedeckt und unangerührt in den Kühlschrank gestellt.

Am Morgen war der Pfarrer noch nicht da. Sein Bett war unbenutzt.

Allmählich machte sich Milena ernsthaft Sorgen. Es war noch nie vorgekommen, dass Pfarrer Negroni über Nacht wegblieb, ausser in den Ferien. Gelegentlich unternahm er lange Spaziergänge, um, wie er sagte, Busse zu tun. Dass er in seinem Leben mit persönlichen Verfehlungen in Konflikt geraten war, ahnte Milena seit Langem. Nein, sie wusste es sogar. Manchmal sass er nachdenklich in seiner Klause, die dem Pfarrhaus angebaut war, und liess deswegen das Mittagessen aus.

Milena war froh, durften sie nach Pfarrer Negronis Pensionierung im alten Pfarrhaus wohnen bleiben. Sein Nachfolger hatte damals eine Unterkunft im Kloster Einsiedeln bekommen. Milena nannte eine kleine Wohnung unter dem Dach ihr Eigen. Sich zurückzuziehen, war ihr immer ein grosses Anliegen gewesen. Pausen von all dem Heiligen. In jeder freien Minute las sie und hatte sich damit abgefunden, dass ihre Freizeit zwischen den Buchdeckeln stattfand.

Sie hielt die Warterei nicht aus. Allerlei abstruse Ideen geisterten ihr durch den Kopf. Dass der Pfarrer womöglich gestürzt war und sich nicht mehr aufrichten konnte. Manchmal klagte er über die schwindende Kraft in seinen Beinen. Oder noch schlimmer: Er hatte einen Unfall gehabt und lag jetzt im Krankenhaus.

Vor dem Mittag rief Milena im Spital Einsiedeln an. Sollte Pfarrer Negroni etwas passiert sein, dann sicher im nahen Umkreis ihres Wohnorts. Sie wurde dreimal weitergeleitet, bis sie den diensthabenden Arzt auf dem Notfall am Apparat hatte. Er meldete sich kurz angebunden.

«Milena Rossi am Telefon. Ich bin die Haushälterin von Pfarrer Armando Negroni aus Trachslau. Seit gestern Abend ist er verschwunden. Ich befürchte, er ist verunfallt. Ich wollte bloss sichergehen, dass er nicht im Spital liegt.»

Eine gefühlte Ewigkeit vernahm sie bloss ein hektisches Atmen. «Wir haben keinen Neuzugang mit diesem Namen, aber das hätte Ihnen die Dame am Empfang auch mitteilen können.» Der Mann schien unter Zeitnot zu leiden. «Ich rate Ihnen an, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.» Er verabschiedete sich wider Erwarten höflich.

Vielleicht sollte sie ihn suchen und den gleichen Weg gehen, den Pfarrer Negroni jeweils unter die Füsse nahm. Er spazierte mit wenigen Ausnahmen vom Pfarrhaus bis zur Kirche Sankt Stefan, wo er sich einem stillen Gebet hingab, und von dort zur Alten Post. Er bestieg den Bus und fuhr nach Einsiedeln ins Kloster, wo er sich mit seinem guten Freund, Pater Kasimir, traf. Manchmal nahmen sie gemeinsam das Mittagessen ein, bevor Pfarrer Negroni sich auf den Weg zurück nach Trachslau machte. Milena war die Telefonnummer von Pater Kasimir nicht bekannt. Um sie herauszufinden, dazu fehlte ihr die Geduld. Sie wählte die Notrufnummer der Schwyzer Kantonspolizei.

***

An diesem Morgen lagen sie sich wieder in den Armen, leidenschaftlicher denn je. Erst noch hatten sie sich gestritten. Louis hatte Carla vorgeworfen, sie habe unberechtigterweise Mitteilungen herausgegeben, die sie auf seinem Laptop gefunden hatte.

«Ich schwöre, ich habe nichts dergleichen getan.» Sie schnurrte wie eine Katze, wenn er ihr mit den Fingern über das Gesäss fuhr. «Es stand ja nicht einmal mein Kürzel unter dem Bericht.» Sie wusste also, worum es ging.

Louis drehte sie auf den Rücken. Wenn er die Augen schloss, war sie seine Geliebte, die Frau, mit der er alt werden wollte. Sein Liebesleben war, seit er sich erinnern konnte, nie in ruhigen Bahnen verlaufen. Vielleicht hatte er stets die Messlatte zu hoch angesetzt. Schönheit, Intelligenz und Seelenverwandtschaft bei ein und derselben Frau zu erwarten war ein Wunschdenken. Carla nahm ihn ein, mit Haut und Haaren. Sie forderte, wo andere gaben. Doch dieses Ungleichgewicht nahm er in Kauf. Jeder Streit war einmal zu Ende. Oft ging es um Lapidares, was den Haushalt betraf, wer was zu erledigen hatte. Die Versöhnung fand ohne Ausnahme im Bett statt.

Er mochte ihre seidigen Haare, von denen stets der Duft nach Sommer ausging. Er liebte ihren Körper. Perfekt war er nicht, aber sinnlich. Es lag daran, dass Carla sich so akzeptierte, wie sie war. Sogar ihren Charakter fand Louis spannend, der in den letzten Monaten einige Turbulenzen zutage gefördert hatte. Der wunde Punkt in ihrer Beziehung war nach wie vor ihr Job bei der Boulevardzeitung. Sie hoffte noch immer auf einen Aufstieg zur Redaktionsleiterin. Es gab noch andere Anwärter, und der aktuelle Leiter war ein Sesselkleber, der mit dem Chef in gutem Einvernehmen stand.

«Ich muss wieder einmal einen Aufhänger haben», sagte Carla, während Louis erregt nach der körperlichen Vereinigung suchte. Auch darin war sie einsame Spitze. Er liebkoste sie, glaubte, sie verginge vor Verlangen, lechzte danach, ihn endlich in sich zu spüren. Und dann: Peng! Als würde sie vor ihm eine Tür zuschlagen. Natürlich passierte das nicht mit Absicht. Sie war einfach so.

Louis liess von ihr, fiel rücklings auf das Laken. Carla war in Gedanken nicht bei ihm.

«Was ist?», konnte sie dann fragen, erstaunt über seine Reaktion.

Er verliess wortlos das Bett, verschwand im angrenzenden Badezimmer. Irgendwann war genug. Er stellte sich unter die Dusche und legte Hand an sich.

Er war im Begriff, sich abzutrocknen, als der Ton seines iPhones Valéries Anruf anmeldete. Louis hatte ihr die Timba-Trommel zugeordnet. Nachdem er gestern Überstunden geschoben hatte, war abgemacht, dass er heute erst vor dem Mittag nach Biberbrugg fuhr. Er berührte den Touchscreen und meldete sich.

«Störe ich?»

Louis wollte sich nicht anmerken lassen, in welch depressiver Stimmung er sich befand. Da lag das schönste Geschöpf im Schlafzimmer, und er durfte es nicht besitzen. Carla setzte Prioritäten. Je nach beruflicher Herausforderung stand Louis immer an zweiter Stelle. «Nein, ich habe gerade geduscht.»

«Ich brauche dich. Wann rechnest du, bist du hier?»

«Spätestens um elf. Was liegt vor?» Louis ahnte, die Sache mit dem Kreuz in der Sankt-Meinrad-Kapelle könnte sich in eine unangenehme Richtung weiterentwickelt haben. Die Spurensicherung war noch am Abend auf dem Etzel gewesen. Das Kreuz hatten sie nach Schindellegi gebracht, wo es auf Fingerabdrücke untersucht wurde.

«Soeben ist eine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen», sagte Valérie. «Der pensionierte Pfarrer Armando Negroni aus Trachslau wird seit gestern Abend vermisst. Gemäss seiner Haushälterin ist er weder dement noch sonst wie verwirrt. Er sei nicht zum Nachtessen erschienen. Das sei in fünfzig Jahren noch nie vorgekommen.»

«Jetzt reimst du dir wohl etwas zusammen.» Er wickelte sich in sein Badetuch und ging in die Küche. Louis ahnte, dass es mit dem ausgiebigen Frühstück nichts wurde, und drückte einen Kaffee aus der Maschine.

«Ich wollte, ich könnte dem gelassen entgegensehen. Was mich verunsichert, ist die Tatsache, dass es sich beim Vermissten um einen Pfarrer handelt. Sozusagen aus der gleichen ‹katholischen Familie› wie der Sigrist Zahir Kälin.»

«Mach dich nicht verrückt. Gibt es etwas, das deinen Verdacht untermauert?» Louis klemmte das iPhone zwischen Kinn und rechte Schulter und rubbelte sich trocken. Als er in der Nacht nach Hause gefahren war, hatte er ähnliche Gedanken gehabt. Die Kapellen Hurden und Sankt Meinrad hatten Gemeinsamkeiten, die sie noch nicht hatten erkennen können. Er war sich absolut sicher. Die Kassette mit dem Bild der Gottesmutter fehlte irgendwo. Oder nur das Bild, eventuell ein Wandbild, welches der Täter fotografiert und später in der Hurden-Kapelle deponiert hatte. Das Kreuz von der Hurden-Kapelle hatte er in die Sankt-Meinrad-Kapelle transportiert und die Statue ersetzt. Eine aufwendige und komplizierte Vorgehensweise, die viel Zeit in Anspruch genommen haben musste. Die Statue dagegen würde, war sich Louis sicher, irgendwo wieder auftauchen. Wenn er der Chronologie der Taten folgte, würde dies auch bei den Kapellen der Fall sein. Die Kirche Sankt Johannes Baptist und die Bruder-Klausen-Kapelle bei Egg vor Einsiedeln waren die nächsten auf dem Pilgerweg.

«Ich habe bereits ein paar Kollegen aufgeboten», sagte Valérie, «um die von Pfarrer Negroni bevorzugten Spazierwege abzusuchen. Wenn du jetzt in Rickenbach wegfährst, könntest du in knapp einer halben Stunde auf dem SSB sein. Chiara Cottichini, die das Kreuz entdeckt hat, und Milena Rossi, die Haushälterin des verschollenen Pfarrers, sind hier. Ich möchte, dass du bei der Befragung dabei bist oder selbst eine übernimmst.»

Louis trank im Stehen den Kaffee. «Ich werde mich beeilen.» Damit beendete er den Anruf und ging ins Schlafzimmer, wo sich Carla auf dem zerknautschten Deckbett räkelte.

Sie sandte ihm einen lasziven Blick zu. «Geht’s um euren neuen Fall?»

Es war heikel, darüber zu sprechen. Im Moment hatte Louis keine Lust auf irgendein Gespräch mit Carla. Er wollte sie ein bisschen zappeln lassen. «Ich werde dich darüber informieren, sobald wir damit an die Öffentlichkeit gehen.»

***

Der Hund fiel ihr als Erstes auf. Als Valérie das Befragungszimmer betrat, versperrte er ihr den Weg zum Tisch. Sie erschrak heftig und vermochte nicht nachzuvollziehen, warum man diesen Köter nicht draussen vor der Tür gelassen hatte. Es roch nach nassen Hundehaaren.

«Sie tut nichts», sagte die Frau auf dem Stuhl, der Valéries Reaktion aufgefallen sein musste. «Fay ist ein friedliebendes Tier, manchmal sehr übermütig. Doch sie ist müde. Ich habe sie heute Morgen bereits über den Etzelpass gehetzt.»

Tatsächlich liess sich «die Hündin», wie Valérie korrigiert worden war, nicht aus der Ruhe bringen. Sie blinzelte sie bloss mit einem Auge an. Valérie schritt zum Tisch und legte Akten ab. «Sie müssen Frau Cottichini sein.» Die Frau war um die vierzig, dünn und hochgeschossen wie ein Spargel. Entweder machte sie Sport bis zum Gehtnichtmehr, oder sie litt unter einer gesundheitlichen Störung, was Valérie eher in Erwägung zog. Ihre Bewegungen waren ungelenk. Trotz ihres ausgemergelten Körpers ging etwas von ihr aus, das an eine verflossene Schönheit erinnerte. Ihre halblangen Haare hatten den Glanz verloren, in den dunklen Augen lag jene Melancholie, die von einer tiefen Traurigkeit zeugte. Ein einschneidendes Ereignis hatte im Leben der Frau seinen Tribut gefordert.

Die Frau nickte. «Chiara Cottichini.»

«Sorry, dass Sie warten mussten.» Valérie installierte das Aufnahmegerät. «Und danke, dass Sie so schnell vorbeikommen konnten. Ich werde unser Gespräch aufnehmen.»

«Ist das die Regel?» Cottichini klang verunsichert.

«Es erleichtert einiges. Im Moment fehlt mir zudem eine Protokollführerin.»

«Ich verstehe.» Ein scheues Lächeln umspielte den weich gezeichneten Mund.

«Sie besuchen die Kapelle Sankt Meinrad regelmässig?»

«Das ist richtig. Ich bin praktisch jeden Tag auf dem Etzel. Fay braucht Auslauf. Ich mag die einsamen Wege und verschlungenen Waldpfade. Dann besuche ich jeweils auch die Kapelle. Ich bin …» Sie hielt inne. «Ich bin sehr gläubig.» Nach ihrer Sprechpause fragte sie: «Was ist denn passiert? Es muss einen Grund geben, warum ich hier bin. Ist es wegen der verschwundenen Statue?»

«Diese hat nicht erste Priorität, wohl aber das Blut.»

«Schrecklich.» Chiara Cottichini verzog ihr Gesicht zu einer Grimmasse. «Was hat das zu bedeuten? Steht das etwa im Zusammenhang mit dem Kreuz?»

«Der Kriminaltechnische Dienst hat Proben davon genommen.» Valérie griff nach ihren Dokumenten. «Fällt Ihnen dazu etwas ein?»

«Nein, was sollte mir denn einfallen? Vielleicht hat man jemanden ermordet und ihn weggebracht.» Chiara Cottichini bekreuzigte sich.

Valérie blätterte die Dokumente durch, bis sie auf die Kopie des Marienbilds stiess. Sie breitete sie vor Chiara Cottichini aus. «Kommt Ihnen diese Zeichnung bekannt vor?» Valérie rechnete nicht damit. Es wäre auch zu schön gewesen. Aber wie sie ihr Gegenüber einschätzte, hatte Chiara Cottichini möglicherweise eine Ahnung von Heiligenbildern.

«Das ist eine Fotografie, oder?», fragte sie, gefasster jetzt.

«Sie wurde vermutlich in einer Kirche oder Kapelle aufgenommen.»

«Da schaut sie aber grimmig. Ich meine, die Maria. Ja, sie kommt mir bekannt vor.»

«Sie kennen das Bild?» War es ein erster Silberstreifen am Horizont? Valérie wartete gespannt auf ihre Antwort.

«Ich habe es schon gesehen.» Cottichini überlegte. Ihre Stirn warf Falten, was die letzten anmutigen Züge zum Verschwinden brachte. «Nur fällt mir nicht ein, wo.»

Valérie wollte sie nicht länger quälen. «Das hat Zeit. Eventuell erinnern Sie sich zu einem späteren Zeitpunkt daran. Möchten Sie etwas zu trinken?»

«Nein, danke, geht schon. Ich hatte meinen Ristretto schon im Gasthaus Sankt Meinrad. Die Wirtin bereitet ihn jeweils extra für mich zu. Ich trinke nur Ristretto.» Cottichini sah nach ihrer Hündin, die tief zu schlafen schien. Sie hatte die Schnauze halb geöffnet. Eine Reihe spitziger Zähne schimmerte unter der Zunge durch wie der Zaun einer Miniatur. Es sah aus, als lächelte sie.

«Sagt Ihnen der Name Zahir Kälin etwas?»

«Er … war der Sigrist für die fünf Dörfer der Gemeinde Freienbach. Ich habe gelesen, dass er beim Brand in Hurden umgekommen sei.»

Natürlich waren in den Medien längst Namen gefallen. Ein Sigrist war nicht bloss ein Mensch, er war im weitesten Sinn eine öffentliche Person. Ein schwarzer Sigrist fiel auf. Nebst seinen aussergewöhnlichen Aktionen, was die Installationen zu den Feiertagen betraf, hatte er sich gern unter Leuten gezeigt, was der Rössli-Wirt wiederholt bestätigt hatte. Valérie hatte es im Protokoll gelesen. «Haben Sie ihn persönlich gekannt?» Sie wollte das Eisen schmieden, solange es heiss war. «Sind Sie ihm erst kürzlich begegnet?»

«Nein, ich bin ausser auf dem Etzel und im Restaurant Tulipan in Einsiedeln, wo ich halbtags arbeite, nie wirklich draussen.» Sie seufzte, was sich wie ein Pfeifen anhörte. «Ist das wichtig?»

Valérie hätte gern mehr erfahren, wie die Frau lebte, wenn sie nicht gerade mit ihrem Hund spazieren ging. «Sie arbeiten im Service?»

«Ja, seit meiner Scheidung vor vier Jahren. Ich bin eine treue Seele, wie Sie sehen.»

«Ein Fünfzig-Prozent-Job, sagten Sie?» Valérie versuchte, auf die diplomatische Art mehr aus der Frau zu holen.

«Ich schreibe an einer Familienchronik», kam es zögerlich aus ihrem Mund. «Über meine Familie, die in der Emilia-Romagna angesiedelt ist. Mütterlicherseits», betonte sie und winkte ab. «Ach, das ist nicht wichtig. Ich vergeude bloss Ihre Zeit damit.»

«Wann erscheint das Buch?»

«Das kommt darauf an, wie ich vorwärtskomme. Meine Krankheit hat mich in die Knie gezwungen, aber sie war ausschlaggebend, warum ich überhaupt mit der Recherche begonnen habe. Ich hatte Brustkrebs. Ich will wissen, ob das in den Genen liegt.»

Valérie spürte den Stich in ihrer Mitte. Trotzdem wollte sie den Grund für ihre Nachforschungen nicht glauben. Steckte möglicherweise etwas anderes dahinter? «Das tut mir leid. Ist es vorbei?»

«Es ist nie vorbei. Es kann jederzeit wieder ausbrechen.» Chiara Cottichini rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ihr war offensichtlich nicht mehr wohl in ihrer Haut.

Valérie sah ein, dass sie mit den Fragen zu weit gegangen war. Doch die Antwort darauf erklärte alles, glaubte sie zumindest. Vor ihr sass eine einsame Frau, die sich an ein wenig Aufmerksamkeit klammerte. «Es gibt noch einen anderen Grund für Ihre Geschichte, nicht wahr?»

«Warum meinen Sie?» Chiara Cottichini gab sich überrascht.

Dennoch glaubte Valérie, sie hätte bloss auf ihre Frage gewartet. «Ihre Krankheit, und was ist der andere?»

«Eine Familiengeschichte. Aber wie gesagt, ich stehe noch ganz am Anfang.»

Inzwischen war Fay erwacht. Sie juckte auf, ging auf ihre Herrin zu und strich ihr um die Beine. Die Hündin muss einen sechsten Sinn haben, ging Valérie durch den Kopf. «Eine letzte Frage: Ist Ihnen in der Zwischenzeit eingefallen, wo Sie die Marienzeichnung gesehen haben?»

«Nein, tut mir leid. Aber ich werde mich melden, sollte ich mich daran erinnern.»

***

Zwei Zimmer nebenan sass Louis Milena Rossi gegenüber. Sie war eine kleine, rundliche Frau mit roten Pausbacken, bei denen er nicht wusste, ob sie von ihrer Nervosität herrührten oder von dem ersten Schluck Alkohol an diesem Vormittag. Sie hatte eine eigenartige Ausdünstung, die an abgestandenes Bier erinnerte. Sie trug Jeans und Pulli und darüber eine Jacke, die ihr mit Sicherheit eine Nummer zu klein war. Sie hatte eine Kunstlederhandtasche bei sich, die sie fest an sich drückte, als könnte jemand sie ihr entreissen. Ihre grauen Haare trug sie offen. Sie fielen ihr über die Schultern, standen etwas ab wie durcheinandergebrachtes Stroh.

«Erzählen Sie mir, wie Pfarrer Negroni drauf war, bevor er das Haus verliess.» Louis schob ein Mikrofon in Milena Rossis Nähe.

«Wie immer. Er sagte, dass er seine Füsse vertreten wolle. Das war am frühen Nachmittag. Ich hatte ihm ein belegtes Brot eingepackt. Untertags isst er nie viel. Manchmal auswärts im Kloster, bei Pater Kasimir. Am Abend koche ich. Das war in den letzten fünfzig Jahren ein fester Bestandteil. Das Nachtessen war Pfarrer Negroni heilig.»

«Machte er nie Ferien?»

«Oh doch. Er reiste einmal im Jahr nach Fuerteventura. Ein Freund von ihm hat dort ein Haus in der Nähe von Pájara. Aber auch in den Ferien musste er essen.»

«Sie haben ihn begleitet?»

«Ich bin wie sein Schatten.» Milena Rossi schloss ihre Augen, als überlegte sie, dass das so nicht stimmte. «Ich verfolge ihn natürlich nicht überallhin.»

«Hat er gesagt, wohin er geht?»

«Nein. Ich nahm an, dass er seinen gewohnten Weg zur Alten Post marschierte, dort den Bus bestieg und nach Einsiedeln fuhr.»

«Immer?»

«Manchmal wird er andere Wege eingeschlagen haben. Aber sie endeten meistens in Einsiedeln. Ich meine, seit er pensioniert ist. Er hat jetzt viel Zeit.»

«Wen, ausser Pater Kasimir», Louis schrieb «pensioniert und viel Zeit» auf, «könnte er denn noch besucht haben?»

«Manchmal traf er sich mit dem Besitzer des ‹Goldapfels›, das ist eine Bäckerei an der Hauptstrasse. Und ihm gehört auch das Lebkuchenmuseum an der Kronenstrasse. Wenn er dort war, kam er meistens mit ein paar alkoholischen Getränken für seinen Vorrat zurück.» Milena Rossi schmunzelte. «Auch ein Pfarrer ist ein Mensch. Kennen Sie den Ur-Rosoli?» Bei dessen Erwähnung erhellte sich ihr Gesicht. «Es ist eine Einsiedler Spezialität mit fünfundzwanzig Volumenprozent Alkoholanteil. Man sagt ihm eine heilende Wirkung nach … Ein gesegneter Gesundheitstrank», fügte sie lächelnd hinzu.

Louis kam nicht umhin zu denken, dass Milena Rossi diesen Schnaps gern trank. Er hatte den Namen des Bäckers notiert, auch den von Pater Kasimir. «Fällt Ihnen noch etwas dazu ein? Wo könnte Pfarrer Negroni noch gewesen sein?»

«Vielleicht in der Bibliothek der Stiftung des Kunst- und Architekturhistorikers Dr. Werner Oechslin. Der Pfarrer liebt das Odeur alter Bücher und Schriften und fachsimpelt gern mit den Mitarbeitern.»

«Geht er dort oft hin?»

«Ich weiss es nicht. Ich achte nicht immer darauf, was er von seinen Ausflügen erzählt. Na ja, er wiederholt sich oft.»

«Könnte es sein, dass er gestern weitergefahren ist als nur bis nach Einsiedeln?»

«Das kann ich mir in seinem Zustand nicht vorstellen. Er hat Probleme mit den Beinen. Es ist ihm immer wichtig, im Tal zu bleiben, wo man ihn kennt und allenfalls nach Hause bringen kann, sollte er selbst einmal nicht in der Lage sein.»

Louis schlug einen schmalen Ordner auf. Darin waren einige Angaben über Pfarrer Negroni bereits enthalten. Eine Kollegin hatte Vorarbeit geleistet und ein paar Notizen über die Vita des Pfarrers eingeheftet. 1941 in der Nähe von Bologna geboren, zogen seine Eltern mit ihren zwei Söhnen sechzehn Jahre später nach Bellinzona. Ihre Mutter war Schweizerin, was die Umsiedlung von Italien in die Schweiz offenbar vereinfacht hatte. Nach der Matura studierte der junge Armando Theologie und Hebräisch in Fribourg, sein Bruder ging zurück nach Norditalien. Über ihn wusste man nichts. Nach dem Studium arbeitete Armando als Kaplan, bevor er 1971 in Trachslau zum Pfarrer geweiht wurde. 2006 ging er offiziell in Rente. Louis reichte das Dokument Milena Rossi. «Das ist alles, was wir über ihn wissen. Ich gehe davon aus, es gibt einiges im Leben des Pfarrers, was nicht schwarz auf weiss steht. Wenn Sie Ergänzungen anbringen könnten, bin ich Ihnen sehr dankbar.»

Milena Rossi überflog das Geschriebene. «Er erteilte Religionsunterricht. Daran mag ich mich gut erinnern. Er bereitete Zweitklässler auf ihre erste heilige Kommunion und die Erneuerung des Taufgelübdes vor und ebenso Jugendliche auf die Firmung.» Sie sah sich um, als würde sie sich gestört fühlen. «Unter uns gesagt», sie flüsterte: «Pfarrer Negroni galt als sehr strenger Religionslehrer. Es gab oft Tränen. Vor allem mit den Jungs ging er nie zimperlich um. Böse Zungen behaupten, er habe Ungehorsam mit Schlägen bestraft.»

Bei Louis schellten die Alarmglocken. «Gab es Übergriffe?»

«Übergriffe?» Milena Rossi verzog ihren Mund zu einer Schnute. «Sie meinen, ob er die Buben missbräuchlich angefasst hat?»

«Genau das meine ich.»

«Das dagegen traue ich ihm nicht zu. Aber es gibt etwas, worüber er nie sprach.»

«Das wäre?»

«Sagte ich gerade: Er hüllte sich in Schweigen.»

***

«Sind Sie ihm wieder begegnet?» Dr. Frigo war es offensichtlich ein grosses Anliegen, mit ihm zu sprechen. In dieser Woche sass Elisha bereits zum zweiten Mal in seinem Therapiezimmer.

«Ich sehe ihn oft.»

«Wo genau?»

«Überall. Es ist nicht bloss einer. Es werden immer mehr.»

«Erinnern Sie sich, wann Sie so einer … Kreatur zum ersten Mal begegnet sind?»

Elisha sah sich um, unfähig, schnell eine Antwort zu geben. Dr. Frigo hatte das Bild mit dem Engel entfernt und an seiner Stelle einen Spiegel aufgehängt. Keine Ahnung, was er damit bezwecken wollte. Der Arzt hatte einstweilen seltsame Ideen. «Ich weiss nicht genau, wann es begonnen hat. Irgendwann war es da, hat mir den Schlaf geraubt. Seither liege ich jede Nacht wach.»

«Nehmen Sie die Medikamente nicht ein?»

Medikamente. Er traf ihn an einem wunden Punkt. «Sie glauben mir nicht, ist es das?»

Dr. Frigo schwieg, wie er das oft tat, als wären ihm die Wörter ausgegangen. Er war etwa in seinem Alter mit bereits angegrauten Haaren und einer ordentlichen Statur. Es war sicher nicht leicht, Patienten wie Elisha zu beraten. Dass er ihn nicht für voll nahm, konnte er manchmal spüren. Er warf ihn in den gleichen Topf wie die Wahnsinnigen, die Manisch-Depressiven und Männer mit Burn-out. Elisha hatte nichts von alldem. Manchmal hatte er Angst.

«Es ist an der Zeit, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählen», sagte Dr. Frigo.

«Meine Geschichte? Ich habe keine Geschichte. Ich lebe in der Gegenwart. Was gestern war, ist vergessen, und das Morgen kenne ich nicht.»

An Geduld mangelte es dem Arzt nicht. Er hatte Zeit, auch wenn Elisha schwieg. Neunzig Minuten waren abgemacht. Egal, ob man redete oder nur still dasass. Er hatte einen Wecker aufgestellt, der unablässig tickte. Manchmal ging Elisha dieser Ton gehörig auf die Nerven. Es gab Zeiten, da beruhigte er ihn oder versetzte ihn in eine Art hypnotischen Zustand.

«Sie haben viele Geschichten. Erst kürzlich haben Sie davon erzählt. Erinnern Sie sich nicht?»

Elisha nickte. Zu mehr war er nicht fähig.

«Bestimmt können Sie mir etwas aus Ihrem Leben erzählen. Zum Beispiel, wo Sie letzte Woche waren. Was haben Sie gemacht? Hat Ihnen diese Tätigkeit gefallen? Was haben Sie dabei gespürt?»

Elisha streckte seinen Rücken. Letzte Woche? Das war lange her. Er würde sich anstrengen müssen, um nur einige Bilder daraus aus seinen Tiefen zu holen. «Ich muss aufpassen, wo ich hintrete.»

«Fürchten Sie sich dabei?»

«Ich lasse es nicht zu.»

«Manchmal muss man sich seinen Ängsten stellen. Und es gibt Wege, um aus dem Dilemma zu kommen.»

«Ich schlafe sehr schlecht.»

«Ihr Zimmer liegt ruhig. Sie hören Musik. Sie haben einen Fernseher. Und das Malen hilft Ihnen, sich aus den Schatten zu erheben. Ich habe Ihr letztes Bild gesehen. Es zeigt bereits einen Fortschritt. Machen Sie weiter. Wenn Sie sich beschäftigen, werden Sie in den normalen Alltag zurückfinden.»

«Ich bin mir nicht sicher. Als ich eines Morgens aufwachte, war das Duvet weg. Nachts hatte ich gespürt, wie etwas es mir vom Leib zerrte.»

«Sie müssen versuchen, die eingebildeten Dinge zu ignorieren.»

«Ich glaube nicht, dass ich es mir einbilde. Einmal zog jemand an meinen Füssen. Und als ich die Augen aufschlug, stand wer am Bett … mit diesem unheimlichen Blick. Schmale, senkrechte Pupillen hatte er. Nein, ich bilde es mir nicht ein. Sie sind hier. Sie sind alle hier …»

***

Über den mit Kies belegten Parkplatz ging Valérie zum Pfarrhaus, wo sich ein schmaler Weg abzeichnete. Es befand sich in Pfäffikon, unweit der römisch-katholischen Kirche, des Friedhofs und einer weitläufigen Wiese, an deren Ende die Bahnlinie Zürich–Chur lag. Der Blick auf den Zürichsee blieb verwehrt wegen alter, knorriger Bäume. Der Wind fuhr in die Baumkronen und erzeugte ein mächtiges Rauschen. Der nächtliche Regen hatte Abkühlung gebracht und eine aufgewühlte Decke düsterer Wolken, an deren Rändern ein paar Sonnenstrahlen vergebens versuchten, sich hervorzukämpfen. Manchmal blitzten sie grell auf wie Schwerter eines himmlischen Heeres. Die Umgebung des Hauses beeindruckte durch einen gepflegten Garten und einen properen Vorplatz. Das Grün an dessen Rand war im Wettstreit zwischen hell und dunkel an diesem stürmischen Tag.

Valérie betätigte die Klingel und wartete, bis die Tür geöffnet wurde. Unter dem Rahmen erschien eine junge Frau in hippen Kleidern: dunkelblaue Latzhose und ein Tanktop. Nicht das, was sich Valérie unter einer Pfarrhaushälterin vorgestellt hatte. Sie konnte allenfalls gut zwanzig sein. Ihre rotblonden Haare reichten ihr bis über die Schultern, auf deren linker Seite ein Herz mit Totenkopf tätowiert war, und umrahmten ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Dass die Frau attraktiv war, offenbarte sich erst nach längerem Betrachten. Ihr sympathisches Lachen steckte an, und die Stimme am Telefon nahm Formen an.

«Ich bin Valérie Lehmann. Wir haben miteinander telefoniert.»

«Ach ja, Sie sind das. Treten Sie ein.» Die Frau nannte ihren Namen. «Ich bin die gute Fee des Vikars.»

Valérie zeigte auf den Totenkopf. «Damit?»

«Auch damit.»

Valérie betrat ein Entrée, das die Grösse des Hauses erahnen liess. Eine Garderobe, an der ein dunkler Mantel hing, ein nussbaumfarbener Schrank und ein Schirmständer wirkten etwas verloren. Dagegen war die weisse Wand mit sakralen Bildern beinahe überfüllt. Die Schwarze Madonna in Lebensgrösse nahm den Platz neben einer Tür ein. Beim Durchgang zum Wohnzimmer hing ein Kruzifix. Die Anwesenheit der jungen Haushälterin war die einer Ausserirdischen. Wusste der Kuckuck, warum sie diesen Beruf gewählt hatte. Valérie rätselte im Stillen. Vielleicht war sie Studentin und verdiente sich damit ihr Studium.

Die Frau ging voraus zu einem Sofa, auf dem ein Mann mittleren Alters sass, offensichtlich Vikar Huwiler. Ein kleiner Mann, keine eins sechzig gross. Als er sich erhob, reichte er Valérie bis zum Kinn. Dennoch umfing ihn eine Aura, die Valérie zum Frösteln brachte. Seine Augen glichen einem klaren Gewässer, umrahmt von einem hellen Wimpernkranz, was die Haarfarbe bloss vermuten liess. Sein Schädel war kahl. Die ganze Physiognomie verriet nichts über sein Wesen. Doch Valérie hatte sich ein erstes Bild gemacht, vorgestern, als man sie über den Zusammenbruch des Vikars informiert hatte. Ein zartbesaiteter Gottesmann mit einer verletzlichen Seele. Sich ihn als Priester und Seelsorger vorzustellen, der den Mitmenschen Trost und Kraft spendete, vermochte Valérie in dem Moment nicht, als er sie mit hoher Stimme begrüsste.

Er setzte sich wieder. «Meine Haushälterin hat Ihren Besuch angekündigt. Nehmen Sie Platz, bitte.»

Valérie blieb stehen, sah sich diskret um. Das Wohnzimmer war spartanisch eingerichtet, mit einfachen Möbeln bestückt, ein Bund roter Astern als Farbtupfer in diesem eher düsteren Interieur. «Ich muss Ihnen zum Vorfall vom letzten Sonntag ein paar Fragen stellen.»

«Ich bin noch immer zutiefst erschüttert.» Vikar Huwiler liess seine Arme seitlich an sich hinabsinken. «Zahir war ein guter Mensch.»

Valérie rückte nun doch einen Stuhl zurecht und setzte sich. Sie holte ihren Schreibblock aus der Tasche. «Er hat mit aussergewöhnlichen Installationen für Aufmerksamkeit gesorgt.»

«Damit hat er auch junge Leute zu den Messen geholt. Die Kapelle in Hurden war nicht das einzige Gotteshaus, das er mit stimmungsvollen Beleuchtungen zum Strahlen brachte. Seine Lichtanimationen sind in ganz Freienbach bekannt. Er war ein farbiger Mensch, im wahrsten Sinn des Wortes. Dank unseres Budgets für Kunst und Kultur konnten wir ihn in seinen Ideen unterstützen.»

«Könnte das jemandem in den falschen Hals geraten sein? Im Vergleich zu anderen Religionen ist die katholische Kirche nicht bekannt dafür, mit farbenfrohen Sujets und Beleuchtungen zu protzen. Ich gehe davon aus, dass es unter den Gläubigen ein paar Moralisten gibt, die diese übertriebenen Dekorationen nicht mögen.»

«Die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage muss man sich etwas einfallen lassen, um den Menschen die Kirche näherzubringen.»

«Mit Konzerten zum Beispiel?» Valérie erinnerte sich an ein Plakat, das sie neulich in einer Unterführung gesehen hatte. Es warb für ein Rockkonzert in einer Kirche. Der Name der Kirche fiel ihr nicht ein.

«Es finden immer wieder klassische Konzerte in Kirchen statt.» Vikar Huwiler überlegte. «Auch Gospelchöre treten auf.»

«Rockbands?»

«Anscheinend sei die Akustik unschlagbar.» Vikar Huwiler kniff den Mund zusammen, als hätte er sich mit seiner Bemerkung versündigt.

«Wie gut kannten Sie Zahir Kälin?»

Vikar Huwiler wurde zusehends nervöser. «Muss ich davon ausgehen, dass ich auch in Lebensgefahr schwebe? Ich wollte am Sonntag die heilige Messe zum Bettag feiern. Kann es sein, dass der Anschlag mir gegolten hat?»

«Warum? Hätten Sie anstelle von Zahir Kälin so früh am Morgen in der Kapelle sein müssen?»

Er schluckte leer. «Nein, natürlich nicht.»

«Aber Sie können sich einen Reim darauf machen, weshalb Ihr Sigrist dort war?»

«Nein. Ich weiss auch von keinem Sonntag, am dem er so früh unterwegs war. Für gewöhnlich war er um sieben Uhr vor Ort, begann mit seiner Arbeit. Er war zuständig für die Kirchen und Kapellen in der Gemeinde Freienbach. Darunter fällt auch die Kirche Sankt Peter und Paul auf der Insel Ufenau. Insgesamt sind das zehn Kapellen und drei Kirchen.»

«Aber am Eidgenössischen Bettag war Zahir Kälin ausschliesslich für die Hurden-Kapelle zuständig?»

«Es war die letzte Kapelle, die er für die Messe vorbereiten musste. Die anderen Gotteshäuser hatte er in den Tagen davor geschmückt.»

«Womit geschmückt?»

«Mit Blumenarrangements.»

«Worin bestand seine Arbeit?»

«Kirchen, Kapellen und Gemeinderäume reinigen. Altartücher auswechseln, Kerzen erneuern, Gebetsbücher auf Schäden untersuchen, Weihwasser auffüllen, Opferstöcke leeren, um nur einige zu nennen. Er dekorierte die Gotteshäuser für Gottesdienste, Taufen, Trauungen und Abdankungen. Darunter fallen auch Aussenarbeiten.»

«Warum war an diesem Sonntag die Kapelle in Hurden nicht dekoriert?»

«Gut möglich, dass er deswegen so früh vor Ort gewesen war. Er hatte sicher wieder etwas Spezielles vorbereitet. Ich liess ihn stets gewähren. Vielleicht auch etwas mit Blumen … Ich weiss es nicht.»

«Ähnliches haben die Kriminaltechniker nicht gefunden.»

«Das ist sonderbar. Aber wie gesagt, Zahir durfte selbst entscheiden, wie er das Gotteshaus dekorieren wollte. Er hatte freie Hand. Aber dem Anlass entsprechend musste es sein.»

«Eine Feuerschale am Bettag?»

«Es war seine Idee, muss etwas mit seinen Wurzeln zu tun haben. Wir haben es nie thematisiert.»

«Es war Ihre Messe.»

«Man darf nicht immer alles hinterfragen.» Der Priester wandte den Blick kurz ab.

«Er stand vierzehn Jahre im Dienst der Kirche.»

«Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich kam vor sechs Jahren nach Pfäffikon. Und mein Vorgänger ist verstorben. Er kann Ihnen keine Auskunft darüber geben.»

«Sie hatten also keinen engen Kontakt zu Kälin?»

«Nein. Er war verheiratet und hatte Familie. Da liegen die Bedürfnisse anders.»

«Hm. Zahir Kälin hat Theologie studiert wie Sie.»

Wenn Vikar Huwiler überrascht war, liess er es sich nicht anmerken. Doch Valérie liess sich nicht täuschen. In den Jahren ihrer Tätigkeit hatte sie ein Gespür dafür bekommen, wenn jemand verunsichert war oder eine Wahrheit zurückhielt. «In der Kapelle hing ein Kreuz …»

«Ja, das Kruzifix. Ein Kreuz aus Holz mit … unserem Herrn … Jesus Christus.» Eine stockende Stimme. «Warum hing

«Man hat es entfernt.»

«Wie entfernt?» Vikar Huwiler erblasste. Er legte seine Hände ineinander, als wollte er beten.

«Man hat es von der Decke geholt und aus der Kapelle getragen, wahrscheinlich vor dem Brand. Denn es ist unversehrt. Wissen Sie etwas darüber?»

«Sie sprechen in Rätseln. Ich kann mir zudem nicht vorstellen, wie man so ein Kreuz von der Decke nimmt. Es war am Bogen beim Durchgang zum Altar befestigt.»

Valérie merkte, dass sie bereits zu viel gesagt hatte. «Wie ist es mit der Kapelle Sankt Meinrad?» Sie kehrte sich vom Thema ab. «Zelebrieren Sie dort auch Messen?»

«Ich wechsle mich mit Kollegen ab.» Vikar Huwiler kniff die Augen zusammen, worauf man bloss die hellen Wimpern sah. «Ist etwas mit der Meinrad-Kapelle?»

«Heute erschien ein Statement der Polizei dazu in den Medien. Vielleicht haben Sie es in den Nachrichten gehört. Das Kreuz aus der Hurden-Kapelle wurde in die Sankt-Meinrad-Kapelle versetzt.» Sie machte eine Pause, liess den Satz nachwirken. «Dagegen fehlt die linke Statue, die sich ansonsten dort befindet.» Das Blut erwähnte sie nicht.

«Der heilige Sankt Meinrad ist weg? Wie erklären Sie sich das?»

«Wir haben gewisse Theorien. Ich kann jedoch nicht darüber sprechen.» Valérie sah den Vikar eindringlich an. Über sein Gesicht fiel ein Schatten. «Fällt Ihnen dazu etwas ein? Gibt es möglicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Kapellen? Existieren Zusammenhänge zwischen dem Kreuz und der Statue?»

«Der heilige Meinrad, nach dem die Kapelle benannt ist, war ein Eremit», erwiderte Vikar Huwiler verdattert. «Ich kann mir nicht erklären, weshalb an seinem Platz ein Kreuz stehen sollte.»

«Eine Verbindung im übertragenen Sinn?» Valérie ging zu weit, das wusste sie. Aber sollten diesbezügliche Fragen vonseiten Caminada und Zanetti auftauchen, konnte sie bestätigen, sie abgeklärt zu haben. Und solche Fragen würden mit Sicherheit gestellt werden. «Hatte zum Beispiel Sankt Meinrad eine Bedeutung für Zahir Kälin?»

Vikar Huwiler seufzte ergriffen. «Er wird ihm sicher etwas bedeutet haben, wie allen Gläubigen in unserer Gegend. Aber solche Sachen hat er nie an die grosse Glocke gehängt. Zahir war ein stiller Mensch. Er ging vollkommen auf in seiner Kunst.»

Valérie notierte: «erste Ungereimtheit. War Kälin so still, wie ihn der Vikar beschreibt?»

«Haben Sie Kontakt zu Pfarrer Armando Negroni?»

«Ist er Geistlicher von hier?»

«Er ist Pfarrer im Ruhestand. Der Name sagt Ihnen nichts?»

«Nein.»

«Erinnern Sie sich, wann Sie Zahir Kälin das letzte Mal gesprochen haben?»

«Am Freitagmorgen in der Kirche von Pfäffikon. Leider nur kurz. Er schien sehr in Eile.»

«Worüber haben Sie sich unterhalten?»

«Über eine Beerdigung, die er auf den Montag hätte vorbereiten sollen.»

«Wo bezog Zahir Kälin die Blumen für die Dekoration?»

«In verschiedenen Blumenläden in der Umgebung.»

***

Wenige neue Erkenntnisse waren das Fazit am späten Nachmittag. Valérie war nach Biberbrugg zurückgefahren, wo sie sich mit Henry Vischer, dem Polizeipsychologen, verabredet hatte. Sie brauchte Unterstützung, wollte jedwede Aspekte von einer psychologischen Seite ausleuchten. Mit all dem, das sie an Informationen und Auswertungen hatte, konnte sie noch nicht viel anfangen. Die Brandermittlungen waren nicht fertig, und Stieffels Abschlussbericht war nicht eingetroffen. Es würde einige Zeit dauern, bis die Informationen komplett waren.

Auf ihrem Pult lag das Protokoll des KTD. Valérie überflog es, fand nichts, das ausschlaggebend gewesen wäre. Eindeutige Spuren existierten nicht. Aufgrund des Aufgebots an Feuerwehr und Polizei hatte man keine brauchbaren Reifenspuren herauskristallisieren können, die nicht den anwesenden Wagen zugeteilt werden konnten. Die Spuren in der Kapelle waren lediglich Beweis für Brandstiftung. Was fehlte, war die menschliche DNA eines Unbekannten. Wenn man sie je eruieren konnte, dann sicher nicht von heute auf morgen. Das Blut in der Meinrad-Kapelle, von welchem man eine Probe genommen hatte, war nicht menschlichen Ursprungs. Von welchem Tier es stammte, war bis anhin nicht bekannt. Ob es ein Zufall war? Valérie dachte eher an eine Verschandelung. Jemand, vielleicht derjenige, der das Kreuz und die Statue getauscht hatte, musste es ausgeleert haben. Ein weiteres Zeichen?

Einzig die rote Kassette war fester Bestandteil der Beweismittel. Deren Inhalt fehlte nirgends. Es war bloss eine Bildkopie, deren Herkunft lag im Schatten. Auf dem Weg von Pfäffikon nach Biberbrugg hatte Valérie noch einmal mit Vikar Huwiler telefoniert. Sie war ohne nennenswerte Erkenntnisse aus seinem Haus gegangen, hatte in dem Moment, in dem sie vom Parkplatz fuhr, das bange Gefühl gehabt, nicht alle Fragen gestellt zu haben. Vikar Huwiler hatte sie zum Gehen gedrängt. Augenscheinlich war es ihm nicht gut gegangen, oder er hatte sich mit seiner plötzlichen Unpässlichkeit vor weiteren Antworten drücken wollen. Valérie hatte ihn nach der Kassette gefragt. Er hatte keine Ahnung.

Valérie startete ihren Rechner und setzte sich auf den Bürostuhl. Während ihrer Abwesenheit waren einige Mails eingetroffen. Unter ihnen auch eine Nachricht von Fabia. Es war die einzige Mail, die Valéries Neugier weckte. Ihre Kollegin hatte einige Abklärungen anstellen müssen, unter anderem über die Herkunft des Marienbildes. Möglicherweise hatte sie Erfolg gehabt. Andererseits hätte sie das per Anruf mitteilen können. Valérie öffnete die Mail. Fabia schrieb, dass sich der Historiker endlich gemeldet habe. Er sei ein Mitarbeiter der Bibliothek Dr. Werner Oechslin in Einsiedeln, und zufällig sei ihm das Bild ein Begriff. Valérie scrollte nach unten. Die Bildkopie befand sich im Text, und darunter stand, es handle sich dabei um die Madonna mit Kind im Strahlenkranz nach einem Vorbild des früheren Heiligenbilds in der Kapelle «Heilig Hüsli», welche seit dem 16. Jahrhundert am Brückenkopf des Holzstegs am Obersee von Rapperswil nach Hurden stehe.

Eine kleine Kapelle. Musste man dort den Anfang dieses Mysteriums suchen?

Fabia schrieb dazu eigene Gedanken, dass sie das «Heilig Hüsli» kenne und sie abkläre, ob man in Rapperswil Näheres darüber wusste. Valérie ahnte, was Fabia möglicherweise befürchtete. Letztlich ging es um die Kapelle, welche sich auf dem Weg der Zerstörung des unbekannten Täters befand. Wenn man die Sankt-Meinrad-Kapelle mit der Hurden-Kapelle verband, erreichte man in deren nördlichen Verlängerung die Kapelle auf dem Brückenkopf. Valérie war sich nicht schlüssig, was sie davon halten sollte. Ob das «Heilig Hüsli» die erste Station auf dem Streifzug eines Psychopathen war oder sogar eine Fortsetzung von vorangegangenen Schändungen? Und ob der tote Sigrist und der verschwundene Pfarrer etwas damit zu tun hatten?

Valérie druckte den Text des Historikers aus, als es klopfte. Sie sah auf die digitale Uhr ihres iPhones. Halb sechs war es. Für diese Zeit hatte sich Vischer bei ihr angemeldet.

Er öffnete die Tür. «Darf ich?» Sein kahler Schädel sah aus wie bronziert. Erst noch hatte Vischer ein paar Tage in den Bergen verbracht, was er am Telefon verlautbart hatte. Bergsteigen sei seine neue Passion. Auf den Gipfeln könne er abschalten wie sonst nirgendwo. Unter seinem Arm klemmte eine Mappe.

Vischer hatte vor einem Jahr den Halbtagesjob als Lehrer im Kollegi Schwyz aufgegeben und arbeitete seither mehr Stunden bei der Kantonspolizei Schwyz als früher. Valérie hatte gehofft, dass sein Entscheid zwischen dem Beruf als Lehrer und als Angestellter bei der Kantonspolizei auf ihre Seite kippen würde. Lange war nicht sicher gewesen, ob er überhaupt bei der Polizei weitermachen wollte. Seine Lebenspartnerin war aus Japan zurückgekehrt und hatte während mehrerer Monate in einem Uhrengeschäft in Luzern als Dolmetscherin und Verkäuferin gearbeitet. Seit Mitte August dozierte sie an der Universität Zürich in Japanologie.

Vischer legte die Mappe ab, öffnete sie und holte Dokumente daraus hervor, die er lose hineingeschoben hatte.

«Ich sehe, du hast bereits ein paar Dinge zusammengetragen. Kaffee?»

«Nein, danke. Helena kocht. Ich habe ihr versprochen, zum Nachtessen zu Hause zu sein.»

«Wohnst du noch immer in diesem alten Bauernhaus in der Nähe von Immensee?»

«Wenn wir umgezogen wären, hätte ich dir zuerst davon erzählt.» Vischer runzelte die Stirn.

Valérie war nicht sicher, ob sie Vischer mit dieser unüberlegten Bemerkung brüskiert hatte. Es war Monate her, seit sie zum letzten Mal in seinem Haus gewesen war. Das lag aber daran, dass sie den Kontakt zu Helena nicht suchte. Sie hatte festgestellt, dass sie nicht dieselben Ansichten vertraten und Helena beharrlich die ihrigen durchsetzte. Zu diskutieren gab es nichts. Zudem war sie nach Valéries Ermessen sehr arrogant. Aus der sanften Frau, die Valérie von ihrer ersten Begegnung auf dem Flughafen in Erinnerung hatte, war nichts geblieben als ein Hauch von Staub. Ob sie sich als jemand Besserer sah, seit sie den Master im Fernen Osten gemacht hatte? Valérie fragte sich, wie der harmoniebedürftige Vischer, der in seiner Freizeit Kampfsport betrieb und seit Neustem kletterte, dies aushielt. So beschränkten sich ihre Treffen nach Feierabend auf einen Kaffee in ihrer Nähe, oder sie benutzten ihren Arbeitstag für den geistigen Austausch.

Valérie überreichte Vischer den ausgedruckten Text. «Den hat mir Fabia geschickt. Das Bild aus der roten Kassette respektive die Fotokopie davon ist ein Wandbild im ‹Heilig Hüsli›.»

«Das steht am Ende des Holzstegs», sagte Vischer. «Dort war ich schon joggen. Eine kleine Kapelle ist es, kaum der Rede wert. Soviel ich weiss, wurde sie Mitte des 16. Jahrhunderts erbaut. Es gibt eine Legende, die besagt, dass nach dem Ausbruch einer Epidemie im Spital Rapperswil eine Oberin als Hexe angeklagt und nach einer grausamen Folterung in einem Sack beim ‹Heilig Hüsli› im Obersee ertränkt wurde.»

«Ob diese Legende etwas mit unserem Fall zu tun hat?», stellte sich Valérie die Frage laut. «Was hat es mit der Hurden-Kapelle auf sich? Existiert darüber auch eine solche oder ähnliche Erzählung?»

«Du glaubst, wir haben es mit einem Fanatiker zu tun, der Legenden zum Anlass nimmt, sich zu rächen … wofür auch immer?», fügte er hinzu. Vischer setzte sich schräg aufs Pult und liess das eine Bein in der Luft baumeln. «Ein Klischee.»

«Das sind Fragen, die ich mir laufend stelle. Wer hat ein Interesse daran, einen schwarzen Sigrist umzubringen? Warum setzt er mit dem Verschieben sakraler Gegenstände ein Zeichen? Kommt dazu, dass wir einen verschollenen Pfarrer haben. Wir befürchteten, ihn in der Nähe der Kapelle Sankt Meinrad zu finden. Ich habe gehofft, den Code von der Vorgehensweise des Täters geknackt zu haben. Aber weit gefehlt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Pfarrer nicht mehr lebt.» Valérie stiess heftig Luft aus. «Deswegen bist du hier, Henry. Und natürlich aus dem Grund, dich wieder einmal unter vier Augen zu sprechen.» Sie setzte nach: «Möglicherweise haben wir zwei Fälle.»

«Was habt ihr über Zahir Kälin herausgefunden?»

«Das Bundesamt für Justiz konnte uns nichts Aussergewöhnliches über dessen Adoption mitteilen. Zahir in die Schweiz holen sei auf legalem Weg passiert, damals, als es noch möglich war. In der Zwischenzeit hat es andere Bestimmungen gegeben, was Adoptionen von Kenia angeht. Es gäbe Akten, die wir bei Bedarf einsehen können. Also muss es einen Zusammenhang mit etwas geben, das wir noch nicht kennen und das in der Schweiz passiert ist.» Valérie strich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Oder glaubst du, jemand treibt ein Spiel mit uns? Mit dem Feuer und dem Tierblut?»

«Wohl kaum mit der Polizei.» Vischer hüpfte vom Pult, ging durch den Raum zum Fenster und sah hinaus. «Was mich stutzig macht, ist das Datum des Mordes. Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ist ein überkonfessioneller Feiertag. Er wird von allen christlichen Kirchen gefeiert. Das heisst, nicht nur von der katholischen, sondern auch von der evangelisch-reformierten Kirche und, wenn ich mich nicht täusche, auch von der Israelitischen Kultusgemeinde.» Er wandte sich erst jetzt nach Valérie um.

«Unser Täter hat es aber ausschliesslich auf katholische Kapellen oder Kirchen abgesehen.»

«Du meinst, es geht gar nicht um den Sigrist?»

Valérie sah Vischer an, dass er ihr das nicht abnahm.

«Ich dachte, er sei bereits tot gewesen, als das Feuer ausbrach?», äusserte sich Vischer.

Sie wusste, dass sie mit vagen Hypothesen nicht weiterkam, und musste endlich Nägel mit Köpfen machen. Das war sie ihrem Team schuldig. «Ich werde abklären, ob man im Zusammenhang mit dem ‹Heilig Hüsli› einen Zwischenfall zu beklagen hat.» Das hätte sie längst tun müssen. Sie griff nach dem Telefonhörer der Festnetzstation. «Willst du dabei sein?»

Vischer kam vom Fenster zurück. «Nein, ich glaube, wir verschieben unser Gespräch auf morgen. Ich werde sonst zu spät zum Nachtessen kommen.»

Wo war der entspannte, lässige Psychologe geblieben? Er schien dauernd wie auf Nadeln zu sein. Kaum etwas begonnen, war er mit seinen Gedanken bei Helena.

Valérie wählte die Nummer der Auskunft, während Vischer die Tür hinter sich zuzog, und liess sich direkt mit der Kantonspolizei Sankt Gallen verbinden.