ZWÖLF

Valérie hatte es sich nicht nehmen lassen, am Donnerstag auf dem Weg nach Biberbrugg beim Kriminaltechnischen Dienst in Schindellegi selbst vorbeizugehen und die Schatulle mit dem Amulett ins Labor zu bringen. Sie war dabei, als Franz Schuler es herausholte und für die Spurensicherung bereitlegte.

«Wie lange dauert es, bis ich die Resultate habe?»

«Haben wir denn einen Vergleich?»

«Die Fingerabdrücke vom Kreuz aus der Hurden-Kapelle und aus dem ‹Heilig Hüsli›.»

«Wenn ich mich beeile, bis heute Abend.» Er sah sie nicht an.

Die Antwort befriedigte Valérie nicht. «Und wenn du den Turbo zündest?»

«Bis heute Abend.» Schuler blieb dabei. Er hatte sich Vinylhandschuhe angezogen und begutachtete das Amulett. «Nach der Beschaffenheit der Oberfläche muss ich ein physikalisches oder chemisches Verfahren verwenden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Fingerabdrücke nur in Teilbereichen vorhanden sind.» Er wies auf den Anhänger. «Was stellt es dar?»

«Die geöffnete Bibel mit dem Kreuz im Zentrum. Wenn du dich konzentrierst, siehst du über dem Kreuz die Weltkugel, welche von züngelnden Flammen umfasst wird.»

«Und was bedeutet es?»

«Es ist das Logo der Adventisten.»

«Man lernt wohl nie aus.»

«Ich erwarte die Daktyloskopie und den biometrischen Abgleich mit den bereits vorhandenen Daten um fünf Uhr.»

Schuler starrte sie zuerst ungläubig an. «Aha, Madame la commissaire versteht mein Fachchinesisch.»

Valérie sah ihn zum ersten Mal herzlich lachen. Ihm war wohl einiges entgangen, was «seine» Fachausdrücke betraf.

Sie arbeiteten seit fünfeinhalb Jahren zusammen. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihren Kollegen wusste. Von den Weihnachtsessen hielt er sich fern und sein Privatleben vor allen geheim. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, das einzig Persönliche von ihm, das durchgesickert war. Ersteres war sich Valérie nicht sicher, weil er seit einiger Zeit keinen Ehering mehr trug. Es kitzelte sie geradezu, mehr von ihm zu erfahren. Letzten Monat hatte er sein fünfundzwanzigstes Dienstjahr gefeiert. Nicht wie vorgesehen im Kreis seiner Kollegen; er hatte für diese Zeit Ferien gebucht, wohin, wusste niemand. Die Auszeichnung dagegen hatte er von Caminada, ohne mit der Wimper zu zucken, in Empfang genommen und sie wahrscheinlich zu seinen diversen anderen Ehrungen gelegt. «Hast du mal Zeit für einen Kaffee?»

«Danke, ich trinke keinen Kaffee.» Er nahm das Amulett auf und legte es zurück in die Schatulle.

«Ich kann auch Tee aufgiessen. Also, falls du mal in der Nähe meines Büros sein solltest.»

Schuler hielt ihrem Blick stand. Gut möglich, dass er sie zum ersten Mal mit den Augen eines Mannes betrachtete. «Sorry, ich muss dir einen Korb geben.»

Valérie hätte gern den Grund erfahren. «Okay, halb so schlimm. Danke für deine speditive Arbeit», sagte sie und setzte damit Schuler wissentlich unter Druck. Erst im Nachhinein fand sie, dass diese Bemerkung nicht nötig gewesen wäre.

***

Die Klinik mit integriertem Wohnheim für psychisch kranke Menschen in Lachen befand sich in privatem Besitz. Louis hatte im Internet erfahren, wer es vor fünfunddreissig Jahren ins Leben gerufen hatte. Der Gründer hatte sich längst zurückgezogen und es seinem Sohn übergeben, der die Philosophie des Vaters weiterlebte. Zehn Ärztinnen und Ärzte sowie zwanzig Pflegekräfte und zwei Köche mit Gehilfen arbeiteten unter einem Dach und sorgten sich um das Wohl der stationären Patienten.

Louis wies sich aus. «Ich hatte bereits Kontakt mit der Direktorin. Sie sagte mir, dass sie um zehn Uhr im Haus sei.»

Die Sekretärin besah sich den Ausweis. «Louis Camenzind. Ja, ich erinnere mich. Ich habe Sie heute an Frau Leimbacher weitergeleitet. Sie erwartet Sie in ihrem Büro.» Sie streckte den Arm aus und wies ihm die Richtung. «Gehen Sie bitte den Korridor entlang. Es ist die erste Tür links.»

Im Foyer hielten sich zwei Jugendliche auf, die Louis mit einem feindseligen Blick taxierten. Breitbeinig bewegten sie sich im Slow-Modus, damit die Hose nicht ganz über ihre Hüften rutschte. Louis sah kurz hin und amüsierte sich an diesem Schlabberlook, den er selbst nie für cool gehalten hatte.

«Ein Bulle», sagte einer von ihnen. «Die kann ich aus hundert Meter Entfernung riechen.»

Louis ging unbeteiligt an ihnen vorbei. Er kannte sich aus mit solchen Typen und wunderte sich nicht, weshalb sie hier gestrandet waren. Die Psychiatrische war wohl die letzte Station, um sie auf die Bahn zurückzubringen, die sie vor einiger Zeit verlassen hatten. Oft halfen Therapien wenig. Früher oder später landeten sie im Knast.

Er klopfte.

«Treten Sie ein», tönte es aus dem Innern.

Louis drückte den Türgriff runter, stiess die Tür auf und war überrascht, eine junge Frau anzutreffen. Kaum dreissig mit einem energischen Gesicht und streng nach hinten zusammengenommenen Haaren. Stolz sass sie vor einem Pult, welches die halbe Fläche des Büros einnahm. «Frau Leimbacher?»

«Ich weiss, man erwartet eine ältliche Dame mit Chignon. Diesen Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun.» Wenn sie lachte, war sie richtig schön. Lachfältchen zeichneten zarte Linien um Augenpartie und Mund.

«Louis Camenzind, wir haben miteinander telefoniert.» Er legte den Ausweis aufs Pult.

«Und ich habe Sie erwartet.» Sie drehte den Bürostuhl in seine Richtung und warf wie beiläufig einen Blick auf die Karte. «Sie haben mir nicht gesagt, worum es geht. Ich hoffe nicht, dass einer unserer Patienten etwas angestellt hat.»

«Verdächtigen Sie denn jemanden?»

«Sie wissen ja, wie es ist. Man müsste sie sonst einsperren. Die meisten unter ihnen sind junge Männer. Aber was erzähle ich da.»

«Es geht möglicherweise genau um so einen jungen Mann. Sein Name ist Elisha Fox, letztmals wohnhaft in Bäch. Er müsste zwischen 1998 und 2000 hierhergekommen sein.»

«Zu der Zeit besuchte ich die vierte Primarklasse.»

«Davon gehe ich aus», schmeichelte Louis ihr. «Es gibt sicher Papiere über die Ein- und Austritte Ihrer Patienten. Soweit ich im Bild bin, wurde die Klinik 1986 eröffnet.»

Frau Leimbacher drehte den Stuhl frontal zum Pult. Sie griff nach der Maus, schob sie über die Tischplatte und klickte sie an. Dann tippte sie auf der Tastatur und konzentrierte sich auf den Bildschirm. «Elisha Fox, haben Sie gesagt?»

«Elisha mit ‹sh›.»

«Auf den ersten Blick sehe ich nichts. Haben Sie denn Gewissheit, dass er bei uns war?»

«Aus erster Hand.» Louis dachte an Pfarrer Wallimann, dem er ein gutes Gedächtnis attestierte. «Schauen Sie mal unter Gotthilf.»

«Gotthilf? Zwischen Elisha und Gotthilf scheint ein eklatanter Unterschied zu sein.» Selbst wenn sie die Augen aufriss, blieben sie in der Form schmal. «Und wie noch?»

«Fox.»

Sie scrollte sich durch eine Liste von Namen. «Ich finde ihn nicht.»

«Haben Sie bei allen Jahrgängen nachgesehen?»

«Seit 1986.» Sie sah bedauernd auf. «Sie müssen sich in der Klinik geirrt haben.»

Louis kniff den Mund zusammen. Das war nicht möglich. Oder bestand der Verdacht, dass man Elisha Fox unsichtbar gemacht und ihn absichtlich aus der Kartei gestrichen hatte? «Wer von den Ärzten praktizierte um 2000 in der Klinik, die heute noch hier sind?» Louis verschränkte die Arme und tippte nervös mit dem einen Fuss auf den Boden.

«Ich sehe, dass die Psychiater und Psychiaterinnen, die heute bei uns sind, nach dem Millennium oder später zu uns gestossen sind.»

«Und vom Pflegefachpersonal?»

«Wir sind ein junges Team.» Frau Leimbacher hob die Schultern. «Ihnen könnte höchstens Professor Joller senior Auskunft geben. Vielleicht erinnert er sich an einen Patienten mit Namen Elisha Fox oder an jemanden, der in der von Ihnen erwähnten Zeit als Arzt oder Pfleger hier war.»

Louis sah ihr an, wie sehr sie sich bemühte. «Und wo finde ich Professor Joller?»

«Möglicherweise ist er beim Golfen in Küssnacht. Er ist dort Mitglied.»

***

Die digitale Geschwindigkeitsanzeige schnellte in die Höhe. Fast hundert Stundenkilometer in der Achtzigerzone. Oberste Grenze. Valérie war es sich bewusst. Sie lotete das Tempo immer aus, und für die Radarfallen hatte sie mittlerweile ein Gespür entwickelt. In weiser Voraussicht entdeckte sie sie immer.

Oliwia Maria neben ihr schien die Rasanz ebenso zu geniessen. Sie hatte die Augen geschlossen und liess sich von Richard Wagner berieseln. «Lohengrin», das Prélude zum ersten Akt. Sie hatte bestimmt keine Ahnung davon, was dies in Valérie auslöste.

Die Landschaft zog an ihnen vorbei wie ein Stummfilm, mit dieser gewaltig sinnlichen Musik untermalt. Vereinzelt Häuser, ein paar Bäume und Sträucher, die der letzte Sturm halb kahl geschlagen hatte. Im Tal lag der Lauerzersee wie kaltes Blei. Am Horizont kündeten Wolken ein neues Tief an.

Plötzlich ein Knall. Ein Rumoren zwischen den Rädern. Der TT geriet ins Schlingern. Valérie bremste abrupt ab und zog das Lenkrad rechtsherum. Der Wagen schleuderte, scherte aus. Sie touchierte die Bordsteinkante, was einen harten Schlag verursachte, und kam vor einem Baum zum Stehen. «Vermaledeit! Was war das?» Sie sah auf die Beifahrerseite, wo sich Oliwia Maria an den Kopf griff. «Du blutest ja.»

«Eine kleine Schramme. Hast du keinen Airbag?»

«Wahrscheinlich nicht aktiviert. Ich habe ihn irgendwann ausgeschaltet.» Valérie öffnete die Fahrertür. «Ich muss in etwas reingefahren sein.» Sie schwang ihre Füsse ins Gras. «Ich bin tatsächlich abseits gelandet.» Sie ging um den Wagen herum und suchte nach Schäden.

«Und, ist etwas kaputt?» Oliwia Maria stieg aus. Sie hatte ein Taschentuch an ihre Stirn gepresst.

Valérie sah ihr den Schock an. Sie kauerte auf der rechten Seite auf Scheinwerferhöhe nieder. «Nichts als ein kleiner Kratzer. Vielleicht war der aber bereits da. Die Räder sehen aus, als wäre ich eine Rally gefahren.» Sie liess ihren Blick über das Gras schweifen, über die Spur, die ihr Wagen darauf geschlagen hatte, und den Baum vor ihr. «Ein paar Zentimeter weiter und wir hätten einen Totalschaden oder stünden jetzt vor der Himmelspforte.» Sie erhob sich, suchte den Platz Richtung Waldrand ab und besah sich die Kante, wo sie ausgewichen war. Kein Hindernis, keine Blutspur, was auf ein Tier hingewiesen hätte.

Valérie ging zurück. «Was ist mit deinem Kopf? Sollten wir nicht besser zum Arzt?»

«Auf keinen Fall.»

«Woran hast du dich verletzt?»

«An der Seite. Da hätte ein Airbag sicher wenig genützt, wenn ich es mir überlege. Komm, lass uns weiterfahren.»

Valérie stieg ein und startete den Motor. Er sprang nicht gleich an. Oliwia Maria setzte sich neben sie.

«Ich habe den TT bereits sechs Jahre. Vielleicht sollte ich mir mal einen neuen Wagen kaufen. Es gibt bereits ansehnliche Elektroautos. Ich glaube, ich werde nicht darum herumkommen, mich den klimabedingten Umständen anzupassen. Bis jetzt habe ich es immer hinausgezögert.»

«Ist das dein Ernst?» Oliwia Maria nahm das Taschentuch vom Gesicht und begutachtete die Schramme auf dem Spiegel unter der Sonnenblende. «Nie im Leben würde ich eine Batterie mit Karosserie durch die Gegend fahren. Und solange man für die Herstellung der Batterie eines Elektroautos über achtzigtausend Liter Wasser verwendet, sehe ich keinen ökologischen Gewinn.»

Valérie fuhr lachend auf die Strasse. Der schmale Waldstreifen hätte für einen Wildwechsel gereicht. Es musste etwas anderes gewesen sein. Vergessen war für ein paar Minuten der Grund, weshalb Valérie mit Oliwia Maria unterwegs war.

Bis er mit aller Brutalität in ihre Gedanken zurückkehrte. Vor einer halben Stunde hatte die Meldung sie aus Schwyz erreicht, dass in der Kirche Sankt Martin ein Mann zusammengeschlagen worden war.

***

Der Golfplatz lag gegenüber der Rigi, eingebettet in die hügelige Moränenlandschaft zwischen dem Zuger- und dem Vierwaldstättersee. Eine beschauliche Gegend, herbstlich angehaucht. Louis fuhr auf den Parkplatz neben einen Jaguar links und einen Porsche Carrera rechts. Endlich kam seine «Schüssel» auch mal zur Geltung zwischen den Statussymbolen der High Society. Ansonsten fühlte sich Louis gerade etwas fehl am Platz. Auf dem Weg zum Clubhaus begegneten ihm zwei Männer in karierten Bermudas und farblich abgestimmten Poloshirts. Eine Lady ganz in Pink war mit ihrem Caddy unterwegs und nutzte die freien Arme für ein paar Turnübungen. Auf Louis’ Höhe angekommen, warf sie ihm einen schmachtenden Blick zu. Er grüsste sie freundlich, worauf sie eine Bemerkung fallen liess, die er nicht verstand.

Das Sekretariat lag im selben Gebäude wie das Panoramarestaurant, von dessen Terrasse aus man wahrscheinlich einen phänomenalen Ausblick genoss.

In der Golfboutique wurde alles angeboten, was man für einen sportlichen Auftritt auf den Fairways brauchte. Louis ergötzte sich an ein paar Jeans mit Nieten, die ihm gefallen hätten, zum Preis eines halben Wochenlohns.

«Hallo, kann ich Ihnen helfen?» Der junge Mann, knackig und braun gebrannt mit Ballonmütze, hinterliess nicht den Eindruck, in seinem Leben viel gearbeitet zu haben.

Louis grüsste ihn zerknirscht. «Sind Sie hier zuständig?»

«Ich halte die Stellung im Sekretariat und betreue den Shop. Sind Sie Mitglied?»

«Sehe ich so aus?» Louis wies seinen Dienstausweis vor. «Ich suche Professor Joller aus Lachen.»

«Jojo … klar, den habe ich erst noch gesehen. Ich glaube, er ist auf der Driving Range.»

«Und wo finde ich diese Ranch?»

«Hat nichts mit Tieren zu tun, Mann.» Sonnyboy grinste und entblösste ein schneeweisses Hollywoodgebiss. «Die Driving Range ist ein Übungsplatz. Dort können Sie so viele Golfbälle verschiessen, wie Sie möchten.» Er wies ihm den Weg. «Sie erreichen ihn gleich gegenüber dem Putting Green.»

«Aha.» Louis’ Blick folgte seinem Finger.

«Warum interessiert sich die Polizei für ihn?»

«Danke für die Auskunft.» Louis verliess das Gebäude. Jemand fuhr ihm mit einem Golfcart entgegen. Im letzten Moment wich Louis ihm aus. Auf dem Putting Green übten ein paar Golfer Bälleversenken.

«Da können Sie nicht durch», sagte jemand an seiner Seite. «Den Rasen darf man nur mit Golfschuhen betreten.»

«Sorry, wo immer ich hingetreten bin, es war nicht Absicht.»

«Sie befinden sich auf dem ersten Abschlag.»

«Ich suche die Driving Range.»

«Der ist dort drüben.»

Louis blieb stehen. «Kennen Sie Professor Joller?»

«Jojo? Ja, klar … Er ist auch auf dem Platz. Sie erkennen ihn an der kanariengelben Hose.»

Louis bedankte sich und sah zwei bezaubernden Beinen im Minirock nach.

Auf der Driving Range hielten sich wenige Personen auf. Louis fand Professor Joller allein in der Nähe eines künstlich angelegten Sees, wo er augenscheinlich den Abschlag übte. Gelb waren auch sein Hemd und die Schirmmütze. Louis beobachtete ihn, wie er den Ball auf einen Kunststoffstift legte, den Golfschläger robotermässig ein paarmal hin- und herschwang, bis er den Ball abschoss. Das Ziel war wohl Nebensache.

Louis ging auf ihn zu, stellte sich mit Namen vor und wies sich aus. «Ich muss Sie leider in Ihrem Spiel unterbrechen.»

«Oh, das trifft sich gut.» Professor Joller zwinkerte ihm zu. Er drehte den Kopf kurz in die entgegengesetzte Richtung. «Sehen Sie den Kerl dort drüben? Er ist mein Golflehrer und bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe zwar die Platzreife, aber mein Handicap ist noch immer über fünfzig. Ich weiss nicht, ob ich es in meinem Alter noch lerne, besser zu werden. Kommen Sie, setzen wir uns auf die Bank.» Er steckte den Schläger in den Golf-Bag zurück. «Das ist das Neunereisen. Mit ihm kann man nicht sehr weit schlagen, dafür umso präziser … Sie haben mir noch nicht verraten, weshalb Sie mich suchen. Habe ich etwas verbrochen?» Er lachte schallend, worauf ein älteres Paar anklagend zu ihnen herüberschaute.

Professor Joller setzte sich auf die Bank am Rand der Driving Range.

Louis blieb stehen. «Ich brauche eine Auskunft. Von 1986 bis 2002 haben Sie die Klinik in Lachen geführt.»

«Ich habe sie ja errichtet. Das waren noch Zeiten. In den achtziger Jahren war alles im Aufschwung. Die Klinik rentierte.»

«Sie waren der Besitzer, das ist mir bekannt.»

«Heute führt sie mein Sohn. Aber die Aktienmehrheit habe ich. Er muss zuerst beweisen, ob er im Business so gut ist wie sein Ernährer.» Professor Joller blinzelte ihn an.

«Darum geht es mir nicht.» Louis verschränkte die Arme. Er mochte keine Konversation, die in seinen Augen unnötig war. Professor Joller machte den Eindruck, liebend gern von sich zu erzählen. «Ich suche einen Mann, der zwischen 1998 und 2000 in der Klinik war. Er heisst Elisha Fox. Damals war er zweiundzwanzig Jahre alt.»

«Elisha … Ich erinnere mich. Er kam Ende 2000 zu uns, nachdem er einen Studiengang als Theologe abgebrochen und danach etliche Aushilfsjobs verloren hatte. Er war ein äusserst intelligenter junger Mann, aber sehr labil. Er litt unter einem extremen Minderwertigkeitskomplex.»

«Seine alte Adresse ist in Bäch. Dort lebt er aber längst nicht mehr, und an einem anderen Ort ist er nicht angemeldet. Im Patientensystem ist er auch nicht.»

«Das ist seltsam.» Professor Joller wischte sich mit einem Frotteetuch Schweiss von der Stirn. «Zwei Jahre nach der Einlieferung bei uns verliess er die Klinik, kehrte jedoch drei Monate später zurück, nicht als Patient, sondern als Hilfspfleger. Wir hatten ihn im Rahmen eines Programms aufgenommen.»

«Was für ein Programm?»

«Eine Inklusion. Wir halfen psychisch beeinträchtigten Menschen, indem wir sie begleiteten, bis sie selbstständig in die freie Markwirtschaft entlassen werden konnten.»

«Ist es Elisha Fox gelungen?»

«Das entzieht sich meines Wissens.»

«Hatte er eine Bezugsperson? Jemanden, der ihn betreute?»

«Damals war es Serina Dahlberg, eine Psychotherapeutin. Sie hat sich mit Leib und Seele um Elisha gekümmert.» Professor Joller räusperte sich, sah einen Moment vor sich hin, als würde er an etwas Schlimmes denken. Um seinen Mund legte sich ein verbitterter Zug. «Er hatte ja den Vater verloren, und von der Mutter fehlte jede Spur. Man munkelte, sie sei nach Amerika ausgewandert. Sie hat sich jedoch nie gemeldet.»

«Wo finde ich Frau Dahlberg?» Louis notierte sich den Namen auf einem Notizblock. «Haben Sie noch Kontakt zu ihr?»

«Ich verlor sie aus den Augen, als ich mich aus der Klinik zurückzog.»

***

Der Grosse und der Kleine Mythen thronten wie gigantische Wächter über Schwyz. Ihre Felsen düster und unheimlich im aufkommenden Wind, der schwere Wolken aus dem Süden vor sich herschob.

Die drei Zugänge zur Sankt-Martins-Kirche waren abgeriegelt. Zwei Polizei- und ein Krankenwagen standen unterhalb der Treppe bei der Einfahrt zur Schulgasse.

Valérie parkte den TT in der Herrengasse. Nachdenklich stieg sie aus. Seit ihrem Fast-Unfall auf der Schlagstrasse war es ihr vorgekommen, als dröhnte der Motor anders als sonst. Sie musste das Auto in die Werkstatt bringen, um einen grösseren Schaden ausschliessen zu können. Froh darüber, dass niemand sie beobachtet hatte, ging sie zum Ambulanzwagen, Oliwia Maria über die Stufen bis zum Haupttor der Kirche. Jedermann hätte sehen können, dass Valérie mit fast hundert Stundenkilometern in die Kurve geprescht war. Nicht auszudenken, wenn sie ihren Wagen zu Schrott gefahren hätte und ihre Kollegin zu Schaden gekommen wäre. Man hätte den TT abgeschleppt und ihn nach Schindellegi gebracht. Heute ging nichts am geübten Auge der Kriminaltechniker vorbei. Himmel, wäre das blamabel gewesen.

Neben dem Ambulanzwagen standen die Sanitäter und unterhielten sich mit einem Verletzten, der sich offenbar weigerte, mit ihnen ins Spital zu fahren. Seinen Kopf umschloss ein weisser Verband. Er sass auf der Rampe. Man hatte ihm eine Rettungsdecke umgelegt.

Valérie bat einen der Rettungssanitäter zu sich und wies sich aus. Sie hatte vorab von der Streife erste Informationen erhalten. «Ist der Patient vernehmungsfähig?»

«Er steht unter Schock. Da können Schmerzen schon mal ausgeblendet werden, respektive er spürt sie nicht.»

«Ist er schwer verletzt?»

«Er hat einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Die Kopfhaut ist aufgeplatzt. Es hat ziemlich geblutet. Wir haben ihm einen Druckverband angelegt und ihn zur Sicherheit gegen Starrkrampf geimpft. Er müsste zur Beobachtung ins Spital und die Wunde sicher nähen. Aber er sagte, dass er auf Sie warten wolle.»

«Dann möchte ich gleich mit ihm sprechen.» Valérie wandte sich nach dem Mann um. Er hatte die Decke von seinem Körper entfernt. Er war um die sechzig, dünn, aber nicht athletisch. Er sah kränklich, aber im Geist wach aus. «Mein Name ist Valérie Lehmann. Ich bin von der Kantonspolizei. Wie geht’s?»

«Mir geht’s gut. Ich habe aber echt eins auf die Birne gekriegt.» Er versuchte ein Lächeln, das sich zu einer schmerzlichen Miene verzog.

«Ich mache es kurz. Danach sollten Sie ins Spital.» Valérie griff nach Notizblock und Schreibstift. «Wie ist Ihr Name?»

«Lazarus Kreienbühl.» Er nannte seine Adresse in Schwyz.

«Darf ich fragen, weshalb Sie die Kirche besucht haben?»

«Es ist eine Art Ritual. Hier hatte ich meine Frau geheiratet, die vor zwei Jahren gestorben ist. Leider arbeite ich am Samstag in der Spedition bei Aldi, sonst hätte ich den Samstag gewählt.»

«Das tut mir leid.» Valérie liess ein paar Sekunden verstreichen. «Sie kommen also jeden Donnerstag zur gleichen Zeit in die Kirche?»

Kreienbühl griff sich an den Kopf. Er schien Schmerzen zu haben. «Ja, immer um drei Uhr.»

«Nur noch eine Frage.» Valérie sah ihm an, dass er sich zusammenreissen musste. «Konnten Sie den Täter erkennen?»

«Ich erinnere mich, dass er nach mir in die Kirche kam. Ich ging zur vordersten Bankreihe und setzte mich. Ich drehte mich halb um und erkannte im Augenwinkel einen Mönch, also dachte ich mir nichts dabei.»

«Sein Gesicht haben Sie nicht erkennen können?»

«Nein, das Letzte, was ich von ihm sah, war ein dunkelbrauner oder schwarzer Ärmel. Daraufhin spürte ich den Schlag … Dann weiss ich nichts mehr.»

«Danke. Das wär’s fürs Erste. Lassen Sie sich im Spital untersuchen, und», sie sah zum Rettungssanitäter hinüber, «Sie werden nicht darum herumkommen, die Wunde zu nähen.»

«Ja, mache ich. Aber es war mir wichtig, Sie zu sehen.»

Oliwia Maria kam auf Valérie zu. «Ich habe bereits die Personalien des Zeugen aufgenommen. Er sagte, dass er den Täter verscheucht hat. Es gibt eine Beschreibung von ihm, die leider nicht sehr aussagekräftig ist, ausser dem, was wir bereits kennen. Einen Meter neunzig gross, blass. Haarfarbe unbekannt. Der Zeuge sagt, dass es ihm seltsam erschien, weil er sich direkt hinter den Verletzten gesetzt hatte, trotz der leeren Kirche. Er sei neugierig gewesen und habe sich in der Nähe niedergelassen. Als er sah, dass der ‹Mönch› ein Kreuz aus dem Umhang hervorgeholt und damit auf den Mann vor ihm geschlagen habe, sei er dazwischengegangen. Der Täter muss ob seines Angriffs überrascht gewesen sein. Er habe sofort das Weite gesucht.»

Valérie ging noch einmal zum Ambulanzwagen. Die Sanitäter hatten soeben die hintere Tür geschlossen und waren bereit zum Abfahren. Valérie hielt einen von ihnen auf. «Bitte lassen Sie mich noch einmal mit ihm sprechen.»

«Tut mir leid», kam es zurück. «Das können wir nicht verantworten. Sobald es ihm besser geht, können Sie gern mit ihm reden.»

Valérie blieb frustriert zurück. Wie hatte sie auch vergessen können, Kreienbühl nach seiner Ausbildung zu fragen. Vom Alter her passte er nicht ins Beuteschema des Täters. Sie wandte sich nach Oliwia Maria um. «Was sagt dein Spürsinn?»

«Dass es sich um den gleichen Täter handelt, den wir seit dem ersten Mord suchen. Der Zeuge bestätigte, dass er mit einem Kreuz zugeschlagen habe.» Oliwia Maria deutete auf ihr Smartphone. «Die Bedeutung entnehme ich aus einem Text im Internet. Das Symbol des Kreuzes stellt das universale Verbindungsglied dar zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und den Menschen. Das Symbol wird zur Wirklichkeit, wenn der Mensch im Schnittpunkt des Kreuzes eine fundamentale Umkehr vollzieht. Dann führt ihn die Vertikale zurück in seine ursprüngliche göttliche Existenz. Das sagen die Rosenkreuzer», ergänzte sie.

«Die Äusserung ‹fundamentale Umkehr› passt mir nicht.»

«Wie bereits erwähnt, ich habe nichts mit Religion am Hut. Ich glaube, dass man das Kreuz auf verschiedene Weise interpretieren kann. In meiner Fallanalyse gehört es zum Hauptaugenmerk. Warum schlägt er mit etwas, das im christlichen Glauben heilig ist? Das ist meine Frage, und darauf werde ich weiter aufbauen.»

Der Camion des KTD fuhr zu. Zwei Kollegen von Schuler stiegen aus.

Valérie entsann sich des Berichts über den Fingerprint, den Schuler ihr auf fünf Uhr versprochen hatte. «Ich werde zurück nach Biberbrugg fahren», liess sie Oliwia Maria wissen.

«Und ich mache bei der Tatortsicherung ein paar Fotos», sagte diese. «Sehen wir uns morgen?»

Valérie deutete auf ihre Schramme. «Ist es auszuhalten?»

«Schon vergessen.»

***

Vor der Tür stand Fabia, als Valérie auf ihrem Stockwerk den Lift verliess. Sie wedelte mit einem A4-Blatt durch die Luft. «Franz hat die Vergleiche geschickt.»

«Was schreibt er?» Valérie durchschritt den Korridor. Sie schloss ihr Büro auf.

Fabia trat zögernd ein.

«Worauf wartest du?» Schuler hatte es geschafft, den Bericht vor fünf Uhr zu übermitteln. Sie musste ihm ein Kränzchen winden. Oder ihn zum Tee überreden.

Fabia ging auf das Pult zu, drehte sich zu Valérie um und verzog ihren Mund zu einer Grimasse. «Er ist es. Die Fingerabdrücke auf dem Amulett stimmen zu neunundneunzig Komma neun Prozent mit den Fingerabdrücken vom ‹Heilig Hüsli› und denen auf dem Kreuz aus der Hurden-Kapelle überein.»

«Elisha Fox. Und niemand weiss, wo er sich aufhält.» Valérie schwang sich auf den Drehstuhl. Sie aktivierte ihren PC und tippte auf die E-Mail-Eingänge. «Wie kommt er dazu, Louis und dich auf ‹cc› zu nehmen?»

«Wir gelten als das Ermittler-Trio, schon vergessen?» Fabia strahlte sie an.

«Da ist mir etwas entgangen», sagte Valérie. Hatte sie nicht einen Anflug von Eifersucht aus Fabias Stimme gehört? Gut möglich, dass Oliwia Marias Mitarbeit sie störte. «Ist sicher auf Schulers Mist gewachsen. Stille Wasser sind tief.» Valérie sah, wie Fabia auf die Kaffeemaschine starrte. «Bediene dich. Wie läuft es bei dir zu Hause?»

«Ganz gut. Michael entwickelt sich zum perfekten Hausmann, und es macht ihm nicht einmal viel aus. Er verbringt die Tage jetzt öfter auf den Spielplätzen. Ich glaube, es ist ihm wohl dabei. Wahrscheinlich hat er seit Anfang unserer Ehe solch väterliche Qualitäten. Mir sind sie bloss nie aufgefallen. Michael ist zufrieden, und wenn ich Feierabend habe, steht immer etwas Leckeres auf dem Tisch. Er wäscht sogar die Kleider und bügelt. Ich bin froh, haben wir uns für diese Lösung entschieden. Er schaut zu den Mädchen, und ich bringe den Zaster heim.» Fabia runzelte die Stirn. «Werden wir eine Fahndung herausgeben?»

«Wir kommen nicht darum herum. Doch ich würde es morgen gern mit Oliwia Maria besprechen.»

«Die hat dich ganz schön eingenommen.»

«Warum meinst du?» Valérie wollte nichts auf ihre Kollegin aus Sankt Gallen kommen lassen.

«Was hat sie bislang herausgefunden, was wir nicht auch gekonnt hätten? Ihr Schwerpunkt konzentriert sich auf Sexualdelikte. Unser Fall hat damit nichts zu tun. Und wie will sie sich in etwas Religiöses einfühlen, wenn sie sich selbst als Atheistin bezeichnet? Sie ist Profilerin und tritt auf der Stelle.»

«Erste Priorität hat Serina Dahlberg», wich Valérie aus und tippte in der Suchmaschine den Namen ein. «Die Festnetznummern werden immer weniger.» Sie hatte damit rechnen müssen, die Psychotherapeutin nicht auf Anhieb zu finden. Sie übergab den Auftrag Fabia. «Bis morgen müssen wir in Erfahrung bringen, wo sie heute wohnt und arbeitet.»

«Okay, werde ich machen.»

Valérie griff zum Telefon auf ihrem Pult. «Ich habe noch etwas zu erledigen. Du entschuldigst mich.»

Fabia schlenderte betont gemächlich zur Tür. «Bis morgen dann.»

Valérie wählte die Nummer des Schwyzer Spitals und verlangte dort nach Lazarus Kreienbühl. Man sagte ihr, dass der Patient nach Einsiedeln verlegt worden war, ohne den Grund zu nennen. Sie wurde direkt weitergeleitet, bis sie ihn am Telefon hatte.

«Valérie Lehmann, Sie erinnern sich?»

«Selbstverständlich.»

«Alles okay bei Ihnen?»

«Das Loch im Kopf wurde genäht. Bis morgen bleibe ich im Spital.» Er räusperte sich. «Sie haben einen Türwächter aufgeboten?»

«Es ist für Ihre Sicherheit. Solange wir nicht wissen, wer Ihnen das angetan hat, werden Sie bewacht.»

«Hat es mit den Morden der letzten Tage zu tun?»

«Zu laufenden Ermittlungen kann ich Ihnen nichts sagen. Ich würde Ihnen aber gern ein paar Fragen stellen.»

«Wenn ich helfen kann.»

«Ist es Ihnen recht, wenn ich diese am Telefon stelle, oder soll ich besser vorbeikommen?» Valérie hätte es vorgezogen, Kreienbühl während der Befragung in die Augen zu sehen. Sie entschied sich dennoch für die einfachere Variante und hoffte auf Verständnis. Ohne seine Antwort abzuwarten, stülpte sie den Kopfhörer über ihre Ohren, damit sie die Hände für das Schreiben frei hatte.

«Ich liege hier sehr bequem», sagte Kreienbühl. «Sie können mich fragen.»

«Leben Sie schon lange in Schwyz?»

«Seit meiner Kindheit. Ich bin 1960 in Schwyz geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Die Ausbildung zum Primarlehrer machte ich allerdings in Luzern. Aber nach Seminarende fand ich schnell eine Stelle in der Gemeindeschule an der Herrengasse. Mit sechzig liess ich mich frühzeitig pensionieren. Seither arbeite ich sporadisch bei Aldi als Spediteur.»

Valérie tippte alles in ihren PC. «Gab es in Ihrem Leben Ereignisse, die Sie geprägt haben?»

«Das ist eine seltsame Frage.» Kreienbühl seufzte hörbar.

Valérie umtrieb noch immer eine allfällige Verbindung zu den drei Ermordeten. «Sie sagten, dass Sie Primarlehrer waren. Haben Sie auch Religionsunterricht erteilt?»

Am anderen Ende der Leitung war es still.

«Herr Kreienbühl?»

«Ich habe Sie schon verstanden», kam es weniger freundlich zurück.

Valérie ahnte, ein heikles Thema angeschnitten zu haben. Kreienbühls Zurückhaltung bewies ihr aber, dass sie nicht falschlag. «Sagen Sie es mir?»

Kreienbühl wollte mit der Antwort offenbar nicht herausrücken.

Valérie ging in die Offensive. «Kennen Sie Pfarrer Armando Negroni?»

Ein Klick, dann der Piepton. Kreienbühl hatte aufgelegt.