SIEBEN

«Sie sind hinter mir her.» Elisha streckte seine Beine von sich. Es hatte viel Überwindung gekostet, sich auf die Liege zu legen. Dr. Frigo hatte ihn fast dazu zwingen müssen. «Ich bin froh, konnte ich im letzten Moment in Ihr Therapiezimmer flüchten.» Sein Atem ging unregelmässig, und sein Herz schlug bis zum Hals.

«Wollen wir dort weiterfahren, wo wir letzthin aufgehört haben?»

«Ich erinnere mich nicht mehr.» Noch steckte ihm sein schreckliches Erlebnis in den Knochen. Jemand hatte ihn verfolgt. Er war sich sicher, ein Abtrünniger der finsteren Heerscharen war es gewesen.

«Sie erzählten von Rom, vom Vatikan und von dem Helikopterrundflug. Was haben Sie dort gesehen, das Sie aus dem Gleichgewicht gebracht hat?»

Die Erinnerung kam schleichend. «Waren Sie schon einmal in Rom?»

«Das ist lange her. Ich habe die Stadt auf Augenhöhe gesehen. Der Blick vom Himmel war mir verwehrt.» Dr. Frigo sprach leise.

«Vielleicht hätten Sie es auch gesehen, wenn Sie darübergeflogen wären.» Elisha zögerte. Er hatte diese unglaubliche Geschichte niemandem zuvor erzählt. «Ich sah ihn.» Er musste schlucken. Es durfte nicht sein, dass er dessen Namen aussprach.

«Wen haben Sie gesehen?»

«Den … den …» Wieder schwindelte ihm, und vor seinen Augen verschwamm alles.

«Es kann nichts passieren.» Dr. Frigos sanfte Stimme. «Ich bin bei Ihnen.»

«Den … den Schlangenkopf.»

«Sie haben einen Schlangenkopf aus dem Helikopter gesehen.» Es klang wie eine Feststellung.

«Sie glauben mir nicht?» Sein Herz schlug wieder schneller.

«Kann es sein, dass Sie sich von einem Trugbild haben narren lassen?»

«Nein, ich sehe ihn vor mir, als wär’s gestern gewesen. Die längliche, flache Form und die Augen auf den Seiten. Ich schwöre, es war ein Schlangenkopf. Ich habe ihn auch von innen gesehen.»

«Erzählen Sie.»

«Wir sind zurückgekehrt. Benjamin wollte unbedingt, dass wir uns den Audienzsaal des Papstes ansehen. Waren Sie dort schon mal drin?»

«Er wird nicht für jedermann zugänglich sein.»

«Benjamin und ich hatten Zutritt.» Wie sechstausendfünfhundert andere Personen auch, dachte er und konnte Dr. Frigos Bemerkung nicht nachvollziehen. Elisha schloss die Augen. Er musste sich entspannen. Ruhig werden, bevor er seinem Mentor von diesem Ungeheuerlichen erzählte. Er spürte, wie er zitterte. An den Füssen begann es, breitete sich über seinen Körper aus. Er vermochte es kaum mehr zu kontrollieren. «Wir standen hinten beim Eingang. Dieser Teil liegt ausserhalb des vatikanischen Territoriums. Man nennt es den exterritorialen Besitz des Heiligen Stuhls. Es war mein grosses Glück, dass ich das, was vor mir geschah, von dieser Perspektive aus betrachten konnte. Ich liess mir einen Fluchtweg offen … Glauben Sie mir, ich sah direkt auf den Schlangenkopf. Benjamin sagte, es seien strukturelle Rippen mit einer parabolisch gewölbten Decke. Ich sah jedoch das andere, die gerippte Haut, die Augen mit den schmalen Pupillen. Die Schlange hatte ihr Maul geöffnet, und ich konnte die giftigen Zähne erkennen, dort, wo man uns glauben lässt, es wären Säulen. Aber das Schlimmste an allem …» Elisha holte tief Luft. «Das Schlimmste war das, was sich im Schlund offenbarte.»

«Im Maul der Schlange?» Dr. Frigo legte ihm die Hand auf. «Beruhigen Sie sich.» Seine Hand fühlte sich kühl an, die Berührung tat ihm gut, liess sein Zittern schwächer werden.

«Zwischen den Zähnen. Benjamin sagte, es sei die Auferstehung Christi, ‹La Resurrezione›, eine Skulptur des Bildhauers …» Er überlegte. «Ach, ja … Pericle Fazzini. Es stellte Christus in einem grossen Olivenhain dar, dem Ort des Friedens, wo er seine letzten Gebete gesprochen hatte. Ich aber sah die Wahrheit. Jesus stieg aus einem Krater auf, mit fürchterlichen Dingen rundherum. Es fühlte sich wie eine Explosion an, ein Strudel aus Gewalt und böser Energie. Und als ich auf den vermeintlichen Kopf des Herrn Jesus sah, erkannte ich den Kopf eines Reptils. Ich konnte es nicht von der Hand weisen, auch wenn Benjamin es anders interpretierte. Er sah nur Haare, ich dagegen einen Schlangenkopf. Das Böse ist seither hinter mir her. Ich trug es im Gepäck mit, als ich in die Schweiz zurückfuhr. Es breitet sich hier aus. Schauen Sie den Menschen in die Augen. Dann werden Sie sie erkennen. Sie sind mitten unter uns.»

***

Was für ein historischer Protzkasten, dachte Carla, als sie das schmiedeeiserne Tor an der Strasse öffnete. Psychiater sollte man sein. Sie schritt über einen mit Kiesel belegten Weg inmitten einer Pappelallee. Die Bäume standen wie schlanke, stolze Frauen Spalier. Carla blieb vor dem Treppenaufgang stehen, nicht sicher, ob sie links- oder rechtsseitig auf den Stufen hochgehen sollte. Falls Dr. Frigo sie von einem der Fenster aus beobachtete, würde er sie bestimmt schubladisieren, ihr womöglich eine politische Richtung attestieren. Blödsinn! Der Typ war auch nur ein Mensch. Sie entdeckte eine Tür direkt vor ihr, was ihr die Entscheidung abnahm. Eine Kellertür vielleicht? Auf der Seite gab es eine Klingel.

Carla wartete. Louis war spät am Abend zurückgekehrt, schlecht gelaunt und wortkarg. Sie kannte ihn nicht von dieser Seite. Er hatte ihr leidgetan. Sie hatte auf die Schnelle gekocht, und sie waren später bis Mitternacht am Küchentisch sitzen geblieben. Es war ein Schock gewesen, als Louis sie vor das Ultimatum stellte: Entweder würde sie die nötige Transparenz schaffen, oder sie müsste ausziehen. Er halte ihre Geheimniskrämerei und vor allem ihre Wankelmütigkeit nicht mehr aus. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Beziehung hatte sie geweint und ihm eine Szene gemacht. Sie hatte gespürt, was Louis ihr bedeutete. Ihn im jetzigen Zeitpunkt zu verlieren wäre einem Weltuntergang gleichgekommen. Sie hatten geredet, was längst überfällig war. Ob es eine Besserung in ihrer Beziehung geben würde, stand in den Sternen. Es gab auch von Carlas Seite Dinge, die sie für sich behalten musste.

Sie sah zurück auf die Allee, auf das Tor am Ende der Zufahrt, und es dünkte sie, als wäre sie gefangen in einem verwunschenen Garten, der sich über eine grosse Fläche ausdehnte. Mit einem uralten Baumbestand. Dann schweifte Carlas Blick ab zur Fassade, die aus der Nähe einige Makel erkennen liess. Es musste ein älteres Gebäude sein, seit Ewigkeiten nicht mehr renoviert. Ein seltsames Gefühl erfasste sie, als sie die Klingel drückte. Sie war nervös, und das Gespräch mit Louis beschäftigte sie.

Man öffnete ihr. Eine Frau stand unter der Tür. Ihr weisser Anzug vermochte nicht, die dünne Gestalt zu kaschieren. «Sie sind sicher Frau Benizio.» Ihre freundliche Begrüssung erstickte jedwede dunkle Vorahnung in ihrem Keim. «Wir haben miteinander telefoniert. Bitte, treten Sie ein.»

Auch im Hausinnern hatte man nichts für eine Renovation investiert. Das Odeur einer längst vergessenen Zeit kroch aus allen Ecken und Spalten. Die antiken Möbel wirkten erdrückend, die Teppiche wiesen Spuren von Abnutzungen auf, und der Kronleuchter an der Decke entstammte nach Carlas Ermessen einem Gruselkabinett. Eine Standuhr war stehen geblieben und zierte den Durchgang vom düsteren Entrée in einen Wohnbereich, der als Wartesaal diente. Dort befand sich auch ein Pult mit Computer und an der hinteren Wand ein bis zur Decke reichendes Regal mit der Enzyklopädie geisteswissenschaftlicher Bücher sowie Werken über Psychologie. Die systemische Anordnung liess die Vermutung zu, dass man damit arbeitete. Die Sammlung war beeindruckend.

Die alte Villa am Rand von Einsiedeln liess in Carla ein mulmiges Gefühl aufkommen. Sie war sich anderes gewohnt. Einzig die Freundlichkeit der Frau, die sich als Praxisassistentin vorgestellt hatte, vermochte sie aufzuheitern. Vielleicht war der Besitzer dieser Villa ein Liebhaber von Antiquitäten, und wer darin arbeitete oder sogar lebte, genoss ein besonderes Privileg.

Dr. Frigo holte sie persönlich ab. Er führte sie eine Etage höher, über eine Treppe, die sich auf halbem Weg teilte. Auf dem Zwischenstock schmückte eine Gipsfigur die Wand. Carla vermochte nicht, uninteressiert an ihr vorbeizugehen.

«Das ist Carl Gustav Jung», sagte Dr. Frigo, nicht ohne Stolz in seiner Stimme. «C. G. Jung ist Ihnen sicher ein Begriff. Er war ein Schweizer Psychiater und der Begründer der analytischen Psychologie. Er ist mein grosses Vorbild.»

«Aber Jung wurde nicht als Psychoanalytiker betrachtet», insistierte Carla.

«Oh, auf den Mund gefallen sind Sie nicht, junge Dame. Kommen Sie.» Er ging voraus, und sie erreichten einen Korridor, an dessen Ende ein grosses, bis zum Boden reichendes Fenster lag. Der Blick nach draussen blieb im verfärbten Laub hängen. Daneben ging eine Tür weg. «Treten Sie ein.» Dr. Frigo liess Carla passieren.

«Ihr Therapiezimmer?» Carla blieben bei dessen Anblick Mund und Augen offen. «Fällt ganz schön aus dem Rahmen.»

Der helle Raum wirkte beruhigend. Eine Sitzlandschaft lud zum Verweilen ein. In der Nähe zweier Fenster standen ein Pult und ein Drehsessel, davor zwei Besucherstühle, nicht minder modern. Und im Zentrum befand sich eine Liege mit orangen Kissen. Zwei mannshohe Palmen in Messingtöpfen und passende Designerleuchten rundeten alles zu einem harmonischen Ganzen ab.

«Ich habe auf diesem Stockwerk mit der Renovation begonnen.» Dr. Frigo setzte sich auf seinen Sessel. «Die Villa steht unter Denkmalschutz. Für jede Veränderung muss ich eine Bewilligung beim Kanton einholen. Ich nehme es gemächlich. Aber es lohnt sich.»

«Dann sind Sie der Besitzer?» Carla kam nicht aus dem Staunen heraus. Sie setzte sich auf einen der Besucherstühle und hatte Zeit, ihr Gegenüber zu betrachten.

«Ja, stolzer Besitzer einer Villa aus dem siebzehnten Jahrhundert.»

Dr. Frigo war ein stattlicher Mann um die fünfundvierzig mit angegrauten Schläfen, was ihn auf eine seltsame Weise attraktiv machte. Dunkle, tiefgründige Augen verschwanden hinter einer fein geränderten Brille und verdeckten halbwegs wild wuchernde Brauen.

«Das Haus gehört mir seit rund zwei Jahren. Als ich mich selbstständig machte, konnte ich es zu einem erschwinglichen Preis kaufen, mit der Auflage, dass ich nichts an seinem Äussern ändere. Mein Ziel ist es, in den nächsten Jahren das Interieur sanft zu renovieren und dann nach und nach Patienten aufzunehmen.»

«Sie beabsichtigen, eine Klinik zu eröffnen?» Carla nahm ihren Notizblock aus der Tasche. «Sie erlauben, dass ich das aufschreibe?»

«Selbstverständlich.» Dr. Frigo schenkte ihr ein Lächeln. «Meine Praxisassistentin hat mir mitgeteilt, dass Sie mich interviewen möchten. Über die Details konnte sie mir nichts sagen.»

«Danke für Ihre Zusage. Ich schreibe für das Boulevardblatt. Und bevor Sie mich verurteilen, ich arbeite an einer Serie.» Carla hatte Forsters Forderung nicht vergessen. Er hatte ihren halbseitigen Bericht über die Kirchen gebracht, aber darauf beharrt, die Geschichte der Hinterbliebenen zu forcieren. Wenn schon eine Serie, dann auch diese.

«Wie aufregend.»

Carla hielt inne. War es möglich, dass Dr. Frigo nicht wusste, worum es ging? Carla versuchte, seine Reaktion abzuschätzen. «Sie haben bestimmt von den drei Morden gelesen, die sich in den letzten Tagen in Hurden und Einsiedeln zugetragen haben.»

«Wer hat nicht davon gehört?»

«Es geht mir nicht um die Morde, denn vielmehr um die Hinterbliebenen. Was eine solche Tat aus ihnen macht. Ich werde mich mit der Witwe des ersten Opfers unterhalten. Nun wäre es schön, könnten Sie mir aus der Sicht des Experten mehr darüber erzählen. Was geht in einem Menschen vor, der soeben einen geliebten Partner durch ein Gewaltverbrechen verloren hat?»

Dr. Frigo schien perplex. Carla war sich bewusst, dass sie ihn damit überrumpelt hatte. Anders wäre sie nicht ans Ziel gekommen. Hartnäckigkeit zeichnete sie schliesslich aus.

«Ihre Angelegenheit überrascht mich. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich war der Meinung, es ginge allgemein um den Beruf des Psychiaters und Psychoanalytikers, um meine Passion als Hausherr und meine zukünftige Privatklinik.»

Carla erkannte nicht, was sich hinter seinem Lächeln versteckte.

«Hätte ich es früher gewusst, so hätte ich mich darauf vorbereiten können. Über Patienten kann ich nicht sprechen. Aber darauf zielt es letztlich ab.»

Carla ging nicht auf seinen Einwand ein. Schlimmstenfalls würde sie auf Dr. Heiniger ausweichen können, der sie heute Morgen vor Verlassen der Wohnung auf ihr Handy angerufen hatte. «Was gedenken Sie denn, mir über Ihre Arbeit zu verraten?»

Dr. Frigo erhob sich wider Erwarten. «Ich bedaure, aber über meine Tätigkeit gibt es nichts zu berichten, vor allem nicht bei einer Zeitung wie der Ihrigen.» Er kam um das Pult herum. «Sollten Sie sich überlegen, über die Villa und meine Zukunftspläne zu schreiben, werde ich Ihnen im Rahmen meiner Möglichkeiten helfen. Meine Tätigkeit als Psychiater ist unter diesen Voraussetzungen tabu.»

«Weil ich bei der falschen Zeitung bin?» Carla konnte seine Hundertachtzig-Grad-Kehrtwendung nicht nachvollziehen.

«Weil Sie bei der falschen Zeitung sind.»

«Hat es einen Grund?» Carla erhob sich ebenfalls.

Dr. Frigo wies sie zur Tür. «Meine Familie, liebe Frau Benizio, war vor Jahren Opfer einer grossen Hetzkampagne.»

***

«Valérie, hier sind zwei junge Männer, die eine Aussage zum Hurden-Kreuz machen möchten.»

Sie hatte gerade den Sitzungsraum verlassen und war auf Louis gestossen. Vor wenigen Minuten hatte sie sich erneut mit Oliwia Maria beraten. Langsam zeichnete sich ein Täterprofil ab, das für ihre Begriffe jedoch zu wenig aussagekräftig war. «Wo hast du sie hingebracht?»

«Sie warten im Vernehmungszimmer vier.»

«Hast du sie nicht befragt?»

«Wir haben die Adresse eines Theologiestudenten aus dem Jahr 1996 bekommen, und Fabia hat ein Treffen mit ihm organisiert. Ich begleite sie.»

Valérie fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss und checkte auf dem Weg nach unten ihre Maileingänge auf dem iPhone. Dabei bemerkte sie, dass Colin sie mehrmals gesucht hatte. Ausgerechnet während ihrer hektischen Arbeitszeit. Sie verschob den Rückruf auf später. Mensch, er war volljährig. Im Zwiespalt ihrer Gefühle stiess sie die Tür zum Raum vier auf. Die beiden Männer, von denen Louis gesprochen hatte, sassen am Tisch, stumm wie zwei Fische, beide mit dem ersten Flaum eines Bartwuchses und rot glänzenden Pusteln auf der Stirn. Teenager, ging Valérie durch den Kopf. Sie stellte sich vor und setzte sich den Jungs gegenüber. Sie verlangte Namen, Adresse und Geburtsdatum.

«Sie sind über einen Zeugenaufruf hierhergekommen. Ist das richtig?»

«Ja», sagte der, welcher links sass. In der Folge führte er das Wort.

Valérie stellte den Aufnahmemodus an ihrem iPhone ein und legte dieses auf den Tisch. «Erzählen Sie.»

«Es geht um das Kreuz aus der Hurden-Kapelle, welches im Zusammenhang mit dem Brand steht. In der Zeitung stand, dass es während oder kurz vor dem Brand demontiert worden sei und man es wieder in der Meinrad-Kapelle gefunden habe.»

«Das stand so in der Zeitung.» Valérie kannte die Abweichungen von den Statements der Polizei und dem, was die Presse an die Öffentlichkeit brachte. An betreffendem Bericht hatte sie ausnahmsweise nichts zu bemängeln.

«Am Freitagabend, also am siebzehnten September, fuhren mein Kollege und ich mit dem Velo durch Hurden und machten halt auf dem Parkplatz neben der Kapelle. Wir wunderten uns, dass um die Zeit, es war etwa neun Uhr am Abend, jemand mit einer Leiter aus der Kapelle kam.»

«Mit einer Leiter?»

«Ja, mit einer Leiter, die man verlängern kann. Er verstaute sie in seinem Wagen, konnte aber wegen der Länge den Kofferraumdeckel nicht schliessen. Er fluchte, und wir fragten ihn, ob wir helfen können. Aber er palaverte etwas vor sich hin und fuhr dann weg, mit offenem Deckel.»

«Und das Kreuz?» Valérie zweifelte an der Aussage. Es passierte ihr nicht zum ersten Mal, dass man sie veräppelte.

«Wir glauben, dass das Kreuz bereits im Auto war. Denn wir wollten sehen, was er in der Kapelle gemacht hatte. Dort fiel uns auf, dass das Kreuz fehlte.»

«Aber ihr habt es nicht mit eigenen Augen gesehen, ist das richtig?»

«Das Kreuz?»

«Ja.»

«Nein.»

Valérie wusste nicht, ob sie damit weiterkam. Wenn das stimmte und jemand hatte das Kreuz am Freitagabend aus der Kapelle geholt, war nicht sicher, dass er auch der Mörder war. «Erinnern Sie sich an das Auto?»

«Ein Opel Mokka, schwarz oder dunkelblau … Hybrid oder sogar Elektro.»

«Haben Sie das Kennzeichen notiert?» Valérie spürte Adrenalin, konnte die Antwort kaum abwarten.

«Nein, sorry. Zu dem Zeitpunkt wussten wir nicht, wie wichtig es ist.»

«Können Sie wenigstens den Mann beschreiben?»

Die Jungs sahen einander an, und Valérie ärgerte sich, weil sie kein Foto eines Verdächtigen vorweisen konnte.

«Eins fünfundachtzig, schwer, kurze Haare, blasses Gesicht.»

Was auf einen Zehntel der Schweizer zutraf. «Fiel Ihnen sonst noch etwas an ihm auf?»

«Eine Narbe wie Ihre?», fragte derjenige, der bislang geschwiegen hatte.

Sein Kollege boxte ihm in die Seite. «Entschuldigung. Er hat es nicht so gemeint. Natürlich hatte er keine Narbe.»

Valérie schluckte es hinunter. «Erinnern Sie sich an eine rote Kassette?»

«Kassette?» Die Jungs sahen einander an.

«Auf oder vor dem Altar?»

«Nein.»

«An Blut?

«Blut?», fragte der, der links sass.

Valérie sah ihm an, dass er nichts wusste. «Was trug er?»

«Jeans, ein Hemd, vielleicht ein Shirt. Es war warm an jenem Abend.»

***

Nach der Mittagspause, die Valérie befohlen hatte, zwingend einzuhalten, trafen sich die Ermittler im Sitzungsraum.

«Ich hoffe, ihr habt gut gespeist.» Sie selbst hatte sich in ihrem Büro mit einem kalten Snack verpflegt und später Colin angerufen. Er hatte fröhlicher geklungen als letztes Mal, aber es war eine aufgesetzte Fröhlichkeit gewesen. Auf die Frage, wie es ihm gehe, hatte er nicht geantwortet, sich jedoch selbst zum Nachtessen heute Abend eingeladen. Allein.

Valérie blätterte unkonzentriert in ihren Unterlagen. «Wir suchen nach einem Opel Mokka, schwarz oder dunkelblau, eventuell dunkelgrün, entweder ein Benziner oder Hybrid, möglicherweise auch Elektro. Die Zeugen waren sich nicht einig. Kennzeichen unbekannt. Es könnte also ein Wagen sein, der überall in der Schweiz zugelassen ist.»

«Wir haben die Automarke bereits in das Raster gegeben», sagte Louis. «Die Marke fiel bereits beim letzten Tatort.»

«Ich erinnere mich. Hat man ein Ausschlussverfahren gemacht?»

Fabia schob ihr eine Liste zu. «Steht alles drauf.»

«Die berühmte Nadel …» Valérie hätte es sich denken können. «Wurden die Besitzer bereits eruiert?»

«Es gibt vierundfünfzig Mokka-Fahrer allein im Kanton Schwyz.»

«Wurden die bereits näher angesehen?»

«Noch sind wir nicht fertig», wich Louis aus.

«Wir müssen die Suche in den Kanton Sankt Gallen ausdehnen.» Sie sah jeden der Anwesenden der Reihe nach an. Ihr fiel auf, dass Oliwia Maria fehlte. «Weiss jemand, wo unsere Kollegin steckt?»

«Ich bin hier.» Oliwia Maria hatte soeben die Tür hinter sich zugezogen. «Entschuldige die Verspätung. Ich hatte gerade ein Gespräch mit einem Theologiestudenten von 1995.»

«Das triff sich gut.» Valéries Ärger war verflogen. «Louis und Fabia hatten heute Vormittag ein Treffen mit einem Studenten von 1996. Aber lasst uns zuerst über den Vorfall vom siebzehnten September sprechen. Es gibt erste Beschreibungen eines Mannes, der am vorletzten Freitag das Kreuz aus der Hurden-Kapelle gestohlen haben könnte.»

«Warum ‹haben könnte›?» Oliwia Maria ging zu ihrem Sitzplatz und legte die Mappe auf den Tisch.

Valérie informierte über die Beobachtungen der beiden Jungs. «Es bleibt bei der Annahme, dass der Mokka-Fahrer das Kreuz aus der Kapelle entwendet hat. Mutmasslicher Beweis dafür ist eine Leiter und die Tatsache, dass beim Blick in die Kapelle das Fehlen des Kreuzes auffiel.» Ihr gefiel nicht, wie Oliwia Maria sie ansah.

«Tatsächlich?» Louis grinste vor sich hin. «Sind diese Jungs Kirchengänger? Kannten sie die Kapelle? Wie will ihnen aufgefallen sein, dass das Kreuz fehlt?» Er wies auf die Pinnwand. «Es hing über dem Altar. Wie konnten sie wissen, dass es dort jemals war?»

Valérie liess sich nicht aus der Fassung bringen. «Ich habe die Jungs zu IT-Müller für die Anfertigung eines Phantombilds geschickt. Die Beschreibung des unbekannten Mannes könnte mit derjenigen des Täters in der Grotzenmühlestrasse übereinstimmen. Gross, massig wegen des Umhangs. Immerhin kommen wir der Sache etwas näher.»

«Leider gibt es von unserer Seite keinen Erfolg, was die Theologiestudenten betrifft», sagte Fabia. «Der Befragte erinnerte sich weder an Namen noch an Gesichter seiner Kommilitonen.»

Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Oliwia Maria.

«Ich hatte mehr Glück. Der Student, von dem Professor Hegetschwyler sprach, war diesem Studienkollegen ein Begriff. ‹Störfaktor› hätten sie ihn genannt, wenn er ganz durchdrehte. Er sei durch seine verqueren Ansichten, was den Katholizismus betraf, immer wieder negativ aufgefallen. Noch vor Ende des zweiten Semesters habe er gehen müssen, weil er für die andern nicht mehr tragbar war. Was aus ihm geworden ist, konnte er mir nicht sagen.»

«Und den Namen?» Für Valérie war im Moment nur dieser von Belang.

«Gotthilf. Steht leider nirgends auf der Namensliste.»

«Sonderbar», fand Fabia, «wer nennt denn heutzutage seinen Sohn Gotthilf?»

«Er kam 1975 oder 1976 zur Welt», sagte Louis’ Tischnachbarin. Sie hatte den Laptop aufgeklappt. «Zu der Zeit vielleicht ein gebräuchlicher Vorname. Im deutschen Sprachraum kommt er auch als Familienname vor.»

«Auf der Liste erscheint er weder als Vor- noch als Nachname», sagte Oliwia Maria.

Valérie brachte Notizen an der Pinnwand an. Die Resultate waren dürftig. Ob sie sich zu einem grossen Ganzen entwickeln würden, zeichnete sich im Moment nicht ab. «Wir sollten diesen Strang trotzdem nicht aufgeben.»

«Nein», sagte Oliwia Maria bestimmt. «Ich hatte vorhin einen weiteren Studenten am Draht. Deshalb meine Verspätung. Er untermauert die Aussage, dass in ihrer Klasse ein Kollege mit Namen Gotthilf war.»

«Und warum ist er nicht auf der Liste?»

«War wohl sein Spitzname.»

Valérie warf Louis’ Tischnachbarin einen Blick zu. «Kann ich dir diese Aufgabe übergeben? Ich weiss, es klingt stupid. Vielleicht kann man von ‹Gotthilf› etwas ableiten.»

Fabia und Louis steckten ihre Köpfe zusammen. Valérie hatte einen kurzen Moment das Gefühl, ihre Vorgehensweise würde von den beiden in Frage gestellt. Als nichts dergleichen verlautbart wurde, ging sie an ihren Platz zurück.

Ihre Nerven lagen blank. Sie konnte sie spüren, diese entzündlichen Fasern, die sich in ihrem Körper wie Spinnennetze ausbreiteten. Es gab Tage, in denen sich dieses Flechtwerk schmerzlich zu erkennen gab durch ein Kräuseln, das in den Fingerkuppen begann. Die schweren Fälle der letzten Jahre hatten Spuren hinterlassen. Mit jedem verbuchten Erfolg hatte sich dennoch keine richtige Befriedigung eingestellt. Vielleicht die Hoffnung, nie mehr mit solchen Gewalttaten, wie sie in der Vergangenheit geschehen waren, in Konflikt zu geraten.

Wenn Valérie ermittelte, funktionierte sie. Sie war Teil routinierter Abläufe, ein Knopf der polizeilichen Schaltstelle, die knallharte Fahnderin. Weder hatten Emotionen noch persönliche Befindlichkeiten Platz.

Je älter sie wurde, desto mehr zermürbte es sie. Immer ein wenig mehr. Manchmal überraschte es sie, wie sie die Kinkerlitzchen des Alltags dann zuliess, um sich zu spüren und sich bewusst zu werden, dass es nebst der Ermittlerin eine Frau mit Bedürfnissen und Träumen gab. In den letzten Nächten hatte sie oft geweint. Wenn sie ihren dunklen Gedanken Raum liess, wurde sie von ihnen überwältigt. Eine solch verstörende Phase war ihr nicht fremd. Durch Gespräche mit Vischer hatte sie sie in den Griff bekommen. Er aber hatte sie gewarnt, damit sei nicht zu spassen. Sie litt unter Erschöpfung. Es hatte damit begonnen, als sich eine gewisse Gleichgültigkeit einstellte. Nachrichten, die sie früher aus der Fassung geworfen hatten, plätscherten an ihr ab wie Wasser an einer in Öl getauchten Flasche. Ausgerechnet heute vermochte sie nicht, sich darüber zu äussern. Der Klumpen in ihrem Innern wurde stets grösser. Irgendwann würde sie ihn nicht mehr ignorieren können.

«Valérie?» Oliwia Maria riss sie aus ihren Gedanken. «Alles gut bei dir?»

Ihr Team hatte den Raum verlassen. Valérie stand allein ihrer neuen Kollegin gegenüber. «Alles okay.»

Oliwia Maria sah sie eindringlich an. «Wir kennen uns zwar noch nicht lange. Aber mir kannst du nichts vormachen.»

«Wie meinst du das?» Valérie räumte ihre Dokumente in die Mappe. Fehlte noch, dass sie sich in die Karten blicken liess.

«Wir Frauen haben immer das Gefühl, wir müssten uns im Beisein unserer männlichen Kollegen behaupten.» Oliwia Maria setzte sich auf die Tischkante. «Wir glauben, uns rechtfertigen und das Doppelte leisten zu müssen. Wenn die Männer Fehler machen, sehen wir mit einer Nonchalance darüber hinweg, meinen aber, uns für die eigenen zu bestrafen.»

«Bist du fertig?» Valérie hatte keine Ahnung, worauf Oliwia Maria hinauswollte. «Wir mögen uns in vielen Dingen ähnlich sein, aber solche Themen überlege ich nicht einmal.»

«Du verdrängst sie. Das ist schlimmer.»

Valérie wandte sich frontal Oliwia Maria zu. «Wir arbeiten zusammen und streben dasselbe Ziel an, einen Mehrfachmörder aus dem Verkehr zu ziehen. Es ist lieb von dir, wenn du dir Gedanken über meine Gesundheit machst. Aber glaube mir, in meinem Leben habe ich bereits zu viele Tiefschläge selbst bewältigen müssen, als dass ich mich heute von irgendetwas in den Boden ziehen lasse.»

«Sorry.» Oliwia Maria hob die Hände. «Es war nie meine Absicht, dir zu nahe zu treten.»

«Schon gut. Wir sind alle gereizt.» Valérie verliess den Raum. Sie ahnte, dass sie eine zutiefst enttäuschte Kollegin zurückliess.

Im Vernehmungszimmer zwei wartete Chiara Cottichini auf sie. Valérie hatte sie noch einmal hergebeten, weil es offene Fragen in Bezug auf die Meinrad-Kapelle gab.

Ein schwaches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. «Ich bin weitergekommen», sagte sie. «Ich habe seit unserer Begegnung viel geschrieben. Es ist, als hätte unser Gespräch eine Blockade in mir gelöst.»

«Das ist schön.» Valérie setzte sich, vermochte sich keinen Reim darauf zu machen, was ihr Gegenüber meinte. «Sie sagten letzthin, dass Sie täglich in die Meinrad-Kapelle gehen.»

«Wenn’s das Wetter zulässt, ja.»

«Ist Ihnen vor dem Verschwinden der Meinrad-Statue etwas Verdächtiges aufgefallen?»

«Ich bin ja nicht gedankenlos herumgesessen.» Chiara Cottichini sah aus, als entsetze sie sich über die Frage. «Natürlich habe ich darüber nachgedacht.»

«Waren Sie am Freitag vor dem Bettag auch auf dem Etzel?»

«Sagte ich soeben. Ich bin fast jeden Tag dort.» Sie senkte die Augenlider. «Warum bin ich wieder hier?»

«Und am Samstag?»

«Auch am Samstag und am Sonntag.»

«Aber an all diesen Tagen befand sich die Statue an ihrem angestammten Platz.»

«Mit Sicherheit, ja.»

«Erst am Montag fiel Ihnen ihr Fehlen auf.»

«Weil das Kreuz dort stand. Ich verstehe Ihre Fragen nicht.»

Valérie ging nicht darauf ein. «Wann genau kamen Sie auf dem Etzel an?»

«Zum Glück bin ich ein Gewohnheitsmensch, nicht wahr?» Chiara Cottichini amüsierte sich offensichtlich. «Da ich um drei Uhr mit der Arbeit im Restaurant Tulipan beginne, habe ich nur morgens Zeit für Spaziergänge. Ich war um halb elf oben.»

«Dann gingen Sie zur Kapelle?»

Allmählich machte sich bei Chiara Cottichini dennoch Verunsicherung bemerkbar.

«Ich möchte, dass Sie diesen Montagvormittag Revue passieren lassen. Sich jeden Schritt vor Augen führen, den Sie zwischen dem Parkplatz und der Kapelle gemacht haben.»

«Ist das eine Hypnosestunde?» Chiara Cottichini lachte schrill auf.

«Ich kann nicht hypnotisieren.»

Chiara Cottichini nickte und schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie sah aus wie eine Porzellanpuppe, weiss und zerbrechlich mit diesem glasigen Blick. «Ich stieg aus. Fay rannte den Hang hinauf. Sie kennt den Weg. Sie weiss auch, dass sie vor der Kapelle auf mich warten muss und ich sie neben der Bank anbinde.» Sie sah Valérie wieder an. «Es war ein wunderschöner Tag und die Fernsicht klar.»

«Wo haben Sie Ihren Hund gelassen?»

«Sagte ich doch. Neben der Bank.»

Valérie korrigierte sich: «Wo ist er zurzeit?»

«Meine Hündin ist zu Hause. Manchmal muss sie in der Wohnung bleiben. Aus lauter Langeweile frisst sie Vorhänge.»

«Schliessen Sie die Augen.» Valérie wollte nichts anderes, als dass sich Chiara Cottichini entspannte.

«Also doch Hypnose.» Sie verzog ihren Mund zu einem Schmunzeln, holte tief Luft und setzte eine ernste Miene auf. «Ich öffnete die Tür zur Kapelle, trat ein … Moment, das stimmt so nicht. Ich öffnete die Tür, und ein Mann fiel mir buchstäblich entgegen. Er war ungehobelt, meinen Gruss erwiderte er nicht.»

«Dann gingen Sie hinein.»

«Ja, und ich befand mich die ganze Zeit allein in der Kapelle. Es muss etwa elf Uhr gewesen sein, als ich sie verliess. Ja, ich erinnere mich. Kurz darauf schlug die Glocke elf Mal.»

«Könnten Sie den Mann beschreiben, der Ihnen entgegenkam?»

Chiara Cottichini hielt die Augen wieder geschlossen, atmete tief ein, als könnte sie damit das Volumen ihrer Gedanken vergrössern. «Gross. Er überragte mich um Kopflänge. Er hatte einen ansehnlichen Body. Das fiel mir auf. Er trug bloss ein T-Shirt.»

«Wie alt war er?»

«Ich bin schlecht im Schätzen. Vierzig vielleicht.»

Valérie entnahm ihrer Mappe das Phantombild aus der IT-Abteilung. «Sah er so aus?»

Chiara Cottichini starrte lange darauf. «Ja, das könnte er sein.»

***

Wasser, ein Tropenschauer. Dazu das Vorspiel zu Wagners Tetralogie «Der Ring des Nibelungen». Es war Monate her, seit Valérie sich zum letzten Mal fast exzessiv ihrem Ritual hingegeben hatte. Diese Wellen aus Oboen und Hörnern, die jeden Ton zur schmerzlichen Erfahrung machten. Die Gedanken zerflossen in den Berührungen, fielen widerstandslos. Atem – Schmerz – Atem. Erlösung.

Zanetti fand sie im Zustand völliger Ekstase vor. Es brauchte keine Worte. Er nahm sie in die Arme, drückte ihren nassen Körper an sich, stellte die Brause ab und die Musik leiser. «Das Rheingold» verebbte wie die letzten Tropfen im Abflussrohr. «Cara mia, cos’è successo?»

Valérie liess sich fallen. Die weissen Fliesen drehten sich, erzeugten einen farblosen Wirbel in ihrem Kopf, ein Kaleidoskop aus purem Nichts. Schuldgefühle auf dem Gipfel der Lust.

Zanetti begleitete sie ins Zimmer, wo sie sich auf das Bett legte. «Muss ich mir Sorgen machen?»

«Nein. Mir geht’s gut.» Sie sah ihn an, diesen schönen Mann, den sie noch immer bejahte. «Ich spüre dich», sagte sie, «und doch habe ich Sehnsucht nach deinen Berührungen.»

«Ich verspreche dir, wieder mehr Zeit mit dir zu verbringen, wenn das hier vorbei ist.»

«Wann ist das? Wird es irgendwann vorbei sein? Kommt dann nicht der nächste Schlag? Die Zeit dazwischen lässt uns zum Durchatmen kaum Raum. Die Welt ist schrecklich geworden. Das Böse begleitet uns, wo immer wir uns befinden. Abends in den Nachrichten. Morgens in der Zeitung. Ich komme nach Hause und kann all die entsetzlichen Dinge nicht einfach abwaschen. Unser Fall geht mir an die Substanz und führt mir vor Augen, was uns fehlt, was der ganzen Menschheit abhandengekommen ist. Die Liebe. Nicht die körperliche …»

«Deshalb verwöhnst du dich selbst.»

«Du hast mir zugesehen?» Valérie setzte sich auf. Sie fühlte sich ertappt.

«Es hat mich erregt.»

«Und trotzdem hast du es geschehen lassen?»

«Ich will, dass es dir gut geht.»

Sie zog seinen Kopf auf ihre Brust, küsste sein Haar. «Lass uns weit weg gehen. Ans Ende der Welt. Lass uns treiben in einem Fluss unter dem Sternenhimmel. Lass uns zur Ruhe kommen.»

«Wir werden auch dies überstehen.» Er lächelte. «Du hast mir eine SMS geschrieben. Colin kommt heute zu Besuch?»

«Er hat sich selbst zum Nachtessen eingeladen. Ich glaube, ihm geht es schlecht.» Valérie stiess Zanetti sanft von sich. «Er hat sich, vermute ich, definitiv von Angela getrennt. Alles kommt auf einmal.»

«Es ist sein Leben. Er ist erwachsen und muss seine eigenen Erfahrungen machen.»

«Er braucht ein paar Streicheleinheiten.»

«Dann werde ich uns etwas kochen und eine Flasche Roten öffnen. Im Keller hat’s einen wunderbaren Amarone. Den haben wir alle nötig.»

«Danke.» Valérie spürte die Wärme, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete.

Punkt sechs stand Colin vor der Tür.

Valérie liess ihn rein. «Seit wann klingelst du? Du bist nach wie vor hier zu Hause, schon vergessen?»

«Ja, Maman.» Er wedelte lässig mit dem Autoschlüssel. «Die Zeiten ändern sich.» Er zog seine Schuhe aus, stellte sie vor die Tür, bevor er diese hinter sich ins Schloss zog.

«Seit wann ziehst du die Schuhe aus?»

«Gewohnheit.» Er schmunzelte.

Wohl eher Erziehung, dachte Valérie und nahm ihren Sohn beim Arm. «Einen Apéro?» Diese Angela musste ihn arg gemassregelt haben. Diese Solaringenieurin.

«Ich bin mit einem Glas Wasser zufrieden.»

«Das sind ganz neue Töne. Aber unter die Vegetarier bist du nicht gegangen … Oh, pardon, Angela isst ja Fleisch.»

«Maman, lass das.»

«Entschuldige. Man sucht nach Gründen, wenn es dem eigenen Sohn schlecht geht.»

Colin liess sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. «Ist Emilio auch da?»

Valérie kam sich elend vor. Sie hatte es vermasselt. Anstatt sich über Colins Besuch zu freuen, schoss sie mit blöden Bemerkungen auf ihn. «Er holt den Wein aus dem Keller.» Sie setzte sich vis-à-vis. «Erzähl schon. Liebeskummer?»

«Musst du immer so direkt sein?»

«Letzthin hat es nicht gut geklungen. Ich mache mir Sorgen.»

Colins Mund wurde zu einem Strich. Es entstand eine unheilvolle Pause. «Auf einmal bin ich ihr zu jung und zu unerfahren. Und dann kommt sie mit einer Freundin nach Hause, die ihre Mutter sein könnte.»

Valérie glaubte, sich verhört zu haben. «Sie hat eine Freundin?»

«Freundin ginge ja … Sie hat eine Geliebte. Sie hat mit der voll rumgemacht. In unserem Bett. Sorry, aber da gingen bei mir die Sicherungen durch. Sie hat mich die ganze Zeit zum Narren gehalten.»

«Dann hast du nie mit ihr …?»

«Maman, ich bin nicht hinter dem Mond. Aber es ist mir einfach zu viel. Ich bin im Prüfungsjahr. Ich brauche Ruhe und auf keinen Fall eine Freundin, die sich als bisexuell outet und glaubt, ich würde mitmachen. Angela ist verrückt. Aber ich habe es an ihr gemocht … Bis heute.»

«Hey, Colin.» Zanetti stand plötzlich da. Ob er dem Gespräch gelauscht hatte? «Schön, dich wieder einmal zu sehen.»

«Gleichfalls.» Colin stand auf, schlug Zanetti ein. «Man liest so allerhand von euch in der Zeitung. Seid ihr schon weitergekommen?»

«Wir wollten heute Abend nicht über den Fall sprechen.» Zanetti entkorkte die Weinflasche. Er holte Gläser aus der Vitrine, stellte sie auf den Tisch und schenkte eines ein. «Willst du kosten?»

«Was gibt’s zu essen?»

«Ah, ich sehe, ein Gourmet. Er möchte wissen, ob der Amarone auch passt.» Zanetti grinste vor sich hin. «Un filet de bœuf, sauce au vin rouge.»

«Der Mann kann ja Französisch. Wunderbar.» Colin blinzelte zu Valérie hinüber. «Jetzt musst du dich anstrengen und Italienisch lernen.»

Zanetti warf Valérie einen vielsagenden Blick zu und lächelte sie zärtlich an.

«Erzähl von Angela», lenkte Valérie ab. «Wie seid ihr verblieben?»

«Sie will sich erst mal selbst finden. Sie und ihre Freundin aus dem Altersheim.»

«Wie alt ist sie denn?»

«Fünfzig.»

Valérie fühlte sich betroffen.

Colin bemerkte es. «War nur so dahingesagt. Auf die Perspektive kommt es an.»

«Was gedenkst du zu tun?» Sie hatten sich an den gedeckten Tisch gesetzt. Valérie schlug die Serviette auf.

«Ich bin bei einem Freund untergekommen. Ich kenne ihn von früher. Er wohnt in Küssnacht.»

«Deshalb dein frühes Aufstehen am letzten Sonntag.» Valérie war nicht glücklich darüber. «Wie machst du es mit dem Arbeitsweg? Freienbach liegt ja nicht gleich um die Ecke.»

«Ich habe ein Auto, schon vergessen?»

«Das summiert sich. Ich meine die Kosten für das Benzin.»

«Ab und zu kann mich mein Kollege bis auf den Hirzel mitnehmen. Er arbeitet dort. Und ich fahre mit dem Postauto weiter.»

«Zeitlich lässt es sich vereinbaren?» Valérie musste sich daran gewöhnen, dass die jungen Leute eine andere Einstellung zu Distanzen hatten als sie. Sie diskutierten nicht darüber, sie handelten.

«So ungefähr.» Colin griff nach der Salatschüssel, die bereitstand. «Angela war anstrengend. Manchmal glaubte ich, ihr Vorzeigemännchen zu sein. Jedermann musste erfahren, dass ich mehr als zehn Jahre jünger bin als sie. Auf Instagram hat sie es laufend publik gemacht.» Er sah über den Tisch Valérie an. «Wie sagtest du immer: Es gibt viele Mütter mit schönen Töchtern …»

Zanetti gab ihm recht. «Komm, wir stossen auf die Töchter an.»