Zürich am frühen Morgen. Erneut zogen schwere Wolken auf. Die Temperatur war über Nacht in den einstelligen Bereich gesunken. Es war, als fiele ein Theatervorhang über die Limmatstadt und verabschiedete die letzte Vorstellung des Sommers.
Der Theologieprofessor wohnte in der Nähe der Kornhausbrücke. Valérie hätte blind hierherfahren können. Sie erinnerte sich an einen ihrer letzten Einsätze vor fünfeinhalb Jahren, als sie um Mitternacht zu einem erweiterten Suizid gerufen worden war. Der Täter, ein Mann um die vierzig, hatte den Job verloren, an Depressionen gelitten, war mit den Zahlungen im Rückstand und dem Alkohol verfallen gewesen: ein brodelnder Vulkan, der in jener Nacht im März ausgebrochen war. Zuerst hatte er seine Frau mit einem Küchenmesser getötet, dann seine zwei Kinder im Alter von zehn und acht Jahren im Schlaf erstickt. Danach hatte er die Polizei gerufen, als Akt seines Abschieds, kurz bevor er sich vom fünften Stock aus dem Fenster stürzte.
Im Nachhinein hatten alle das Drama kommen sehen, aber niemand hatte reagiert. Nicht nur die Tat, auch die Kälte der Nachbarn hatte Valérie erschreckt. Wie sie nach draussen gekommen waren, einer Herde gleich, um sich an dem Elend zu ergötzen.
Es war mitunter einer der schlimmsten Fälle während ihrer Amtszeit bei der Kantonspolizei Zürich gewesen. Angeschlagen aufgrund ihrer eigenen Not, dem Scheidungskampf und dem Konflikt wegen des Sorgerechts für Colin, hatte der Fall sie zermürbt. Aus den gelegentlichen Schlaftabletten und im Gegenzug den Aufputschmitteln war Gewohnheit geworden. Erst ihre Freundin Katja hatte ihr aus dem Schlamassel geholfen. Für Valérie war daher der Entscheid leichter gefallen, Zürich und der damit verbundenen Vergangenheit den Rücken zu kehren.
Valérie hatte Oliwia Maria vor dem Bahnhof abgeholt. Diese war am Abend zuvor nach Rapperswil zurückgefahren, obwohl man ihr ein Zimmer in der Nähe von Biberbrugg reserviert hatte. Sie war etwas gewöhnungsbedürftig, hatte offensichtlich ihren eigenen Kopf.
Valéries Gefühle ihr gegenüber waren zwiespältig. Einerseits mochte sie ihren Drive, den sie bei ihrer ersten Sitzung an den Tag gelegt hatte, andererseits befürchtete sie, ihr Team wäre damit überfordert. Oliwia Maria war die typische Deutsche. Ihrem schnellen Reden vermochte der bedächtige Schwyzer nicht zu folgen.
«Über dich findet man nichts im Netz.» Oliwia Maria räkelte sich, streckte ihre Beine von sich und gähnte ungeniert. «Hat es einen Grund?»
Dieser Frontalangriff behagte Valérie nicht, und sie tat so, als konzentrierte sie sich auf die Strasse.
«Du kennst mein halbes Leben.» Oliwia Maria schmunzelte zu ihr herüber. «Oder muss ich dich an meine Vita erinnern? Dein Chef wollte es sehr genau wissen.»
«Über mich gibt’s nicht viel zu sagen. Ich bin geschieden und habe einen erwachsenen Sohn.»
«Und du bist mit dem Staatsanwalt liiert.» Sie schien sich an dieser Tatsache zu amüsieren.
«Wir leben zusammen. Ist das ein Problem für dich?» Es sollte lustig klingen.
«Ach, von wegen. Ist doch toll. Ich selbst habe genug von Mannsbildern. Die Scheidung läuft.» Oliwia Maria verlor ein paar Worte über den Grund der Trennung und wies auf einmal auf Valéries Narbe. «Was hat es damit auf sich?»
«Ein Andenken. Es liegt ein paar Jahre zurück.»
«Sie muss dir demnach viel bedeuten, dass du sie nicht hast wegmachen lassen.»
Aus dieser Perspektive hatte Valérie es noch nie betrachtet. Selten mehr fühlte sich jemand durch ihre Narbe provoziert. «Sie ist Teil meines Lebens.» Valérie hatte kein Bedürfnis auf Small Talk, vor allem, wenn es ihre Vergangenheit betraf. «Da vorne ist es», sagte sie.
Das Haus sah aus wie jedes andere in dieser Zeile neoklassizistischer Bauten, die aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammten. Von Abgasen verfärbte Fassaden, introvertierte, mit Pflanzen überwucherte Balkone, Steildächer und die unverkennbaren Mansarden: Stadthäuser, die man überall auf der Welt fand.
Hegetschwyler hauste im Parterre. Die dunklen Holzmöbel wirkten erdrückend. Ein Sammelsurium aus verschiedenen Stilelementen, im Verlaufe eines Lebens zusammengetragen. Zweckdienlich, mehr brauchte der Mann, der hier allein lebte, nicht. Er ging am Stock wegen eines verstauchten Fusses, das Erste, was er zu seiner Person erzählte.
Auf dem runden Wohnzimmertisch lagen diverse Dokumente. Valérie war froh, wurden sie nicht nach Kaffee gefragt. Wenn der Kaffee so schmeckte, wie die Wohnung roch, konnte sie darauf verzichten.
«Ich habe das Archiv durchsucht.» Hegetschwyler setzte ein freundliches Lächeln auf. «Dabei bin ich von der Leiter gestürzt. Es ist lange her, dass jemand nach so was fragt.» Seine hellen Augen waren trüb. Grauer Star, vermutete Valérie. Auch sonst hatte das Alter seine Spuren hinterlassen. Sein schütteres Haar hatte er von links nach rechts gekämmt, um die kahlen Stellen zu bedecken. Sie schienen hellrosa durch. Er musste um die achtzig sein. Ein Wunder, dass er in seinem Alter noch immer dozierte. Als Aushilfe, hatte er am Telefon gesagt.
«1995 bis 1999. Beeindruckende Jahrgänge», sagte er. «Die Hälfte der Studenten gab vor Ablauf des vierten Semesters auf. Das Lizenziat geschafft haben am Schluss rund dreissig Theologen.» Hegetschwyler beugte sich über eine Notiz im aufgeschlagenen Ordner. «Vier von ihnen richteten die Zukunft anders aus als erwartet. Soviel ich weiss, landeten zwei Männer in der Pharmabranche und zwei Frauen in der Ethikkommission einer Firma. Fragen Sie mich nicht, in welcher. Achtzehn Hochschulabgänger wurden Priester. Sie hatten parallel zum Theologiestudium einen speziellen Vorbereitungskurs zum Priestertum absolviert. Die anderen zog es in den kirchlichen Dienst, oder sie wurden Seelsorger, zum Beispiel Spitalseelsorger.»
«Erinnern Sie sich an zwei Ihrer Studenten mit Namen Zahir Kälin und Benjamin Wyss?», fragte Valérie.
Hegetschwyler setzte sich. «Die Namen sagen mir gerade nichts. Es ist möglich, dass sie das Studium nicht zu Ende gemacht haben. Nicht allen liegen Fächer wie Dogmatik, Philosophie und Ethik. Bereits bei Themen wie Liturgiewissenschaft, Kirchengeschichte und Kirchenrecht kommen viele nicht weiter. Bitte, nehmen Sie doch Platz.»
«Kälin war vierzehn Jahre Sigrist in Hurden», präzisierte Valérie. «Wyss diente der Schweizergarde im Vatikan.»
«Und die sind jetzt tot.» Hegetschwyler schlug einen weiteren Ordner auf. Über sein zerfurchtes Gesicht hatte sich ein Schatten tiefer Besorgnis gelegt. Trotzdem schien ihn der Tod seiner ehemaligen Schüler nicht sonderlich zu berühren. Er blätterte in einem Dokument und zeigte auf ein Klassenfoto. «Das war der eine Jahrgang, den ich 1995 unterrichtete.»
«Gab es noch andere Klassen?», fragte Oliwia Maria.
«Diese jungen Männer hier», Hegetschwyler zeigte auf das Foto, «sind mir in Erinnerung geblieben. Lückenhaft allerdings», ergänzte er. «Gesichter kann ich mir eher merken als Namen.»
«Inwiefern?»
«Ehm … Was haben Sie gesagt?» Hegetschwyler schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
«Sie sagten, dass Sie sich besonders an diese Klasse, diesen Jahrgang gut erinnern.»
«Unter ihnen war ein junger Mann, der die andern jeweils zur Weissglut brachte. Ich fragte mich oft, was er in der theologischen Fakultät zu suchen hat. Ich erinnere mich, dass er vor Ende des zweiten Semesters aufgegeben hat.»
Valérie wies auf das Bild. «Wer ist es?»
Hegetschwyler zog ein Okular aus seiner Westentasche. «Dieser hier, der Grosse. Den Namen weiss ich nicht. Ist Jahre her.»
«Denken Sie nach, Herr Professor», forderte Oliwia Maria ihn auf.
Valérie versuchte, auf dem Bild Gesichter ausfindig zu machen, die Ähnlichkeit mit Kälin und Wyss hatten. Doch sie waren mit den Jahren verblasst. Trotzdem machte sie ein Foto mit dem iPhone.
«Es müsste irgendwo eine Liste mit sämtlichen Namen existieren.» Hegetschwyler blätterte weiter. «Hier, das waren meine Studenten, die ich 1995 in Ethik und Philosophie unterrichtete.»
Valérie las die Namen und stiess auf Benjamin Wyss und Zahir Kälin. «Sie waren in derselben Klasse.» Sie suchte Oliwia Marias Blick.
«Die Verbindung, die du vermutet hast.» Oliwia Maria spitzte die Lippen. «Ein Anhaltspunkt, den wir nicht unterschätzen dürfen.» Sie zog den Ordner auf ihre Tischseite, sah auf die Namensliste. Sie wandte sich an Hegetschwyler. «Fällt Ihnen zu den anderen Namen etwas ein?»
«Leider nein.»
«Gibt es Kontaktdaten dazu?», fragte Valérie. «Die Adressen ihrer Eltern, zum Beispiel? Während des Studiums kann man sich wohl kaum eine eigene Wohnung leisten.»
«Sie wohnten zum Teil auf dem Campus.» Hegetschwyler runzelte die Stirn. Das Okular fiel hinunter. «Die Studenten stammten aus der ganzen Schweiz.»
«Gibt es Lebensläufe der Studenten?»
«Lebensläufe?» Hegetschwyler lächelte vor sich hin. «Ich erinnere mich, dass Theologiestudenten in der Unterzahl waren. Sie wurden noch so gern aufgenommen. Die Matura reichte. Aber ein Curriculum Vitae … Nein. Was kann man mit kaum zwanzig Jahren denn schon geleistet haben?»
«Wir müssten den Schnellhefter mitnehmen», sagte Oliwia Maria. «Auch diejenigen von 1996, 1997, 1998 und 1999.»
Valérie fragte sich, ob diese Jahrgänge reichten. «Wo ist allenfalls der Ordner von 1994 oder 2000?»
«Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie diese auch gebrauchen.» Hegetschwyler entsetzte sich. «Ich müsste sie aus dem Archiv der Universität holen. Es brauchte bereits grosse Überzeugungskraft, um die Ordner hier nach Hause zu nehmen. Der Archivar war nicht sehr erfreut. Und dann noch dieser Sturz. Ein Umstand, verletzt im Zug von Fribourg nach Zürich zurückzufahren.» Er zeigte demonstrativ auf seinen linken Fuss.
«Wir hätten uns in der Uni treffen können.» Valérie liess es dabei bewenden. «Ich danke Ihnen für Ihr kooperatives Handeln.»
«Keine Ursache. Ich bin auch sehr daran interessiert, zu erfahren, wer hinter den Morden steckt.»
«Ach ja, noch eine Frage: Kennen Sie zufällig Armando Negroni?»
«Nein, der Name sagt mir nichts.»
***
Er vernahm das knatternde Dröhnen eines Helikopters und hätte gern gehofft, dass man nach ihm suchte. Armando wusste nicht, an welchem Ort der Welt er sich aufhielt. Es hätte überall sein können. Am ehesten in einem Wald, verborgen unter dem Blätterdach, in einer Hütte, in der ihn niemand fand. Manchmal glaubte er, Stimmen zu hören.
Er hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war es das, was der unbekannte Entführer von ihm wollte. Dass er sich seiner Vergangenheit stellte.
Die Ketten an seinen Füssen klimperten bei jeder Bewegung. Ob es damit zu tun hatte? Die Ketten als Erinnerung an all das, was er früher getan hatte?
Die Zeit war eine andere gewesen. Und er ein anderer Mensch.
Ein nahes Geräusch schreckte ihn auf. Es kam von der Richtung, in der die Tür lag. Er war zurück, grösser, kräftiger, dominanter als je zuvor. Wenn er doch bloss sein Gesicht hätte sehen können. Doch da waren dieser Umhang und die Kapuze. Alles schwarz und geheimnisvoll. Wie ein Mönch, schoss es durch Armandos Kopf. Hatte er selbst nicht auch einen solchen Umhang getragen? In dieser fernen Zeit?
Der Fremde schob ihm einen Papiersack zu. Armando griff zögernd danach. Ein Brot kam zum Vorschein. Wasser und Brot, dachte er, das, was Jesus seinen Jüngern beim Abendmahl gereicht hatte. Am letzten Abend vor seinem Tod. Ob dies ein Zeichen war? Armando hatte Angst. Er dachte an die abwechslungsreichen Speisen, die Milena ihm aufgetischt hatte. Er hatte vergessen, wie sich Abstinenz anfühlte. Es war ihm gut gegangen, während Milena seinen Haushalt führte. Sie hatte nie gefragt, wenn er von diesem einen Besuch zurückkam. Doch in ihren Augen hatte er gelesen, dass sie mehr darüber wusste, als ihm lieb war. Später hatte sie ihn sogar dorthin gefahren, weil er selbst keinen Führerausweis besass.
«Warum bin ich hier?» Ein erneuter Versuch, sein Gegenüber aus der Reserve zu locken. Es durfte nicht sein, dass er einfach schwieg. Dass er ihn hier gefangen hielt, musste einen Grund haben. Es gab nichts bei ihm zu holen. Armando war bescheiden, seit jeher. Er hatte eine Rente. Die reichte für ihn und Milena.
Er hätte ihn auch töten können. Aber Armando lebte. Mit Wasser und Brot.
Der Fremde sagte nichts, verliess bloss den Keller. Sein Schweigen empfand Armando schlimmer als die Ketten.
***
Gut gelaunt trat Thomas Haltiner auf die Strasse. Er hatte heute früher Feierabend gemacht, war bereits zu Hause gewesen, um den Einkaufszettel seiner Frau in Empfang zu nehmen. Seit der Geburt ihres Sohnes vor vier Monaten übernahm Thomas den wöchentlichen Einkauf. Der Kleine hatte sein Leben grundlegend auf den Kopf gestellt, und Themen, die er als nicht relevant betrachtet hatte, waren plötzlich wieder präsent. Die Frage um einen besser bezahlten Job, eine Zusatzausbildung bezüglich seines Berufs als Koch, eine lukrative Nebenbeschäftigung. So ein Kind war teuer, zumal seine Frau sich dafür entschieden hatte, zum Wohle ihres Sohnes daheim zu bleiben.
Thomas blieb stehen, sah zurück auf den Wohnblock, in den er vor einem Jahr eingezogen war. Er mochte das Quartier in der Nähe des Flusses Alp im Dorf Einsiedeln. Es war kindgerecht und bot viel Grünfläche und Platz zum Spielen. Günstig hatte es sein müssen, den veränderten Umständen angepasst. Thomas hätte es weiterbringen können, hätte er damals dem Wunsch seines Vaters entsprochen und studiert. Mediziner hatte er für ihn vorgesehen, damit er einmal seine Praxis übernahm. Thomas hatte sich nie als Arzt gesehen und einen anderen Weg eingeschlagen. Koch war sein Traumberuf gewesen, immer schon. Jetzt war sein Vater tot und die Praxis von einem tschechischen Arzt übernommen worden. Sein Vater hätte sich im Grab umgedreht, hätte er davon erfahren. Viel hatte der Verkauf der Praxis nicht gebracht. Sie war alt und musste kontinuierlich auf den modernsten Stand aufgerüstet werden. Thomas’ Mutter hatte sich kaum dazu geäussert. Sie hatte unter der Dominanz ihres Mannes gelitten. Heute lebte sie allein in ihrem Einfamilienhaus. Den Kontakt zu Thomas hielt sie aufrecht, doch als Grossmutter sah sie sich nicht wirklich und machte sich entsprechend rar.
Schade, dachte Thomas, als er sich auf den Weg zur Tiefgarage machte, die sich ausserhalb des Wohnblocks befand. Seine Mutter wusste nicht, was ihr entging. Zudem hätte sie einspringen können, falls es sich seine Frau anders überlegte und wieder in den Beruf einstieg.
Seit einem halben Jahr kochte Thomas im Alters- und Pflegeheim Langrüti in Einsiedeln und schätzte die regelmässige Arbeitszeit. Es ermöglichte ihm, seine Frau über das Wochenende zu entlasten.
Er schritt zu seinem Wagen, ein älterer Golf, der neben dem Sportboliden eines ehemaligen Schulkameraden stand. Dieser protzte gern mit Statussymbolen, kaufte sich Unnötiges, um Leute zu beeindrucken, die er nicht mochte. Thomas öffnete die Tür auf der Fahrerseite, schwang sein rechtes Bein hinein, als er durch ein Geräusch in seiner Nähe abgelenkt wurde. Er hatte damit rechnen müssen, dass sein Kollege irgendwann einmal auftauchen und ihn vollquatschen würde. Thomas war darauf vorbereitet. Diesmal würde er ihm Paroli bieten und von seinem Sohn erzählen und wie dieser sein Leben positiv verändert habe. Dagegen kam eine schnelle Karre nicht an.
Den Typen kannte er nicht. Gross war er, geradezu massig in seinem lächerlichen Umhang. Eine Zeit lang glaubte Thomas, vor einem Mönch zu stehen. Sein Gesicht war von der Kapuze halb verdeckt. Das Garagenlicht fiel von hinten auf den Fremden. Der Schatten liess keine Details erkennen. Ausser den Augen. Dieser Blick. Dieser stechende Blick.
Es war vielleicht ein Fehler, dass Thomas sich nicht setzte, ein Reflex. Er fand keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er realisierte, wie der Fremde den rechten Arm hochzog. Was er in der Hand hielt, vermochte er nicht zu sehen. Er sah bloss etwas aufblitzen, und noch ehe der Schmerz bei ihm ankam, sackte er zu Boden.
***
«Alle mal herhören.» Valérie stand unter Druck. Ihre Bemühungen in Bezug auf die beiden Morde hatten bislang nicht die Resultate gebracht, die sie sich erhofft hatte. Deshalb legte sie ihr Augenmerk auf die Liste der Theologiestudenten und die Adressen deren Angehöriger. «Inhouse ist angesagt. Wir suchen den heutigen Aufenthaltsort aller Männer, die zwischen den Jahren 1995 und 1999 an der Universität Fribourg Theologie studiert haben.» Sie teilte die Kopien der Listen aus. «Mir ist bewusst, dass es eine immense Arbeit ist und ihr das Wochenende dafür opfern müsst. Tut mir leid. Es wird wieder Zeiten geben, in denen ihr die Überstunden kompensieren könnt.»
«Was ist mit den Ordnern?» Fabia wies auf die Kiste, die Valérie und Oliwia Maria ins Sitzungszimmer gebracht hatten.
«Nehmt heraus, was ihr braucht. Aber bitte mit Vorsicht. Ich habe Professor Hegetschwyler das Versprechen gegeben, alles so zu retournieren, wie wir es mitgenommen haben.»
In diesem Moment klingelte ihr iPhone. Valérie erkannte die Nummer des Notrufs auf dem Display und meldete sich. «Daniel, was gibt’s?» Sie fühlte sich gestört. Warum musste er ausgerechnet sie kontaktieren? Er hatte auf dem digitalen Terminkalender gesehen, dass ihr Team sich zur Sitzung eingefunden hatte.
«Soeben erreichte mich die Nachricht, dass in der Nähe der Grotzenmühlestrasse in Einsiedeln in einer Autoeinstellhalle ein Mann gefunden wurde. Wahrscheinlich erschlagen.»
Ein ohnmächtiger Schmerz ereilte sie, schoss wie ein Pfeil in ihre Mitte, und einen Augenblick lang glaubte sie, das Atmen zu vergessen. «Und warum rufst du mich an?» Vergebens versuchte sie, die Ungeheuerlichkeit dieser Botschaft nicht an sich heranzulassen. Sie war wie ein Schlag ins Gesicht.
«Ich erreiche Caminada nicht.»
«Ist die Streife vor Ort?» Dann kam die Logik und liess aufsteigenden Emotionen keinen Platz.
«Ja, diese habe ich subito hingeschickt.» Daniel Christen teilte weitere Informationen mit.
«Okay, ich werde Zanetti aufbieten.» Valérie verabschiedete sich, nachdem sie die Koordinaten aufgenommen hatte. Sie musste sich setzen und sah in die Runde. «Wahrscheinlich ein dritter Mord. Oliwia Maria, Louis und Fabia, ihr kommt mit mir.» Sie spürte, wie Kälte sie erfasste. Sie wählte Zanettis Nummer.
Er meldete sich. «Cara mia, du tönst gestresst. Ärger?»
«Es gibt einen weiteren Toten in Einsiedeln. Caminada ist unauffindbar. Ich denke, wir sehen uns am Tatort. Tiefgarage an der Grotzenmühlestrasse.» Und an Louis gewandt: «Der KTD muss her, der Gerichtsmediziner.» Es war ihr nicht möglich, sich an die Hierarchie zu halten. Es musste schnell gehen. «Alle andern machen sich bitte an die Liste.»
«Und wenn es sich um einen Unfall handelt?», fragte Fabia.
«Es ist kein Unfall. Es gibt einen unmittelbaren Zeugen.»
***
«Drei Tote innerhalb von sechs Tagen.» Valérie sass mit Oliwia Maria auf dem Rücksitz des Streifenwagens, Louis am Lenkrad. Er bog vom Parkplatz auf die Einsiedlerstrasse ab. «Langsam glaube ich an eine Serie.»
«Der Täter muss eine grosse Wut verspüren. Die Vorgehensweise bei den letzten zwei Opfern beweist es. Die Mordwaffe sei vierkantig und aus Holz, was ich in den Rapporten gelesen habe. Es hat etwas mit dieser Waffe zu tun. Die ist nicht willkürlich gewählt. Alles ist geplant.»
Valérie sah ihre Kollegin von der Seite her an. Heute würde Oliwia Maria zum ersten Mal an einem Tatort mit dabei sein. Sie war neugierig darauf, was sie anders machte als sie. Ihr geübtes Auge sah wahrscheinlich hinter die Kulisse. Hinter den Vorhang des Dramas. Konnte zwischen den Zeilen lesen und Dinge heraushören, als würde ein Souffleur ihr zuflüstern. Das könne man lernen, hatte sie erzählt. «Cold Reading» und wie alle die Verfahren hiessen, die Oliwia Maria bei ihren Vernehmungen anwandte, wobei Valérie nicht mit allem einverstanden war. Vielleicht hatte sie hellseherische Fähigkeiten. Valérie war Realistin genug, um nicht auf so etwas hereinzufallen.
Die Wohnblöcke lagen zwischen der Grotzenmühlestrasse und dem Fluss Alp. Ein neues Quartier mit Spielplätzen und einem Nebengewässer, über das eine Brücke führte, die zwei asphaltierte Wege miteinander verband. Ein idyllischer Ort, an dem man zuletzt einen Mord vermutete. Doch Valérie wusste nur zu gut, dass eine friedliche Kulisse oft über Gräueltaten hinwegtäuschte. Die vergewaltigte Frau im gepflegten Einfamilienhaus, das missbrauchte Kind in der vermeintlich heilen Welt, der Alkoholiker, der seine Liebsten schlug. Es war oft nicht so, wie es von aussen schien.
Louis fuhr in die Tiefgarage, die mit Flatterbändern markiert war. Ein halbes Dutzend Streifenpolizisten hatte sich um den Tatort verteilt. Sie standen stramm da.
Die Szene wie in einem Film. Ein dunkelblauer Golf hinter einer Säule. Die Tür auf der Fahrerseite stand offen. Davor lag ein Mann in einer Blutlache. Über ihm kauerte Res Stieffel. Valérie wunderte sich über seine frühe Anwesenheit. Vom KTD war bislang niemand da. Auf dem Beifahrersitz lag eine Stofftasche, gefüllt mit leeren PET-Flaschen, auf dem Rücksitz befand sich eine Befestigungsvorrichtung für eine Babyschale.
«Hi.» Valérie trat neben den Gerichtsmediziner. «Mit dem Düsenjet eingetroffen?»
Stieffel sah auf. «Tja, den Schnellen gehört die Welt.»
Den ersten Blick auf das Opfer begleitete oft eine grosse Traurigkeit. Der Tod war für Valérie jedes Mal eine neue Erfahrung. Sie hielt inne, eine Minute lang, in der ihre Gedanken um den Menschen kreisten, der diese Welt auf so brutale Art hatte verlassen müssen. Diese Hilflosigkeit im Angesicht des Todes und später die Entschlossenheit, den Kampf für Gerechtigkeit aufzunehmen. Sie war es den Verstorbenen schuldig und ebenso deren Angehörigen. «Man sagte mir, er sei erschlagen worden.»
«Die ziemlich gleiche Stelle am Hinterkopf wie bei den andern zwei Opfern. Der Täter hat heftig zugeschlagen, was die Wunde und das Blut beweisen. Aber wie immer …»
«Die Autopsie wird es präzisieren», ergänzte Valérie. «War ein Amtsarzt da?»
«Ja, eure Kollegen von der Streife haben ihn aufgeboten. Er befindet sich in einem der Wagen, zusammen mit dem Zeugen. Dieser scheint mir ziemlich durch den Wind zu sein.»
«Keine Kunst, falls er den Mord gesehen hat. Steht die Identität fest?» Valérie wies auf den Toten.
Stieffel reichte ihr einen Ausweis in Kartenform. «Diesen habe ich im Handschuhfach gefunden.»
Valérie streifte sich Vinylhandschuhe über, griff nach der Karte und las. «Thomas Haltiner.» Dann bekamen sie eine Identität, und wieder packten Valérie das Entsetzen und blanke Wut. «Hast du ein Portemonnaie gefunden?»
«Liegt noch drin.»
«Okay, der KTD wird sich drum kümmern.» Der Zeuge hatte Priorität.
Stieffel warf einen verblüfften Blick an ihr vorbei.
«Das ist Frau Woźniak», stellte Valérie ihre Kollegin vor. «Sie wird uns in nächster Zeit unterstützen. Vor allem bei der Fallanalyse», setzte sie nach. «Oliwia Maria, das ist Dr. Stieffel, unser Gerichtsmediziner.»
«Oha, Konkurrenz.» Nur Stieffel vermochte, eine solche Bemerkung zum Besten zu geben. Es schien, als würde er Oliwia Maria mit den Augen ausziehen. «Ich bin Res.» Fehlte nicht viel, hätte er vor Glotzen gegeifert. Augenscheinlich spielte das Alter für ihn keine Rolle. Hauptsache, er konnte austeilen.
Oliwia Maria nickte, setzte ein maskenhaftes Lächeln auf. Offensichtlich war sie solche plumpen Anspielungen gewohnt. Sie siezte ihn weiterhin. «Von Ihnen bräuchte ich so schnell wie möglich die forensischen Daten, das Protokoll sowie die Fotos und Videos der Obduktion.» Sie kniff ihre Augen zusammen, überlegte. «Ich würde gern bei der Leichenschau zugegen sein. Dann können wir die Verletzungen gemeinsam ansehen und darüber diskutieren.» Sie gab sich nun ganz dem Studium des Tatorts hin. Sie machte Fotos mit ihrer mitgebrachten Digitalkamera und sprach ihre Beobachtungen auf ihr Smartphone.
Stieffel hatte die Sprache verloren, was Valérie schmunzelnd zur Kenntnis nahm.
«Ich lasse dich mal machen.» Valérie wandte sich an Oliwia Maria. «Du findest mich beim Zeugen.» Sie sah sich nach Louis um.
Er und Fabia sprachen mit einem der anwesenden Polizisten. «Darf ich mal kurz stören?» Sie übergab Louis den Führerausweis. «Find bitte heraus, wo er zu Hause ist. Ich möchte dabei sein, wenn wir die Nachricht seiner Frau überbringen. Und ja, im Handschuhfach liegt ein Portemonnaie.»
«Du glaubst, er war verheiratet?»
«Ich gehe davon aus. Auf dem Rücksitz seines Wagens befindet sich die Vorrichtung für einen Babysitz.»
Valérie entfernte sich, machte sich auf den Weg zum Auto des Amtsarztes. Es befand sich ein paar Meter neben dem Tatort, auf einem breiten Parkfeld. Sie klopfte an die Scheibe und wies sich aus.
Die Tür ging auf. Ein Mann mit Stirnglatze stieg aus. «Elmar Luginbühl. Ich bin der Arzt, den man gerufen hat.» Er reichte Valérie die Hand und wies mit dem Kopf ins Wageninnere. «Ich habe ihm eine Beruhigungspille verabreicht. Er hat sich etwas beruhigt. Trotzdem sollten Sie achtsam mit ihm umgehen.»
«Hat er sich über den Tathergang geäussert?»
«Er war klar genug, um die Polizei zu benachrichtigen.» Dr. Luginbühl zögerte. «Ich hoffe, Sie lassen mich fahren. Ich habe meine Praxis voller Patienten.»
«Selbstverständlich. Danke und halten Sie sich zu meiner Verfügung, sollte ich noch Fragen haben.» Valérie reichte ihm ihre Visitenkarte. Sie ging auf die Beifahrerseite, öffnete diese und sah sich einem eingeschüchtert wirkenden jungen Mann gegenüberstehen. Der Geruch nach Schweiss streifte ihre Nase. «Valérie Lehmann ist mein Name. Ich arbeite bei der Kriminalpolizei. Fühlen Sie sich in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?»
«Ja», kam es scheu zurück.
«Seien Sie so gut und steigen Sie aus. Dr. Luginbühl fährt gleich weg.» Sie musterte ihn. Er war keine zwanzig, sah etwas pummelig aus und hatte rote Pausbacken, die wie überreife Äpfel leuchteten. Die dickglasige Brille verriet seine Kurzsichtigkeit. «Wie heissen Sie?»
«Simon Siegenthaler.» Er stieg schwerfällig aus und verschränkte seine Arme. «Kann ich bald nach Hause?»
«Selbstverständlich.» Valérie nahm Notizblock und Stift zur Hand. «Also, Herr Siegenthaler, ich brauche Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum.»
Siegenthaler nannte sein Alter. Zweiundzwanzig. Valérie hatte ihn jünger geschätzt.
«Ich wohne hier in einem der Blöcke, zusammen mit meinen Eltern.»
«Sie haben die Tat beobachtet?»
«Ja, so ungefähr.»
«Schildern Sie bitte, was Sie genau gesehen haben.»
«Ich bin noch immer geschockt, wenn ich daran denke.» Seine Sprechpause dauerte unangenehm lange. Er wirkte verstört, wusste nicht, wohin mit seinen Händen. «Ich kam aus der Tür dort hinten, als ich jemanden beim Golf stehen sah.»
«Sie haben geradewegs auf den Golf geschaut?»
«Nein, auf den Maserati daneben. Der steht dort schon eine Weile. Dessen Besitzer habe ich noch nie gesehen. Ich dachte, dass ich ihn kennenlernen würde … Ich nahm wirklich an, er steht dort und will sich in sein Auto setzen. Ich hätte gern ein paar Worte mit ihm gewechselt. Ich mag schnelle Autos. Bis ich dann den Mönch sah.»
«Einen Mönch?» Valérie sah ungläubig auf. «Sind Sie sicher?»
«Ja, er schlug auf jemanden ein, der dann zu Boden ging.»
«Wie oft hat er auf ihn eingeschlagen?»
«Ich habe nicht gezählt, zweimal vielleicht. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich versteckte mich hinter der Säule neben dem Ausgang und hoffte, dass der Kerl mich nicht sieht.»
«Aber Sie können ihn beschreiben?»
«Gross war er, also ziemlich gross, breit, ein richtiger Kasten.» Um die Physiognomie zu veranschaulichen, holte er mit den Armen aus. «Er sah aus wie eine Figur aus dem Mittelalter, wenn Sie verstehen, was ich meine. Habe ich schon in Filmen gesehen … eine furchtbare Gestalt. ‹Der Name der Rose› sagt Ihnen sicher etwas …»
«Wie ein Pater aus dem Benediktinerkloster?»
«Nein, furchteinflössender, dunkler, unwirklicher.»
«Konnten Sie sein Gesicht erkennen?»
«Nicht genau. Er hatte eine Kapuze auf.»
«Vermochten Sie zu sehen, womit er zugeschlagen hat?»
«Nein, daran erinnere ich mich nicht. Ich fürchtete mich davor, dass er mich entdecken könnte. Aber er ging dann zu seinem Wagen zurück.»
«Er ist mit einem Auto hergefahren?»
«Ja, ein schwarzer SUV war es, ein Opel Mokka. Er zählt zu den Kleinwagen-SUV. Er war benzinbetrieben, was ich am Klang des Motors hörte. Leider konnte ich auf die Distanz die Nummer nicht erkennen.» Siegenthaler zeigte auf seine Brille. «Trotz starker Korrektur sehe ich manchmal schlecht, je nach Lichteinfall.»
«Als er weggefahren war, was war Ihr nächster Schritt?»
«Ich wartete, bis ich sicher war, dass der Mönch nicht mehr zurückkommt. Ich ging dann zu dem Golf. Da sah ich ihn in dieser Blutlache liegen.»
«Haben Sie sich vergewissert, ob er tot ist? Haben Sie ihn angefasst?»
«Nein, ich wählte die 117. Ich hatte, ehrlich gesagt, ein mulmiges Gefühl.»
Valérie zweifelte an Siegenthalers Aussage. Wenn er so neben den Schuhen stand, wie Dr. Luginbühl erwähnt hatte, hätte er seine Beobachtungen niemals so exakt wiedergeben können. «Ich würde gern Ihr Handy sehen.»
«Wie bitte?»
«Sie haben doch eines, oder?»
«Ich? Ja, aber ich habe es zu Hause liegen gelassen.»
«Aha. Und womit haben Sie die Polizei angerufen?»
Siegenthaler druckste herum.
Valérie streckte ihre Hand aus. «Geben Sie mir Ihr Handy.»
«Dazu brauchen Sie eine richterliche Bescheinigung», bluffte Siegenthaler.
«Wir können es kompliziert machen, dann dauert es länger, bis Sie zu Hause sind.» Valérie liess sich nicht einschüchtern.
Siegenthaler grapschte es aus seiner Hosentasche. «Hier. Ich weiss nicht, weshalb es so wichtig ist.»
«Das Passwort.»
«Das geht zu weit.»
Valérie sah ihn nur an.
Er nannte zögernd vier Zahlen.
Valérie tippte sie ein und ging auf «Anrufe». «Okay, um halb zwölf wählten Sie die Nummer 117.» Sie tippte die Foto-App an. «Und was ist das?»
«Das ist nichts.» Siegenthaler wurde zusehends nervöser.
Valérie wechselte zu WhatsApp. «Und dieses Video? Sie haben den Film an zig Freunde verschickt.»
«Die haben noch nie einen Toten live gesehen.»
«Das Handy ist beschlagnahmt.» Valérie liess den Satz nachwirken. «Kennen Sie den Toten?»
«Nicht mit Namen, aber ich habe ihn schon mit einem Kinderwagen spazieren sehen. Er grüsste immer freundlich. Wann kann ich mein Smartphone wiederhaben?»
«Nach der Überprüfung auf dem Sicherheitsstützpunkt in Biberbrugg. Wir werden Sie benachrichtigen, wann Sie es abholen können.»
Nachdem Valérie sich von Siegenthaler verabschiedet hatte, ging sie zurück zum Golf. In der Zwischenzeit war der Kriminaltechnische Dienst mit seiner Entourage eingetroffen. Valérie winkte Schuler zu. Über die Einfahrtsrampe fuhr der Leichentransporter. Beim Aufgang hatte sich eine Menschentraube gebildet. Valérie wartete noch immer auf Zanetti. Sie rief Louis zu sich, der sich mit seinem iPhone beschäftigte. Er kam auf sie zu.
«Gibt es Neuigkeiten?»
«Er wohnt gleich in der Nähe. In der Suchmaschine sind Moena und Thomas Haltiner eingetragen. Um zu ihrer Wohnung zu gelangen, müssen wir aussenrum.»
«Bon, allons-y.» Valérie zog Louis mit sich. «Ehrlich gesagt, verabscheue ich solche Gänge.»
«Du hättest es Fabia und mir überlassen können.»
«Ich weiss, ich bewundere Fabias Nerven, wenn es um so heikle Dinge geht. In den letzten Monaten hat sie zugelegt, was die psychologischen Aspekte betrifft. Vischer sagte mir, dass sie Fortschritte gemacht habe. Aber ich möchte mir selbst ein Bild von Frau Haltiner machen.»
Sie schritten über einen weitläufigen Spielplatz, der des diesigen Wetters wegen brach lag. Ein Kletterturm, daran ein nasses rotes Badetuch wie ein letztes Zeugnis des vergangenen Sommers. Eine Schaukel bewegte sich sanft im aufkommenden Wind. Sie erreichten das hinterste Haus der Überbauung. Valérie suchte die Sonnerien nach dem Namen ab. «Dritter Stock. Bist du bereit?»
Louis ging voraus. Über sechs Treppen erreichten sie ein Podest, von dem zwei Türen abgingen. Auf der einen Tür war ein Herz angebracht. Darauf die Namen Jan, Moena und Thomas, mit Klebeblümchen ausgeschmückt. Valérie musste leer schlucken. Gleich würde sie dieses Herz zerreissen. Sie drückte auf die Klingel. Diese hörte sich wie ein Schmerzensschrei an.
Die zierliche Frau unter der geöffneten Tür wirkte freundlich.
Valérie wies sich aus, stellte sich und Louis vor – Routine auf ihrem traurigen Gang. «Dürfen wir reinkommen?»
«Ja, bitte. Ist etwas passiert?» Nur widerwillig liess sie die Polizisten eintreten, strich sich nervös über das blaue Kleid, in dem sie zerbrechlich aussah. «Gehen Sie doch in die Küche. Mein Baby ist im Wohnzimmer eingeschlafen.»
Die Küche, ein heller, einladender Ort. Babyflaschen auf der Ablage, zwei Schnuller wie unbeabsichtigt hingeworfen, ein Lätzchen. Der Alltag mit einem Baby war hier spür- und sehbar.
Moena Haltiner setzte sich, schob eine Ladung gewaschener Strampler vom einen Tischende zum andern.
Valérie und Louis blieben stehen. Valérie reichte der Frau den Führerausweis. «Diese Karte haben wir im Wagen Ihres Mannes gefunden.»
«Ja? Thomas hat sie im Handschuhfach liegen. Ist etwas mit ihm?»
Valérie legte Moena Haltiner die Hand auf die Schulter. «Wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen.»
Noch bevor Valérie weiterreden konnte, erhob sich Moena Haltiner. Sie schritt zur Wohnzimmertür, drückte diese auf und sah hinein. «Jan schläft wie ein Engel. Er macht uns so viel Freude.»
Es war, als wollte sie die Anhörung der Nachricht hinauszögern. Sie kam zurück, setzte sich wieder, schob die Strampler wieder über den Tisch. Dabei lächelte sie in sich.
Valérie berührte erneut ihre Schulter. «Heute Mittag wurde Ihr Mann in der Tiefgarage tot aufgefunden.»
«Ha … Er wollte einkaufen gehen. Deshalb ist er noch nicht zurück.» Wieder stand sie auf. Diesmal ging sie zu den Kochplatten, setzte eine Pfanne auf, goss Wasser ein, stellte den Regler auf die oberste Stufe.
Moena Haltiner stand unter Schock, keine Frage. Valérie kannte die Mechanismen, wenn eine solche Nachricht über jemanden hereinbrach. Es gab die unterschiedlichsten Reaktionen. Die meisten flüchteten in die Arbeit, und war sie noch so belanglos. Moena nahm einen Löffel aus der Schublade und rührte damit heftig im heissen Wasser. Es schwappte über den Rand, traf Moena Haltiners Hand. Sie schrie auf vor Schmerz. Louis konnte sie im letzten Moment auffangen, sonst wäre sie zu Boden gestürzt. Er führte sie zum Stuhl.
Eine gefühlte Ewigkeit herrschte Ruhe in der Küche. Bloss die monotonen Geräusche von draussen waren durch die geschlossenen Fenster zu vernehmen. Das Leben vor dem Haus ging weiter, während es drinnen stillstand. Moena Haltiner starrte vor sich hin und verknotete die Beine des Stramplers ineinander. «Jan hat geschrien. Ich vermochte nicht, ihn zu beruhigen. Kurz bevor Sie läuteten, ist er vor Erschöpfung eingeschlafen.»
«Erzählen Sie uns etwas über Ihren Mann.» Valérie machte einen vagen Versuch. «Wie war er so?», schob sie nach.
Moena Haltiner sah endlich auf. Mit ihren grossen blauen Augen, deren Farbe an die Fjorde in Norwegen erinnerten. Doch die Tränen blieben aus. «Er ist ein wunderbarer Ehemann und fürsorglicher Vater. Nie hätte ich gedacht, dass er mit dieser Situation so klarkommt. Wir wollten mit dem ersten Kind noch warten. Aber die Natur geht oft andere Wege, als wir es wünschen.»
Valérie liess etwas Zeit verstreichen. «Dürfte mein Kollege mal einen Blick auf die Sachen Ihres Mannes werfen?»
«Er hat nichts zu verbergen», sagte Moena Haltiner beherrscht. «Schauen Sie sich ruhig um. Sein Büro liegt gleich neben dem Wohnzimmer. Dort steht auch Jans Bettchen. Aber meistens schläft er in der Wiege, und diese befindet sich in der Stube.»
Louis verschwand hinter der Tür. Valérie sah ihm noch nach, als sie ihn bereits aus den Augen verloren hatte. «Was machte Ihr Mann beruflich?»
«Er ist Koch im Alters- und Pflegeheim Langrüti. Vielleicht wird er bald eine Zusatzausbildung machen. Ich selbst möchte bei unserem Söhnchen bleiben, so lange es geht.» Moena Haltiners Blick verriet ihren Irrtum. «Ich meine … Er wollte sich weiterbilden. Daraus wird wohl nichts.» Sie begann, die Strampler auf dem Tisch auszustreichen und zusammenzufalten. Sie stapelte sie übereinander. Dann klopfte sie darauf. Immer und immer wieder.
Valérie hoffte, sie würde dem Druck standhalten, war jedoch darauf vorbereitet, die Ambulanz zu rufen, falls es nötig war. «Hat Ihr Mann je einmal Theologie studiert?»
«Wie kommen Sie darauf? Er ist Koch, kein Pfarrer … war Koch. Sein Vater hatte etwas anderes vor mit ihm. Thomas hätte einst dessen Praxis übernehmen sollen. Aber Thomas fühlte sich einfach nicht dazu berufen. Er ist ein Künstler. An den Wochenenden bekocht er mich immer, zaubert wunderbare Menüs auf den Teller. Daraus wird nun nichts …» Moena Haltiner fegte die Strampler vom Tisch. «Entschuldigen Sie, ich weiss nicht, was nun aus uns wird. Jan ist erst vier Monate alt. Er wird seinen Vater nie bewusst kennenlernen.»
Louis kam mit einem Laptop zurück. «Den würde ich gern mitnehmen.» Und an Valérie gewandt, flüsterte er: «Sonst gibt’s nichts.»
Valérie hob die Strampler auf, legte sie auf den Tisch. «Kann ich jemanden anrufen, der innert kurzer Zeit hier sein kann?»
«Meine Freundin. Sie wohnt zwei Häuser nebenan. Sie arbeitet in der Metzgerei Walhalla. Aber am Freitag hat sie immer frei. Ich kann … Ich kann aber ganz gut auf mich aufpassen.»
«Denken Sie an Ihren Sohn.» Valérie griff nach ihrem iPhone. «Wie ist die Nummer?»
Moena Haltiner teilte sie mit. «Kann ich Thomas sehen?»
«Er wurde in die Rechtsmedizin nach Zürich gebracht.»
«Aber ich muss ihn doch bestatten …»
***
«Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …» Armando sah im Gebet die einzige Möglichkeit, Kraft zu schöpfen. Die Zeit tröpfelte dahin wie das Wasser aus der Flasche, der er die letzte Flüssigkeit entnommen hatte. «Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.»
Wenn er zurückdachte, war es Gottes Wille gewesen. Armando hatte in seinem Sinn gehandelt. Er hatte handeln müssen.
Er hatte geschlafen, auf dieser unbequemen Pritsche mit der kratzenden Wolldecke. Mit Ausnahme der Funzel, die ein wenig Licht spendete, war es düster im Keller. Ob es Tag oder Nacht war, wusste er nicht. Die Uhr, die Armando ansonsten an seinem Handgelenk trug, war verschwunden. Der Fremde musste sie ihm abgenommen haben. Auch sein Smartphone war weg. Der Unselige machte es ihm nicht leicht. Er hatte ihm die letzte Verbindung nach draussen gestohlen. Den Draht zu Gott würde er nicht kappen können.
«Unser tägliches Brot gib uns heute.» Noch lag ein Rest vom Brot auf dem Boden. Er wollte haushälterisch damit umgehen, falls der Fremde nicht vorhatte, früh genug zurückzukehren. «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Armando hatte oft die Beichte abgenommen und die Absolution erteilt, damals, als er ein junger Priester gewesen war.
Hatten ihn die Geister der Vergangenheit eingeholt? Oder hatte er selbst sie geweckt?
«Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.»
Wie hatte er dagegen gekämpft, diesen Versuchungen im Alltag entgegenzutreten. Es war eine andere Zeit gewesen. Wurde er deswegen gefoltert?
Die Regale mit den Gläsern, den Kerzen und den Büchern. Armando sah hin. Er hatte alles schon einmal gesehen. Bruchstückhaft meldete sich die Erinnerung zurück. Was hatte dies alles zu bedeuten?
Armando hatte die dunkle Vergangenheit vergessen, sie mit Gottes Hilfe bewältigt. Plötzlich war sie so präsent wie lange nicht mehr. Als würde die Kraft des Heiligen Geistes ihm aus der Vergesslichkeit helfen, sah er auf einmal den Keller in einem anderen Licht.
Wie oft war er hinuntergestiegen, nach einem langen, quälenden Ritual. Hatte seine Hände in Unschuld gewaschen, mit dem gesegneten Wasser aus den Glasbehältern, die jetzt leer waren. Verstaubt und trüb. Spinnen hatten ihre Netze von einem Glas zum andern gewoben.
«Oh Herr, steh mir bei.» Armando versuchte zum wiederholten Mal, die Fussfesseln zu lockern. Seine Haut war aufgeschürft. Die wunden Stellen schmerzten.
Auf einmal stand er da wie eine Erscheinung. Armando hatte ihn nicht kommen hören. Das Licht hinter der Tür war weniger geworden. Vielleicht war es Nacht, die blaue Stunde kurz vor deren Einbruch. Oder am Morgen früh vor der Dämmerung.
«Sprich mit mir, mein Sohn.» Armandos Gebete hatten ihm Kraft verliehen. Sein Geist war wach und stark. Nur seine Körperenergien hatten nachgelassen. Ein stärkendes Essen und die Bewegung fehlten ihm, sein täglicher Spaziergang, der Austausch mit Menschen.
Gott allein genügte ihm nicht mehr. Und das machte ihm Angst.
«Deine Zeit wird kommen.»
Er hatte eine Stimme. Oh Gott, er vermochte zu sprechen. Das Ungeheuer unter der Tür wies menschliche Züge auf.
«Bitte, befreie mich von den Ketten. Ich werde nicht weglaufen. Ich bin ein alter Mann. Wo soll ich bloss hin? Mir schwinden die Kräfte. Willst du, dass ich sterbe?»
Der Fremde stellte gefüllte Wasserflaschen auf den Boden, legte einen Papiersack dazu. Armando sah ihm an, dass er zauderte.
«Ich sollte eine Dusche nehmen, die Kleider wechseln. Ich halte es so nicht aus. Ich sterbe im eigenen Schmutz. Willst du das?»
Stille. Bloss das leise Säuseln des Atems.
«Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr?» Armando versuchte, die Präsenz des Fremden hinauszuzögern. Reden half. Reden half immer. «Was bedrückt dich, mein Sohn? Du darfst mir alles erzählen. Ich kann schweigen.»
Der Stoff rauschte, als er sich zum Gehen umwandte. Er verschwand durch die Tür, das Licht ging aus. Nur der schwache Schein der Glühbirne blieb. Und ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach etwas Vertrautem. Armando sank in die Knie.
***
Louis hatte sich nicht, wie vereinbart, gemeldet. Ob er sauer war? Oder hatte er herausgefunden, dass sie sich in seinen PC eingeloggt hatte? Carla tigerte vom Wohnzimmer zur Küche und wieder zurück. Den Käsekuchen aus dem Supermarkt hatte sie nicht angerührt, dagegen bereits drei Gläser Pinot Grigio getrunken. Sie hätte die Welt umarmen können. Ihr Bericht war heute in der Zeitung erschienen, nachdem sie Forster doch noch hatte überzeugen können. Der erste Teil ihrer Serie über Kirchen. Drei Spalten, in denen sie die Leser neugierig auf mehr machte. Sie prangerte darin die fehlenden Neuerungen der christlichen Religionen, insbesondere des Katholizismus, an und im Gegenzug die Entweihung der Gotteshäuser, die zweckentfremdet für alle möglichen Unterhaltungen Verwendung fanden. Dass Forster ihr grünes Licht dafür gegeben hatte, war dem Bericht über junge Witwen geschuldet, dem Carla mit unterschwelligem Grollen Platz eingeräumt hatte. Forster hatte ihr für den Rest des Tages freigegeben.
Auf ihre Anrufe reagierte Louis nicht. Dabei hätte sie ihm die positive Nachricht gern mitgeteilt. Falls er einen Blick in die Zeitung geworfen hatte, was er üblicherweise tat, hatte er ihre halbe Seite sicher bemerkt.
Okay, vielleicht war er deswegen nicht gut auf sie zu sprechen und meldete sich nicht. Die Geschichte ging weiter. Einmal pro Woche durfte Carla ihre Meinung kundtun, über den Verlust des Glaubens, das Ignorieren der Kirchen, wenn sie parallel dazu Forsters Wunschthema umsetzte. Carla fühlte jenen Stolz in sich, der sie masslos werden liess. Sie schenkte sich ein weiteres Glas Weisswein ein und setzte sich damit ans Fenster. Endlich konnte sie beweisen, was in ihr steckte, und akribische Recherchen anstellen. Über Themen, die sie forderten, bei denen ihre Intelligenz gefragt war. Sie wollte es auch ihrem Kollegen zeigen, der über die Morde schreiben durfte.
Schwyz döste unter ihr im diesigen Licht. Der Regen der letzten Tage hatte endlich nachgelassen. Nebel kroch den Boden entlang, liess alles düster wirken.
Der Mann von nebenan führte seinen Kurzhaardackel aus. Und Rob, der Spanner vis-à-vis, stand vor seinem Teleskop und glaubte, sie sähe ihn nicht. Aber Carla hatte ein Auge dafür, zumal sie selbst liebend gern in fremde Schlafzimmer guckte. Nur reichte ihr Fernglas nirgends hin. Sie schlug ihre Agenda auf. Als fortschrittlich denkende Zeitgenossin verfügte sie dennoch über ein solides Notizbuch. Altbewährt und verlässlich. Sie hatte sich neulich ein paar Adressen von Psychiatern im Kanton Schwyz herausgesucht und war auf eine Koryphäe gestossen. Sie hatte ihn nur kurz gesprochen, weil er einen Patienten hatte. Er hatte sie gebeten, sich heute bei ihm zu melden, und ihr sogar seine direkte Nummer mitgeteilt.
Carla wählte seine Handynummer. Auf seine Combox war sie nicht vorbereitet. Sie stotterte ihren Namen. Wie peinlich. Er würde aus der Art, wie sie sprach, sicher ihren Gemütszustand analysieren können. Nicht mit mir! Carla telefonierte in die Praxis.
«Praxis, Dr. Heiniger, was kann ich für Sie tun?»
Gleiche Ansage wie letztes Mal.
«Mein Name ist Carla Benizio. Ich würde gern Dr. Heiniger sprechen.»
«Geht’s um einen Termin?»
«Um etwas Privates.» Falsche Information. Carla wäre am liebsten im Boden versunken.
«Tut mir leid», kam es aus dem Smartphone. «Rufen Sie nach Feierabend an.»
«Ich habe versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Er meldet sich aber nicht.»
«Er wird seine Gründe haben.»
«Hören Sie, es ist wichtig. Ich bin Journalistin, und er hat mir ein Interview versprochen.»
«Ich werde es ihm ausrichten. Wie ist Ihr Name?»
Carla drückte sie genervt weg. Keine gute Idee, in ihrem beschwipsten Zustand zu reden. Sie würde sich gedulden müssen. Der Nachbar auf der Strasse nahm die Hundekacke auf. Carla verliess ihren Platz. Sie ging in die Küche, setzte sich an ihren Laptop. Dieser Heiniger war nicht der einzige Psychiater. Obwohl Carla entsprechende Namen und Adressen in ihrer Agenda notiert hatte, öffnete sie das Internet, bewegte den Cursor und gab unter Google «Psychiater Kanton Schwyz» ein. Gleich dreissig Namen sprangen ihr entgegen. Sie scrollte von Anfang bis zum Schluss durch. Da, dieser Name gefiel ihr. Klang irgendwie nach Schokolade. Und er bot Psychiatrie und Psychotherapie an. Carla überlegte. Sollte sie doch besser einen Psychologen anstupsen? Oder vielleicht eine Frau?
Dr. Marijo Frigo. Vielleicht war es eine Frau. Marijo. Carla liess den Vornamen auf der Zunge zergehen. Sie zögerte nicht und wählte die Nummer der Praxis.
Auch Dr. Frigo hatte eine Sekretärin. Diese meldete sich, tönte weniger automatisiert wie die vorhergehende Lady.
«Hicks.» Carla räusperte sich. Reiss dich zusammen, schalt sie sich. Das hier ist eine ernste Angelegenheit. «Carla Benizio. Kann ich mit Mar… Dr. Frigo sprechen?»
«Worum geht’s?»
Jetzt bloss keine depperte Antwort. «Ich bin Journalistin und möchte sie gern für ein Interview anfragen.»
«Ein Interview. Warten Sie, ich will sehen, ob er Zeit hat.»
«Er?»
«Ach, Sie meinen wegen des Vornamens.» Die Sekretärin lachte auf. «Hat nichts mit Unterwäsche zu tun.»
«Oh. Ja, klar. Also nicht.» Carla verhaspelte sich. Auf diesen Scherz war sie nicht gefasst.
«Sie würden ihn gern sprechen?»
«Ich möchte ihn nicht gleich interviewen, bloss einen Termin mit ihm vereinbaren.»
«Wenn das so ist, kann ich Ihnen einen Termin geben.»
«So schnell? Ehm … Ich meine, sind Sie denn befugt?» Sind Sie denn befugt? Was für eine blöde Bemerkung. Natürlich war sie befugt. Sie war seine Sekretärin und koordinierte die Termine. Wie bescheuert musste das denn tönen?
«Würde Ihnen morgen vor dem Mittag passen?»
«Morgen ist Samstag.»
«Er hat dann nur einen Patienten.»
«Ja, gern. Auf jeden Fall. Wann soll ich wo sein?»
«Elf Uhr.» Sie teilte ihr die Adresse mit.
***
Valérie und Oliwia Maria erreichten den Stützpunkt in Biberbrugg gegen halb vier. Sie hatten sich den Wagen eines Kollegen geliehen und waren zu zweit hierhergefahren. Beim Eingang wartete bereits Zanetti.
«Ist Caminada nicht da?» Valérie berührte flüchtig Zanettis Gesicht. Als sie sich nach Oliwia Maria umwandte, fing sie ein herzliches Lächeln ein. Vielleicht würde daraus einmal eine Freundschaft werden, ging ihr durch den Kopf. Die knallharte Analytikerin hatte bestimmt einen weichen Kern.
«Ich habe mit ihm gesprochen.» Zanetti hielt die Tür auf. «Seine Frau Menga hatte einen Unfall.»
Valérie blieb stehen. «Schlimm?»
«Jemand ist in sie reingefahren, als sie beim Einparken war. Sie wurde mit Verdacht auf ein Schleudertrauma ins Spital eingewiesen.»
«Das hätte Gian Luca mir auch mitteilen können.»
«Du weisst, dass er es nicht einfach hat mit seiner Frau.»
«Also hast du dich mit ihm darüber unterhalten?»
«Von Mann zu Mann.»
Oliwia Maria warf Valérie einen zerknirschten Blick zu. Eventuell dachte sie dasselbe wie sie. Es gab Dinge, die verstand man nur unter seinesgleichen. Valérie wollte es dabei bewenden lassen. Sie passierte den Eingang, ging zum Lift.
«Es gibt einen dritten Toten?» Zanetti kam ihr nach.
«Ja.»
«Sorry, dass ich nicht dort war. Ich hatte ein Gespräch mit Auf der Maur.»
«Dann können wir uns auf einen zusätzlichen Druck von oben gefasst machen.»
«Er begrüsst unseren Entscheid, Oliwia Maria ins Boot geholt zu haben.»
«Ach, wie grosszügig.» Valérie drückte den Liftknopf nach oben. Sie mochte den Regierungsrat nicht. Er war ein selbstgefälliger alter Mann, der sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen, und der sich andauernd wichtigmachte. Jedermann hoffte, man würde ihn bei den nächsten Wahlen endlich vom Sockel stossen.
Im Sitzungszimmer roch es nach abgestandener Luft. Valérie riss die Fenster auf. Am Mittag hatten alle nach der Einsatzbesprechung den Raum fluchtartig verlassen.
Oliwia Maria schwang sich auf den Stuhl in der Nähe der Pinnwand.
Valérie setzte sich ihr gegenüber. Sie fühlte sich erschöpft. Die zweite junge Witwe innerhalb weniger Tage über den Tod deren Mannes zu informieren setzte ihr sehr zu. Im Hals sass ein verdächtiger Klumpen fest. «Unsere Vermutung, es könnte sich bei den Toten ausschliesslich um ehemalige Theologiestudenten handeln, hat heute einen Riss bekommen. Plötzlich sind die Verbindungen weg, und wir stehen wieder am Anfang.»
«Du denkst aber nicht daran, die Suche nach den heutigen Aufenthaltsorten der damaligen Studenten aufzuheben?» Oliwia Maria sah sie kritisch an. «Es gibt noch immer Verbindungen zwischen allen drei Opfern. Und diese möchte ich belegt haben. Auch wenn der dritte Tote aus dem Rahmen zu fallen scheint, wurde Haltiner mit der gleichen Brutalität getötet wie die beiden andern.»
«Was schliesst du daraus?» Zanetti war stehen geblieben.
Valérie ahnte, wie nervös er war. Tag sechs, und sie hatten nichts. Kein Gesicht hinter dem Täter, ausser einem Phantombild, das wenig bis nichts hergab, keinen Anhaltspunkt und das Schlimmste: Es zeichnete sich kein Motiv ab. Oder es war einfach nicht ersichtlich. Und der Täter konnte jederzeit wieder zuschlagen.
«Wenigstens haben wir ein paar Informationen über die Opfer.» Oliwia Maria breitete die neusten Rapporte aus. «Thomas Haltiner war Koch in einem Alters- und Pflegeheim, verheiratet, Vater eines vier Monate alten Sohnes. Auch der erste Tote war verheiratet und Vater zweier Söhne. Dagegen war der zweite Tote homosexuell. Zahir Kälin war adoptiert. Die Eltern hatten sich von Benjamin Wyss abgewandt, und Thomas Haltiner war der Sohn eines bekannten Arztes aus Einsiedeln, der vor vier Jahren verstorben war. Betrachte ich diese Konstellation, könnte ich davon ausgehen, der Täter habe willkürlich gemordet. Ich will aber nicht daran glauben. Parallel zu den Morden wurden verschiedene Heiligenrequisiten von einem zum andern Platz verschoben.» Oliwia Maria legte ihre Stirn in Falten. «Gibt es zur aktuellen Tat eine neue Umsiedelung?»
«Wir haben keine Kenntnis davon.» Valérie brummte der Schädel. «Was immer der Täter im Schild führt, es muss etwas mit Religion zu tun haben, mit Heiligen im katholischen Glauben, vielleicht sogar mit dem Jakobsweg, wenn wir den Verlauf der Morde respektive der verschobenen Requisiten und Figuren miteinbeziehen. Im weitesten Sinn mit der katholischen Kirche.»
«Das führt uns zum heiklen Thema der Kindsmisshandlung.» Zanetti setzte sich an die Schmalseite des Tisches.
«Wir können es nicht ausschliessen.» Valérie wollte diesen Verdacht nicht auf Eis legen, ihm aber auch keine unnötige Dynamik geben. «Wir werden selbstverständlich auch in diese Richtung ermitteln müssen.»
«Und der Pfarrer?», fragte Zanetti.
«Bislang haben wir ihn weder lebend noch tot gefunden.» Valérie streckte sich. «Der Pfarrer … Wir sahen in ihm immer nur ein weiteres Opfer. Wir sollten unser Augenmerk auf ihn richten. Er ist verschwunden, ja, aber das heisst längst nicht, dass er gekidnappt wurde. Möglicherweise hatte er einen Grund, sich zu verstecken. Weil er aus dem Versteck agiert.» Valérie stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Gesicht in die Hände.
«Pfarrer Negroni ist über achtzig», sagte Oliwia Maria. «Gemäss Protokoll hat er Probleme mit den Beinen. Wie wollte er das Kreuz aus der Hurden-Kapelle demontieren und zum Etzel fahren? Weiter brauche ich wohl nicht zu argumentieren. Das ist schlicht nicht möglich. Aber», sie machte eine nachhaltige Pause, «wir sollten nach Verbindungen zwischen ihm und den anderen Opfern suchen.»
«Louis und Fabia kümmern sich bereits darum.» Valérie spürte diese bodenlose Ohnmacht. Ihr Kopf schien zu platzen. Sie suchte den Blickkontakt mit Zanetti. Doch dieser war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
«Warten wir die neusten Resultate vom KTD ab.» Oliwia Maria schaffte es, wenigstens etwas Ruhe in die hektische Atmosphäre zu bringen.