«Es gibt ein kleines Licht am Ende des Tunnels», sagte Valérie. «Es ist einiges zusammengekommen. Anhand der identischen Fingerabdrücke im ‹Heilig Hüsli›, in der Hurden-Kapelle und auf dem Amulett, welches Pfarrer Wallimann aus Merlischachen bekommen hatte, erhärtet sich der Verdacht, dass die von uns gesuchte Person Elisha Fox heisst.»
«Darf ich dazu etwas einwenden?» Oliwia Maria, die sich neben Valérie gesetzt hatte, tat seit ihrem Eintreffen vor zehn Minuten extrem nervös. Sie machte Notizen, schüttelte immer wieder den Kopf, als wäre sie mit diversen Texten, die sie las, nicht einverstanden.
«Ja, bitte.» Valérie wandte sich ihr zu.
«Die Fingerabdrücke mögen übereinstimmen. Dies beweist jedoch nicht, dass Fox auch der Mörder ist.»
«Es gibt eine Verbindung zu Serina Dahlberg», meldete sich nun Louis zu Wort. «Noch kennen wir ihre aktuelle Adresse nicht, aber ihr Name taucht auf der Liste auf, die wir in Bezug auf die Mokka-Fahrer erstellt haben. Auf ihren Namen ist ein schwarzer Opel Mokka, Baujahr 2019, zugelassen. Niemand von den übrigen Mokka-Besitzern hat mit Fox zu tun. Natürlich sind es vorerst blosse Spekulationen, dass Fox Frau Dahlbergs Wagen dazu verwendet hatte, das Kreuz aus der Hurden-Kapelle zu holen. Ein dunkler Opel Mokka wurde allerdings auch im Zusammenhang mit dem Mord an Thomas Haltiner gesichtet.»
«Das sind zahllose Indizien», insistierte Oliwia Maria. «Noch haben wir kein echtes Motiv, von klaren Beweisen ganz zu schweigen. Und was sagt das schon aus, wenn Serina Dahlberg Fox kennt? Fox war mal ein Patient von ihr. Das muss Jahre her sein. Warum sollte er sich ihres Autos bedienen?»
«Vielleicht sind sie mehr als Patient und Therapeutin», fuhr Fabia dazwischen, die für Louis Stellung bezog.
«Die Fakten fehlen», sagte Oliwia Maria in einem unmissverständlichen Ton.
«Du hast mich nicht aussprechen lassen.» Louis blieb nach wie vor beherrscht. «Im Rahmen der Vermisstenmeldung von Armando Negroni haben wir eine Zeugenaussage. Eine Frau hat den Pfarrer am Tag, als er verschwand, am frühen Montagnachmittag des zwanzigsten Septembers, bei der Bushaltestelle ‹Alte Post› in einen schwarzen SUV einsteigen sehen.»
«Einsteigen?», fragte Oliwia Maria.
«Oder er wurde hereingerissen», sagte Louis. «Aus ihrer Perspektive war es schwierig, den Unterschied zu erkennen.»
«Das ist so», meldete sich der Kollege neben Louis. «Die Zeugin wurde mit verschiedenen Automarken, welche kleine Geländewagen im Programm haben, konfrontiert. Sie konnte den Mokka klar von den anderen Wagen unterscheiden.»
«Somit können wir erst heute von ein und demselben Fall sprechen», sagte Louis.
«Aufgrund eines schwarzen Mokkas?» Oliwia Maria war nicht einverstanden. «Das ist zu wenig Material.» Sie sah zu Valérie hinüber. «Du hattest gestern ein aufschlussreiches Gespräch mit Lazarus Kreienbühl.»
«Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen.» Valérie wechselte einen Blick mit Vischer. Seit Oliwia Maria im Team mitwirkte, hatte er sich rar gemacht. «Kreienbühl ist ein potenzielles Opfer. Der Täter wird zurückkommen. Deshalb mussten wir ihn unter Polizeischutz stellen.»
Oliwia Maria nickte. «Er wurde in seiner ‹Arbeit› gestört. Ich bin mir genauso sicher wie Valérie, dass er es noch einmal versuchen wird. Es gehört zu seinem Plan. Wir werden Kreienbühl weiterhin beaufsichtigen müssen. Auf diesem Weg könnte der Täter in die Falle tappen.»
«Ich habe Kreienbühl gestern Abend ein paar Fragen gestellt, die ihm nicht passten», fuhr Valérie fort. «Als der Name Armando Negroni fiel, klemmte er das Telefongespräch ab.»
«Du bist dann nach Einsiedeln gefahren.» Dies war eher eine Feststellung als eine Frage von Vischer.
«Ich fuhr ins Spital», antwortete Valérie. Zanetti war nicht erpicht darauf gewesen, Kreienbühl spätabends aufzusuchen. Selbst mit einer richterlichen Verfügung hätte Valérie den Patienten nicht einfach belästigen können. Schliesslich hatte Kreienbühl aber für ein Gespräch am Krankenbett eingewilligt. «Kreienbühl kannte Pfarrer Negroni. Anfang 1981 sei er ihm zum ersten Mal begegnet.»
«In welchem Zusammenhang?», fragte Louis.
«Darüber hat er fast nicht sprechen können.» Valérie erinnerte sich, wie Kreienbühl sich aufgeregt hatte, als der Name Negroni fiel. «Man habe den Pfarrer aufgrund eines Ereignisses von Einsiedeln nach Schwyz kommen lassen.»
Alle Augen waren auf sie gerichtet.
«Er sprach von einer Familie, die 1980 von Norditalien herkommend nach Schwyz gezogen war. Anscheinend sei die Frau schwer krank gewesen. Pfarrer Negroni, selbst ein Italiener, sei vom damaligen Pfarrer nach Schwyz gebeten worden. Lazarus Kreienbühl, der Italienisch als Freifach im Seminar gelernt hatte, wurde ebenfalls zugezogen. Er sagte, als Übersetzer. Kreienbühl hatte Mühe, über die damaligen Vorfälle zu sprechen. Pfarrer Negroni habe sich damals für einen Umzug der Familie von Schwyz nach Einsiedeln eingesetzt und in der Nähe des Etzelpasses ein kleines Haus für sie gefunden.»
«Wie lautet der Name der Familie?», fragte Fabia beiläufig.
«Den hatte er vergessen.»
«Gut, das sollte nicht schwierig sein, ihn herauszufinden», meinte Fabia. «Wenn die Familie illegal in Einsiedeln war, gibt es vielleicht Unterlagen über sie in Schwyz.»
«Warum illegal?» Louis verschränkte die Arme.
Fabia echauffierte sich. «Niemand kennt ihren Namen. Ist doch komisch, oder?»
«Hat Kreienbühl gesagt», wollte Oliwia Maria wissen, «um welches Ereignis es ging?»
«Nein», antwortete Valérie. «Er blockte ab.»
«Das ist unheimlich», fand Fabia. «Warum schweigen alle? Jemand muss doch Kenntnis davon haben.»
«Es gibt da noch etwas Erwähnenswertes.» Vischer hatte nun von allen die volle Aufmerksamkeit. «Ich habe mich über die Zeugin Chiara Cottichini schlaugemacht.»
Valérie hörte es zum ersten Mal. Sie hatte mit Chiara Cottichini gesprochen und keine Ahnung, weshalb Vischer ihr nichts von einer weiterführenden Recherche mitgeteilt hatte.
«Cottichini ist der Name ihres Ex-Mannes. Sie selbst hiess ledig Negroni.»
«Was?» Valérie renkte sich kaum mehr ein. «Hat sie etwas mit Pfarrer Negroni zu tun?»
«Armando ist der Bruder ihres Vaters.»
Valérie stiess Luft aus. Wie hatte sie es übersehen können? Dabei war sie sich bei der Befragung so sicher gewesen, dass mehr hinter ihrem angeblichen Buchprojekt steckte, als Chiara Cottichini erzählt hatte. Sie hätte darauf beharren müssen, sie vernehmungskonform auszuhorchen. Da sie lediglich als Zeugin galt, hatte Valérie sich zurückgehalten. Eine Geschichte mütterlicherseits? Vielleicht lief alles auf der Schiene ihres Vaters ab. War sie deshalb in der Schweiz geblieben? Hatte sie Dinge herausgefunden, die im Zusammenhang mit ihrem Onkel standen?
«Langsam lässt sich Vages erkennen», sagte Oliwia Maria. «In diesem Haus am Etzel muss etwas geschehen sein, in das Pfarrer Negroni, Dr. Haltiner und wahrscheinlich auch Lazarus Kreienbühl involviert waren.»
«Carla Benizio», sagte Valérie, «hat zudem in einem Schrank ein Kleidungsstück für ein vier- oder fünfjähriges Kind gefunden.»
«Das zeugt gewiss von einem grauenvollen Ereignis», bemerkte Fabia, «welches ein Kind erlebt haben musste.»
«Wie kommst du darauf?», fragte Louis. «Wegen ein paar zurückgelassener Hosen?»
«Stell dir vor … Zählen wir zu den fünf Jahren des Kindes, dem die Hose gehörte, vierzig Jahre dazu, kommen wir zum Alter von fünfundvierzig, was wiederum auf Elisha Fox zutrifft.»
Valérie sah Oliwia Maria an, dass sie mit dieser Aussage nicht einverstanden war. «Mir passen die Umsiedelung der Heiligenstatuen und all dem religiösen Gesocks nicht ins Bild», sagte sie prompt.
«Wie nennst du es?», fuhr Fabia empört dazwischen. «Wir sprechen hier von einem Heiligenbild und dem Kruzifix.»
«Entschuldige, es war nicht meine Absicht, dich zu verletzen.» Oliwia Maria schob ihre Brille ins Haar. «Noch fehlt uns der Konsens zu den drei ermordeten Männern. Ich befürchte, dass Thomas Haltiner eine Art Stellvertreter für seinen Vater war.»
«Das ist weit hergeholt», fand Louis.
«Ist nur mal ein lautes Denken.»
Sie befanden sich längst nicht am Ziel. Valérie verteilte neue Aufgabenblöcke, während sie auf das aufgeschlagene Bild des Kruzifixes aus der Hurden-Kapelle sah. Sie musterte den sterbenden Jesus und dachte an die Nacht des Karfreitags, an das Raffeln im Kirchturm, die mit violetten Tüchern abgedeckte Monstranz – an sämtliche Klischees, die ihr in den Sinn kamen, um dem Gott der Katholiken eine Gestalt zu verleihen. «Fabia, dir würde ich gern Chiara Cottichini übergeben. Vor dem Mittag findest du sie auf dem Etzel. Sie besucht dort um elf Uhr die Meinrad-Kapelle und geht mit ihrem Hund Gassi. Für die Frau ist es ein tägliches Ritual. Sprich sie auf ihren Verwandten an, auf ihr Buchprojekt und was dahintersteckt. Louis, du übernimmst Serina Dahlberg. Sie muss ja irgendwo sein. Und an alle: Elisha Fox und Pfarrer Negroni haben noch immer Priorität Nummer eins. Aber wenn wir Fox finden, finden wir möglicherweise auch den Pfarrer.»
Es klopfte. Die Sekretärin brachte einen Umschlag vorbei.
Valérie öffnete ihn. «Die Resultate aus dem Labor sind eingetroffen. Pfarrer Negronis Fingerabdrücke konnten im Haus auf dem Etzel sichergestellt werden.» Valérie stiess Atem aus. «Wenigstens haben wir nun Gewissheit.»
***
Ob Fabia in Chiara Cottichini jemanden gefunden hatte, die ihre Ansichten über den christlichen Glauben teilte? Sie durfte sich nicht darüber äussern. Dennoch fühlte sie sich mit der Frau verbunden, als sie sich in der Kapelle Sankt Meinrad neben sie setzte. Das war sie also, von der Valérie behauptete, sie sei labil. Vielleicht war sie bloss sehr sensibel.
Fabia holte ihren Ausweis hervor und zeigte ihn. Sie befanden sich allein in der Kapelle, auf deren linken Altarseite der heilige Meinrad fehlte.
Chiara Cottichini warf Fabia einen gehetzten Blick zu. «Schon wieder Polizei? Was wollen Sie von mir? Und wie ist Ihr Name? Ich habe ihn nicht lesen können.»
«Fabia Ulrich», sagte sie und betonte stolz, «Leutnant der Kantonspolizei Schwyz. Mit Frau Lehmann haben Sie bereits gesprochen. Es gibt ein paar Fragen, die noch nicht geklärt sind. Zu diesem Zweck bitte ich Sie, mich vor die Tür zu begleiten.»
Chiara Cottichini erhob sich widerstandslos. Draussen wehte ein kühler Wind. Der Herbst hatte Einzug gehalten und zeigte dies in den bodennahen Nebeln, die sich wie Spinnweben über die Wiesen legten und das Grün verblassen liessen.
Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, preschte ein braun-schwarz-weisser Hund um die linke Ecke der Kapelle. Er war angebunden, was verhinderte, wie ein Berserker auf Fabia und Chiara Cottichini loszustürzen. Sie setzten sich auf die Bank, und Fay, deren Name gefallen war, renkte sich wieder ein, nachdem sie ein paar Streicheleinheiten bekommen hatte. Fabia liebte Hunde. Sie war auf einem Bauernhof im Bisistal geboren worden und mit Tieren aufgewachsen. Sie strich der Australian-Shepherd-Hündin über das glänzende Fell und kraulte ihr den Hals. Schnell hatte sie damit Chiara Cottichinis Empathie gewonnen.
«Was möchten Sie wissen, was ich nicht längst Ihrer Kollegin mitgeteilt habe?» Chiara Cottichini liess ihre Hündin von der Leine.
Fabia sah ihr nach, wie sie übermütig Richtung Restaurant rannte. «Wir arbeiten noch immer am gleichen Fall. Auf Einzelheiten darf ich nicht eingehen. Aber Ihr lediger Name ‹Negroni› taucht im Zusammenhang mit einem verschollenen Pfarrer auf – mit Armando Negroni. Wir wissen mittlerweile, dass er Ihr Onkel ist.»
«Armando, ja. Ich habe davon gelesen. Glauben Sie mir, ich weiss es auch erst seit gestern, dass er der gesuchte Pfarrer ist.»
«Von wem haben Sie es erfahren?»
«Aus der Zeitung, wie soeben gesagt.»
Fabia zweifelte an ihrer Aussage. «Dann darf ich es als Zufall bewerten, dass ausgerechnet Sie wegen des Kreuzes in der Kapelle an uns gelangt sind?»
«Ich kann Ihnen nicht folgen.» Chiara Cottichini unterstrich ihr Gesagtes mit einem verkniffenen Mund.
«Ihr Onkel, Frau Cottichini, umrankt ein grosses Geheimnis. Solange wir es nicht lüften, erschwert es uns die Möglichkeit, ihn zu finden. Und vielleicht ist es der Grund, weshalb er verschwunden ist.»
«Was weiss ich, wo er sich aufhält?»
«Nach den neuesten Ermittlungen wurde er entführt.» Fabia wandte ihren Blick nicht von der Frau ab. Diese war nervös, was Fabia an ihren fahrigen Bewegungen erkannte. «Können Sie mir etwas über ihn erzählen? Ihr Vater und er kamen 1957 mit Ihren Grosseltern, Frau Cottichini, in die Schweiz. Ihr Onkel studierte Theologie und wurde Priester. Was geschah mit Ihrem Vater?»
«Er ging 1960 zurück nach Bologna. Aber das ist gewiss nicht die Frage. Papà war ein guter Mensch. Armando besuchte uns sporadisch. Erst dadurch erfuhr ich, dass ich einen Geistlichen zum Onkel habe.»
«Geht es in Ihrem Buch um diese Familiengeschichte? War die mütterliche Seite ein Vorwand, um nicht zugeben zu müssen, dass Sie sich in Tat und Wahrheit mit der Familie Negroni befassen?»
«Wer hat Ihnen diesen Floh ins Ohr gesetzt?» Chiara Cottichini verdrehte die Augen.
Fabia wollte es nicht kommentieren. «Sind Sie wegen Ihres Onkels in der Schweiz geblieben?»
«Ihre Phantasie artet aus, Frau Ulrich.»
Fabia durfte nicht zu viel sagen. Dennoch hielt sie es für nötig, Chiara Cottichini in ihr Wissen einzubinden. «Im November 1981 geschah in einem Haus unweit von hier etwas Furchtbares, in das Ihr Onkel involviert war. Kennen Sie Details darüber?»
«1981, sagten Sie? Ich bin 1979 geboren. Ein weiterer Kommentar dazu erübrigt sich.»
«Falls Sie im Leben Ihrer Familie forschen, sind Sie vielleicht auch auf diese Geschichte gestossen. Wenn Pfarrer Negroni Sie besucht hat, wird er über gewisse Dinge gesprochen haben.»
«Ich weiss nicht, was Sie mit ‹gewisse Dinge› meinen.»
«Bitte, es ist wichtig. Das Leben Ihres Onkels könnte, falls er noch lebt, in grosser Gefahr sein.»
«Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir leid.» Chiara Cottichini erhob sich.
Fabia liess nicht locker. «Vielleicht haben Ihre Eltern später etwas darüber erzählt.»
Die Sekunden verstrichen. Chiara Cottichini stand unschlüssig da. Fabia sah ihr an, wie sie mit sich selbst kämpfte. An ihrer Hündin schien sie das Interesse verloren zu haben. Fay war zurückgekehrt und strich schwanzwedelnd um ihre Beine.
«Also gut, ja …» Sie seufzte tief und setzte sich wieder hin. «Es gab da mal etwas, über das hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Ich checkte es jedoch erst, als ich ein Teenager war. Armando zog sich wie ein rotes Tuch latent durch unseren Familienalltag. Meine Mutter ist eine sehr aufgeschlossene Frau. Sie hat in Mailand Wirtschaft studiert. Als sie meinen Vater kennenlernte, prallten zwei Gegensätze aufeinander. Die Familie meines Vaters ist streng katholisch, vor allem meine Grossmutter. Das färbte verständlicherweise auf ihre beiden Söhne ab. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte mein Vater auch Priester werden sollen.»
Fabia nahm einen Schnellhefter aus ihrer grossen Tasche. Sie blätterte ihn durch, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. «Hier steht, dass Pfarrer Negronis Mutter, also Ihre Grossmutter, gebürtige Schweizerin ist.»
«Was hat das mit der Herkunft eines Menschen zu tun, wenn er ein Fanatiker ist?»
«War Ihre Grossmutter eine Fanatikerin?»
«Sie hat auch mein Leben geprägt.» Tränen kullerten ihr plötzlich über die Wangen.
«Deshalb diese Religiosität?» Fabia griff nach ihrer Hand. «Ich kann Sie verstehen. Ich bin auch katholisch aufgewachsen und bin ebenso wie Sie sehr gläubig. Ohne meinen Glauben hätte ich vieles nicht gemeistert in meinem Leben.» Fabia brach abrupt ab. Sich niemals über eigene Emotionen äussern war ein Gebot, das sie in den letzten Jahren verinnerlicht hatte. Sie hätte neutral bleiben sollen. Andererseits gewann sie Chiara Cottichinis Vertrauen, was ihr die Zunge lösen würde. «Erzählen Sie mir über Ihren Onkel.»
Chiara Cottichini lehnte sich zurück und liess ihren Blick über die mystisch angehauchte Landschaft schweifen. «Man sagte, dass er magische Kräfte habe und über Energien verfüge, mit denen er Menschen heilen könne.»
«Sie selbst haben es auch mitbekommen?» Fabia ahnte, dass sich hinter Chiara Cottichinis Worten etwas Tiefgründigeres verbarg.
«Nonna hatte mich eines Abends, als sie bei uns zu Besuch war, dabei ertappt, wie ich mich vor dem Spiegel in meinem Zimmer berührte und es dabei genoss. Sie hat nichts gesagt, nur gestarrt. Als Armando ein paar Tage später bei uns auftauchte, führte sie ihn zu mir. Ich gehe davon aus, dass sie ihn wegen dieses Vorfalls hat kommen lassen.»
Fabia fröstelte, während schreckliche Gedanken durch ihren Kopf jagten. «Was hat er mit Ihnen gemacht?»
Chiara Cottichini verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. Das Schluchzen schüttelte ihren Körper durch. «Als ich Pino, meinen Ex-Mann, kennenlernte, krempelte ich mein Leben komplett um. Alles kehrte sich ins Gegenteil, als wäre es ein teuflischer Plan. Ich nahm Drogen, um das, was geschehen war, zu vergessen. Wir hatten auf einmal viel Geld und gaben es für alles Mögliche aus. Es war, als hätte ich mir mit dem Luxus eine neue Seele kaufen können. Es ist mir tatsächlich gelungen … bis dass der Krebs kam.»
Fabia schwieg. Valérie hatte auch das in den Rapport geschrieben. Brustkrebs. Über diese Sache hatte Chiara Cottichini bei einem früheren Zeitpunkt bereits gesprochen. «Was hat Pfarrer Armando Negroni mit Ihnen gemacht?», wiederholte Fabia ihre Frage.
Chiara Cottichini streckte ihren Körper und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Er hat das Böse aus meinem Leib geholt.»
***
Das psychiatrische Sanatorium «Anima Mea» lag an bester Lage über dem Vierwaldstättersee in der Nähe von Brunnen und war ein Bau aus der Jahrhundertwende. Die Fassade wie mit rosa Puder angehaucht, ein Turm, der das Satteldach optisch entzweite, und eine pompöse Terrasse rundeten das Harmonische dieser ausserordentlichen Architektur ab. Der weitläufige Park lud zum Verweilen ein. Im Hochsommer musste im Schatten alter Bäume ein wahres Paradies sein. Jetzt breiteten sich die Blätter, vom letzten Sturm fortgetragen, wie ein Teppich über die Wiese aus.
Louis fuhr über die Rampe der Zulieferung. Hinter der Klinik befand sich der Eingang. Er hatte Serina Dahlberg auf der «Ärzteliste» der Website gefunden und sich mit seinem Kollegen Leo auf den Weg gemacht. Er stellte seinen Wagen in der Nähe einer Betonmauer ab, welche einen grossen Parkplatz umschloss. Später läutete er an der verschlossenen Glastür, die augenscheinlich vor unbefugtem Zutritt schützen sollte. Louis vermutete, eher vor der Flucht von innen.
Das Foyer wirkte steril und der dunkelbraune Empfangstresen wie ein Schiffsrumpf auf gefliesten weissen Böden.
«Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?», grüsste die Sekretärin, wahrscheinlich mit ihrem Standardsatz. Hinter dem schweren Möbel sah sie etwas verloren aus.
«Wir würden gern mit Frau Dr. Dahlberg sprechen.» Louis wies sich aus und nannte seinen Namen.
«Darf ich erfahren, in welcher Angelegenheit?»
«Das möchten wir ihr gern persönlich mitteilen.»
«Oh …» Die Sekretärin widmete sich dem Bildschirm ihres Computers. «Sie ist auf Station sechs. Aber da können Sie nicht einfach hin.»
«Bestellen Sie sie bitte an den Empfang.»
Die Sekretärin wählte eine Nummer auf ihrem Telefon. «Ich werde sie gleich herbeten.»
Louis ging Richtung Cafeteria, während sein Kollege beim Eingang stehen blieb. Es roch nach Kaffee. An den Tischen sassen wenige Leute. Klassische Musik berieselte den Raum.
Serina Dahlberg war von ausgemergelter dünner Gestalt, und sie hatte winzige Hände und vermutlich ebenso kurze Füsse. Vermutlich fand sie ihre Kleider in der Kinderabteilung. Dennoch ging von ihr etwas Energisches aus. Louis schätzte sie auf Mitte fünfzig. Ihr kurzes Haar, das einmal schwarz gewesen sein musste, wurde von silbergrauen Strähnen durchzogen. Ein gräulich blaues Augenpaar hatte sich auf Louis gerichtet, und er wusste nicht, ob sie ihn ansah oder durch ihn hindurch. Ihr Wesen war nicht zu fassen.
«Sie wollten zu mir?» Sie liess die Hände in den Taschen ihres Arztkittels verschwinden.
«Wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen.»
Ihr Mund öffnete sich, schnappte wieder zu. Sie sah aus wie ein Fisch mit Atemnot. «Mit welcher Begründung?»
Louis reichte ihr eine schriftliche Vorladung. «Wir hätten sie Ihnen gern zugesandt. Aber die Zeit eilt uns voraus. Bitte begleiten Sie uns auf den Sicherheitsstützpunkt. Wir werden Sie nach der Befragung zurückfahren.»
Sie las das Schriftstück. Ihre Augen weiteten sich. «Brauche ich einen Anwalt?»
«Wir werden Ihnen bloss ein paar Fragen stellen.»
«Dazu dieser Aufwand?» Serina Dahlberg runzelte die Stirn. «Kann ich mich wenigstens umziehen?»
«Sie haben sicher einen Mantel. Wenn Sie mir sagen, wo sich dieser befindet, wird ihn mein Kollege holen.»
Serina Dahlberg sträubte sich nicht dagegen. Sie hatte sicher gelernt, dass sich den Dingen zu widersetzen nichts brachte und sie die Lage abschätzen musste, bevor sie rebellierte. Sie meldete sich beim Sekretariat ab.
Auf dem Weg nach Biberbrugg sprach sie kein Wort.
Mit einer scharfen Bremsung fuhr Louis auf dem Gelände des SSB vor und wunderte sich, Carlas Kleinwagen anzutreffen. Er sah, wie sie ausstieg und stehen blieb.
Während Leo Serina Dahlberg zum Eingang begleitete, nahm Louis Carla zur Seite. «Was hast du hier zu suchen?» Er freute sich, sie zu sehen, fand den Moment jedoch nicht passend.
«Ich wollte dich zum Mittagessen abholen.»
«Das ist lieb von dir. Aber es geht jetzt nicht. Ich habe eine Befragung.»
«Die Frau dort?» Carla wies Richtung Eingang, hinter dem die Psychotherapeutin verschwand. «Die kenne ich.»
«Du kennst sie?» Louis war baff.
«Sie ist die Assistentin von Dr. Frigo, der in Einsiedeln als Psychiater praktiziert.»
«Du musst sie verwechseln. Sie ist eine Doktorin.»
Carla tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. «Mein Erinnerungsvermögen ist messerscharf. Sie hat mich letzthin in die Villa des Arztes gelassen, als ich ihn besuchte. Kommt dazu, dass man eine Physiognomie wie ihre nicht einfach vergisst. Sie sieht aus wie ein unterernährter Junge.»
«Hat sie ihren Namen genannt?»
«Nein, den allerdings kann ich dir nicht sagen.» Carla hängte sich bei ihm ein. «Soll ich uns einen Tisch in unserem Lieblingsrestaurant reservieren?»
«Tut mir leid. Es geht nicht. Unser Fall fordert uns.»
«Hast du etwas dagegen, wenn ich allein hinfahre?»
Louis küsste sie auf den Mund. «Wir können heute Abend etwas zusammen kochen», sagte er und wusste im selben Augenblick, dass es ein leeres Versprechen war.
***
Valérie richtete das Mikrofon. Sie hatte vorgeschlagen, die Befragung von Serina Dahlberg zu übernehmen, während Louis das Protokoll führte. Er hatte Valérie über Carlas Feststellung vorab informiert.
«Frau Dr. Dahlberg.» Valérie hatte den Eindruck, vor einer Ausgehungerten zu sitzen. Nichts an ihr war weiblich. Ein ausgezehrtes Androgyn ohne Fett und Muskeln, mit Armen, die wie Tentakeln an ihr herabhingen. Über ein fahles Gesicht sträubten sich die Haare, waren an einigen Stellen ausgedünnt. «Wissen Sie, warum Sie hier sind?»
«Sie werden es mir sicher gleich sagen.» Serina Dahlberg liess ihren Blick pausenlos auf Valérie ruhen. Nichts schien sie aus der Fassung zu bringen.
«Sie sind als Zeugin hier. Wir ermitteln in einem Fall, in dem es um drei Morde geht, und im Fall einer vermissten Person. Der Kreis der Verdächtigen zieht sich enger um einen Ihrer ehemaligen Patienten.»
«Ist das die Ausgangslage?» Serina Dahlberg hinterliess einen ruhigen Eindruck, doch der Schein täuschte darüber hinweg, dass sie sehr nervös war. Sie riss Häutchen an ihren Fingernägeln auf.
«Sie praktizierten bis 2002 in der Klinik von Professor Joller in Lachen. Ist das richtig?»
«Bis 2005. Ich verliess die Klinik, als der Nachfolger von Professor Joller, sein Sohn übrigens, ohne meine Hilfe die Klinik weiterführen konnte.» Dabei ging ein Ruck durch ihren Körper.
«Das war vor sechzehn Jahren. Wohin gingen Sie danach?»
«Ich war fünf Jahre im Schwarzwald und drei Jahre am Bodensee. 2013 kehrte ich in die Innerschweiz zurück. Seit acht Jahren praktiziere ich als Psychotherapeutin im Sanatorium ‹Anima Mea› in Brunnen.»
«Wie kommt es, dass Sie gleichzeitig bei Dr. Frigo angestellt sind – als Arztgehilfin?»
Es war ein kaum wahrnehmbares Flackern in ihren Augen, welches eine erste Unsicherheit verriet. Serina Dahlberg schluckte leer, doch dann schien sie sich zu sammeln. «Dr. Frigo befindet sich mitten im Aufbau seiner eigenen Klinik. Ich habe mich bei ihm beworben und arbeite heute schon vierzig Prozent bei ihm, betreue auch Patienten von ausserhalb. Aber das soll vorerst nicht an die grosse Glocke gehängt werden.»
«Und warum Praxisassistentin und nicht Psychotherapeutin im Ärzteteam?» Valérie wies auf die ausgedruckte Website des Sanatoriums «Anima Mea». «Sie sind unter den Ärzten aufgeführt.»
Serina Dahlberg räusperte sich. «Noch halte ich mich im Hintergrund.»
«Weiss die Führung des Sanatoriums über Ihre zweigleisige Tätigkeit?»
«Selbstverständlich.»
«Auf Ihren Namen, Frau Dr. Dahlberg, ist ein Fahrzeug der Marke Opel Mokka zugelassen.»
«Ein zuverlässiges Auto.» Über ihr mageres Gesicht huschte ein Lächeln, was sie unwesentlich schöner machte.
«Sind Sie die einzige Person, die den Wagen fährt?»
Ihr «Ja» kam mit Verzögerung.
«Haben Sie den Schlüssel bei sich?»
«Zufällig in meiner Manteltasche.» Serina Dahlberg legte ihn unaufgefordert auf den Tisch, wo ihn Louis entgegennahm. «Er steht auf dem Parkplatz vor dem Sanatorium.»
Louis verschwand vor die Tür.
«Wir müssen Ihr Auto auf Spuren untersuchen. Wir haben verschiedene Hinweise, dass Ihr Mokka im Zusammenhang mit den Verbrechen steht, in denen wir ermitteln.»
«Wie ist das möglich?»
«Kennen Sie Elisha Fox?»
Ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht. «Er war mein Patient in Lachen.»
«Wie war er?»
Serina Dahlberg zog die Augenbrauen hoch und räusperte sich erneut. «Das fällt unter meine ärztliche Schweigepflicht.»
«Wir werden Sie davon entbinden müssen, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht.»
«Dann werde ich eine entsprechende Anweisung gern abwarten.»
«Es geht um einen Dreifachmord», sagte Valérie leicht perplex. Sie hatte keine andere Antwort, so doch etwas mehr Verständnis erwartet. «Um einen versuchten Mord und um eine Entführung. Sagt Ihnen der Name Armando Negroni etwas?»
«Nein, nie gehört. Wer soll das sein?»
«Er ist der vermisste Pfarrer.»
Valérie war nicht zufrieden. Als es klopfte und Louis zurückkam, war sie erleichtert. «Der Mokka wird vom KTD in Brunnen abgeholt», sagte er und legte zwei Bescheinigungen auf den Tisch.
Valérie griff danach, las sie durch, war überrascht, wie schnell der Richter entschieden hatte. Sie wandte sich an Serina Dahlberg. «Sie müssen uns alles, was Sie über Elisha Fox wissen, erzählen. Sie können es gleich tun, oder wir geben Ihnen einen neuen Termin.»
Serina Dahlberg stiess sichtlich verärgert Luft aus. «Wegen dieses Wischs?» Sie deutete auf das Blatt Papier, überlegte sich augenscheinlich, dass es wenig Sinn hatte, sich zu wehren, und stiess genervt Atem aus. «Gut, fragen Sie. Dann habe ich es hinter mir.» Von ihrer Beherrschung war nichts mehr zu spüren.
«Vorab ein paar Fragen zu Ihnen. Wo waren Sie am Freitag, den siebzehnten September? Eine Gedankenstütze, es war zwei Tage vor dem Eidgenössischen Bettag.»
Serina Dahlberg holte ihr Handy aus der Tasche, tippte den Kalender an und wischte mit dem Finger darüber. «Ich befand mich im Haus von Dr. Frigo und half ihm, die Bibliothek zu gestalten.»
«War jemand bei Ihnen?»
«Nein, ich war den ganzen Tag allein. Ich staubte Bücher ab und ordnete sie nach Alphabet und Zugehörigkeit ein.»
«Wo befand sich zu der Zeit Ihr Wagen?»
Kleine Pause. «Vor der Villa.»
«Hatte jemand anderer einen Schlüssel dazu?»
Stille. «Nicht, dass ich wüsste.»
«Seit wann sind Sie bei Dr. Frigo … beschäftigt?»
Ein wiederholtes Zögern. «Seit einem Jahr.»
«Kennen Sie seine Patienten?»
Serina Dahlberg liess ein paar Sekunden verstreichen. «Ja, ich kenne sie. Ich führe die Patientenakten.»
«Elisha Fox?»
«Was ist mit ihm?» Serina Dahlberg verschränkte ihre dünnen Arme, was ihr das Aussehen eines Insekts verlieh. Ihr von Natur aus blasser Teint hatte die Farbe von einem weissen Laken angenommen.
«Welche Krankheitsdiagnose hatte er, als er unter Ihre Obhut kam?»
«Er litt unter einer Psychose.»
«Erklären Sie es mir?»
«Er hatte die typischen Symptome, wie paranoides Wahnerleben. Oder Halluzinationen. Es sind Sinneswahrnehmungen ohne reale Reizgrundlage. Der Verdacht bestand, schizophren zu sein. Er wurde mit Medikamenten therapiert. Nach zwei Jahren entliessen wir ihn. Er musste die Medikamente unter Beaufsichtigung seines Hausarztes weiter einnehmen. Später kam er zu uns zurück, und wir versuchten ihn im Rahmen einer Eingliederung in unsere Arbeitswelt aufzunehmen. Er arbeitete als Hilfspfleger in seiner vertrauten Umgebung. Als ich die Klinik verliess, verlor ich ihn aus den Augen.»
«Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört?»
«Nein.»
***
«Das Motiv muss Rache sein», sagte Fabia überzeugt.
Valérie wollte dies noch vorsichtig in den Mund nehmen. Sie hatten sich zu einer weiteren Teamsitzung an diesem Freitag eingefunden. «Noch wissen wir nicht, wo sich Elisha Fox aufhält. Seine ehemalige Mentorin konnte es mir nicht sagen. Ihr Auto befindet sich beim KTD.»
«Und wenn sie lügt?» Fabia steckte sich einen Kaugummi in den Mund.
«Warum sollte sie lügen?», fragte Valérie. «Solange wir keine übereinstimmenden Spuren sichergestellt haben, wird es schwierig sein, ihr etwas nachzuweisen.»
«Und falls es Spuren im Auto gibt?» Fabia liess keine Ruhe, und fast unverschämt kaute sie den Gummi.
«Warten wir die Resultate ab», sagte Valérie. «Vorher können wir nur spekulieren.»
«Als hätten wir es nicht schon immer getan.» Fabia blies den Kaugummi zu einem Ballon auf, bis dieser platzte.
«Hast du eine bessere Idee?» Louis vermochte Fabias zynische Bemerkung offenbar nicht nachzuvollziehen.
«Hier steht», Oliwia Maria verwies auf das neueste Protokoll, «dass Elisha Fox unter einer Psychose litt. Vielleicht wiederholt sich alles.»
«Passt», fuhr Fabia ihr über den Mund. «Er hat während seiner psychotischen Schübe Menschen getötet. Er rächt sich, weil er als Kind missbraucht wurde.»
«Du bringst etwas durcheinander.» Oliwia Maria liess sich augenscheinlich nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah die Sachlage aus zwei Perspektiven – aus der Sicht der Psychologin und der der Fallanalytikerin. «Noch wissen wir nicht, was genau im Haus auf dem Etzel passiert ist. Halten wir uns an die Faktenlage. Bekannt ist, dass im November 1981 in diesem Haus eine Frau unter unerklärlichen Umständen gestorben ist. Da es keine Patientenakte von ihr gibt, kennen wir ihre Krankheit nicht. Dr. Haltiner und Pfarrer Negroni waren mit grosser Wahrscheinlichkeit in die Geschehnisse involviert. Eventuell auch der ehemalige Lehrer Lazarus Kreienbühl. Henry Vischer besucht ihn gerade. Ich habe mit dem behandelnden Arzt vereinbart, dass er Kreienbühl eine weitere Nacht im Spital behält, in der Hoffnung, dieser redet endlich. Falls, was Fabia vermutet, Elisha Fox Zeuge von etwas Furchtbarem geworden und er der Sohn der namenlosen Familie ist, besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass er sich rächt.»
«Aber?» Fabia war nicht zufrieden.
Valérie hätte sie gern in ihre Schranken gewiesen. So aufgebracht hatte sie sie seit Längerem nicht mehr erlebt. Grund war wohl der Druck, der momentan auf allen lastete. Der eine konnte besser, der andere schlechter damit umgehen.
«Mir passt das Bild der Psychose nicht zum kaltblütigen Mord.» Oliwia Maria sah nachdenklich an die Pinnwand mit den Fotos. «Es muss etwas viel Perfideres dahinterstecken. Vischer ist gleicher Meinung. Also sollten wir das Resultat seines Gesprächs abwarten.»
«Parallel dazu würde ich mir gern einmal die Klinik von Dr. Frigo ansehen.» Valérie sah auf die Armbanduhr an ihrem rechten Handgelenk. Halb vier. Sie wandte sich an Fabia. «Begleitest du mich?» Sie hielt inne. «Und bitte, Louis, kläre ab, in welcher Klinik im Schwarzwald und am Bodensee Serina Dahlberg gearbeitet hat. Dann brauchen wir ihr Handy und … nochmals eine Befragung von Mathilda Kälin. Ich bin mir sicher, sie hat uns noch nicht alles gesagt, was sie weiss.»
***
Die Tür quietschte in den Angeln. Der Ton ging ihm durch Mark und Bein. Es hörte sich wie das Aufziehen eines Fallbeils an, und einen Moment glaubte er, die letzte Stunde seines Daseins sei angebrochen.
Armando fühlte sich unwesentlich kräftiger. Er hatte gegessen, Fleisch und Gemüse. Einmal hatte er sogar ein Glas Wein bekommen. Nichts hatte einen Sinn.
Unter dem Türrahmen erschien der Fremde.
«Bald kannst du mitkommen», sagte er, mit einer Stimme, die Armando nicht kannte. «Es ist so weit. Die Dinge sind bereitgestellt. Wie damals. Erinnerst du dich? Wir werden das Ritual durchführen, wie du es getan hast. Nur werden wir allein sein. Du und ich. Ich werde dir assistieren. Wir werden es gemeinsam tun.»
Die Gestalt verschwand, das Rauschen des Umhangs, das Licht von draussen. Der Geruch nach Weihrauch blieb zurück.
Armando ging zur Tür. Es musste einen Weg geben, um dem Schrecklichen zu entkommen. Verzweifelt versuchte er, sich gegen das Türblatt zu stemmen. Es war genauso zwecklos wie die Meinung, hinter den Holzbrettern an der Wand ein Fenster zu finden. Er hatte sich die Finger blutig gekratzt, als er damit begonnen hatte, die Beschläge wegzureissen.
***
Valérie liess den Streifenwagen durch die Allee gleiten wie ein Boot über einen Kanal. Zwischen hohen Pappeln hindurch. Durch einen Tunnel farbiger Blätter, an dessen Ende eine altertümliche Villa in die Höhe wuchs. Im diesigen Licht des vergehenden Tages wirkte sie wie ein verwunschenes Schloss aus dem Mittelalter. Carla hatte sie ihr freundlicher beschrieben. Vielleicht aber lag es an diesem schlechten Wetter, das nicht enden wollte.
«Sieht krass aus», fand auch Fabia. «Und das soll eine Klinik für psychisch Kranke werden? Ha, da kommt man als Gesunder an und verlässt sie als Kranker.»
«Ist sicher aufwendig, ein solches Anwesen instand zu halten. Es soll unter Denkmalschutz stehen.»
«Erstaunlich, für was die Leute sich begeistern und Geld ausgeben.» Fabia drückte die Nase an der Windschutzscheibe platt. «Wollen wir dort wirklich hinein?»
Valérie parkte schmunzelnd unterhalb der Treppen, die links- und rechtsseitig auf eine Terrasse führten. Sie kannte Fabias Hang zur Phantasie und dass ihr diese oft im Weg stand, wenn es galt, Entscheidungen zu fällen. Sie stellte den Motor ab und sah die Fassaden hoch. Hinter den mit Sprossen versehenen Fenstern war es dunkel. Das Haus schien unbewohnt, fast abweisend. Valérie und Fabia stiegen aus. Valérie läutete auf der angebrachten Sonnerie.
Gefühlte fünf Minuten warteten sie auf Einlass.
«Meinst du, er ist zu Hause?» Fabia vermochte nicht, still zu stehen. Sie schritt die Rabatte ab, die sich an der Eingangsseite befand. Die Blumen waren einem hartnäckigen Unkraut gewichen. Die kraftlosen Astern und Dahlien lösten sich in dessen Schatten auf und kämpften vergebens für ihre Daseinsberechtigung. «Da müsste wieder mal ein Gärtner her.»
Der Mann stand plötzlich da. Er hatte die Tür geöffnet und füllte den Rahmen in der Grösse fast aus. Auf seinem Gesicht standen Verwunderung und ein Anflug von Lächeln.
«Valérie Lehmann, meine Kollegin Fabia Ulrich. Wir sind von der Schwyzer Kantonspolizei. Sie sind sicher Dr. Frigo.» Valérie wies sich aus.
«Was verschafft mir die Ehre?» Ein humorvoller Mensch. Er musterte die Besucherinnen. «Ja, der bin ich. Bitte treten Sie ein. Erschrecken Sie nicht. Ich befinde mich mitten im Umbau. Aber es braucht Zeit. Und ehrlich gesagt, habe ich, was das betrifft, zwei linke Hände.»
«Es gibt gute Bauunternehmen», sagte Fabia, nicht auf den Mund gefallen.
Valérie konnte ihre Gedanken nachvollziehen und grinste in sich hinein.
«Für das Gröbste habe ich einen guten Architekten», sagte Frigo. «Aber die Feinarbeit erledige ich gern selbst.» Womit er sich gerade widersprach.
«Wir halten Sie nicht lange auf», sagte Valérie. «Wir möchten bloss ein paar Auskünfte.»
«Treten Sie ein», forderte er sie zum zweiten Mal auf, ohne nach dem Grund zu fragen.
Der Lüster über ihr fiel ihr zuerst auf. Der Staub an den Glasfragmenten schien das Licht zu schlucken. Die Möbel wirkten schwer und verbreiteten eine depressive Stimmung. An den dunklen Wänden hingen Bilder aus einer Zeit, in der man die Porträts der Ahnen gern präsentiert hatte. Heute verströmten sie nicht einmal den Glanz der einstigen Hochblüte.
«Wie Sie sehen, ist noch viel zu tun.» Frigo ging voraus in einen Raum, der einst ein Gesellschaftszimmer gewesen sein musste. Hier hatte er sein Büro und die Bibliothek untergebracht. Mit Büchern, die Serina Dahlberg sortiert haben musste.
Frigo schwang sich hinter sein pompöses Pult im altenglischen Stil. «Was möchten Sie von mir erfahren? Nehmen Sie bitte Platz.» Er wies auf zwei Sessel.
Valérie und Fabia blieben stehen.
«Wir haben Frau Dr. Dahlberg kennengelernt.» Valérie beobachtete ihr Gegenüber, das keine Anzeichen von Überraschung zeigte. «Ihre gute Seele.»
«Ein grosses Glück, dass wir uns begegnet sind. Sobald die Villa renoviert ist, werden wir die Klinik gemeinsam eröffnen.»
«Sie war einst die Mentorin von Elisha Fox. Sagt Ihnen der Name etwas?»
«Selbstverständlich. Er ist einer meiner stationären Patienten.»
Valérie sah sich instinktiv um. «Sie beherbergen Patienten?»
«Die schwierigsten Fälle. Menschen, die sonst nirgends sein können.»
«Frau Dr. Dahlberg sagte uns überdies, dass sie die Patientenakten führe. Von Elisha Fox wusste sie nichts. Sie weiss nicht, dass er hier ist?»
«Gut möglich, dass er noch nicht eingetragen ist.» Valérie fiel sein Zögern auf. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt, schien zu überlegen. «Er ist seit einem halben Jahr bei uns. Ich gebe zu, dass mir der Umbau über den Kopf wächst. Dann vergesse ich, Akten zu kontrollieren. Ich werde mich diesem annehmen und Serina darauf hinweisen.» Er legte eine Pause ein. «Sie arbeitet erst vierzig Prozent bei mir. Ihr und Elishas Weg müssen sich noch nicht gekreuzt haben.»
«Befindet er sich zurzeit im Haus?»
«Elisha? Ich glaube nicht. Ich habe ihn am Nachmittag weggehen sehen. Bislang ist er nicht zurückgekehrt. Sie sind Polizistinnen? Liegt etwas gegen ihn vor?»
«Ist es möglich, uns sein Zimmer anzusehen?», fragte Fabia.
Frigo stemmte sich an der Seitenlehne des Stuhls ab und erhob sich. «Wenn es Sie nicht stört, durch eine halbe Baustelle zu gehen. Bitte, folgen Sie mir.»
Wenn alles einmal renoviert und hell gestaltet war, würde das Positive in die Mauern zurückkehren, war sich Valérie sicher. Noch bewohnten die Geister der Vergangenheit die langen Korridore, das düstere Treppenhaus, welches drei Stockwerke nach oben führte. Lange, unheimliche Schatten verschlangen Ecken und Nischen. Die Türen zu den Zimmern waren geschlossen, und Valérie rätselte, was sich dahinter verbarg. Die alte Villa vergrub längst vergessene Geschichten und Schicksale. Schlimmes und Schönes, Erfreuliches und Betrübtes. Hätten die Wände bloss sprechen und das verlautbaren können, was sie in den Jahrzehnten gehört und mitbekommen hatten. Kinderlachen vielleicht, das Stöhnen sterbender Menschen. Weinen und Singen, Streit und Versöhnung.
«So, da wären wir.» Frigo klopfte an. Dann öffnete er einen Spaltbreit die Tür, spähte hinein. «Er ist nicht da.»
«Vielleicht ist er essen gegangen», sagte Fabia.
«Wir haben eine eigene Küche», erwiderte Frigo. «Serina und ich wechseln uns beim Kochen ab. Manchmal kocht auch Elisha, wenn er möchte. Unser Ziel ist es, ihn in den Alltag einzugliedern.»
Valérie stutzte. Jemand log, das war nun offensichtlich. Frigo oder Dahlberg. «Sie sagen, dass Sie gemeinsam kochen. Dann müsste Frau Dahlberg Elisha Fox begegnet sein.»
«Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Es kommt selten vor, dass ich koche. Kann sein, dass dann nur Elisha am Tisch sitzt …» Dr. Frigo beendete den Satz mit einem tiefen Seufzer.
Er berief sich wenig später auf das Arztgeheimnis und stellte die Frage, die Valérie längst erwartet hatte. «Warum interessieren Sie sich so für Elisha Fox?»
«Er ist der Hauptverdächtige in einem Mordfall.» Valérie betrat das Zimmer.
Alles, was sich hier befand, schrie den Schmerz eines Gepeinigten hinaus. Ein altes Bett, eine Kommode, ein Schrank, der in einem Antiquitätengeschäft die bessere Falle gemacht hätte. Ein Pult und davor ein Holzstuhl in der Art, wie er heute von Liebhabern solcher Möbel gesucht wurde. Das kleine TV-Gerät wirkte deplatziert. Valérie entnahm ihrer Jackentasche ein paar Vinylhandschuhe. «Darf ich?» Sie hatte den Griff der Schublade bereits in der Hand, als Frigo sie auf die richterliche Durchsuchungsbescheinigung aufmerksam machte. Fabia ihrerseits liess ein Papier aus der Kommode in ihrer Tasche verschwinden. Frigo hatte es nicht bemerkt.
«Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass wir dann mit einem Grossaufgebot von Polizisten hier eintreffen werden, falls der Richter grünes Licht gibt.»
«Man soll sich nicht gegen die Staatsgewalt wehren.» Frigo setzte eine versöhnliche Miene auf. «Mord, sagten Sie?»
«Sie haben sicher davon gelesen.» Fabia hatte sich an die Wand neben dem Bett gelehnt. «Die Medien haben es lang und breit geschlagen.»
«Elisha steht in Verdacht, damit etwas zu tun zu haben?» Frigos Stimme verlor an Resonanz. «Es ist schwierig, sich das vorzustellen. Was kann ich tun?»
«Rufen Sie uns an, sobald er zurück ist», sagte Fabia.
«Oder haben Sie eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?», fragte Valérie.
«Nein, tut mir leid. Er ist ja nicht interniert. Ich kann ihn nicht einsperren. Er muss unter die Menschen gehen.»
«Ist Ihnen in letzter Zeit aufgefallen, dass er sich verändert hat?» Valérie hatte von diesem Besuch mehr erwartet.
«Der Heilungsprozess wird dauern», wich Frigo der Frage aus. «Wir tun unser Bestes.»
«Wissen Sie, wo Elisha Fox war, bevor er zu Ihnen gekommen ist?» Valérie liess Dr. Frigo nicht aus den Augen. Der Arzt kam ihr je länger, desto undurchschaubarer vor. «War er in anderen Kliniken?»
«Ich gehe davon aus.»
«Aber Sie wissen es nicht.»
«Nein. Wenn Patienten zu mir kommen, so untersuche ich sie unvoreingenommen. Alles andere würde mich in meiner Diagnose beeinflussen.»
Valérie ging in den Korridor. «Kann es sein, dass sich Elisha Fox das Auto von Dr. Dahlberg ausgeliehen hat?»
«Das müssten Sie meine Kollegin selbst fragen. Ich habe keine Ahnung.»
«Wie denn?», flüsterte Fabia. «Sie weiss nicht einmal, dass Fox hier ist. Aber ich glaube, sie hat uns angelogen.»
Später sassen sie im Auto und schauten einander eine Weile schweigend an, bis Fabia das Schweigen brach. Sie holte die Notiz aus ihrer Tasche, die sie in Elisha Fox’ Zimmer eingesteckt hatte. Sie faltete das Papier auf ihren Knien auseinander. «Sieh dir das an. Was ist das?»
«Du hast es heimlich eingesteckt?» Valérie griff nach dem Zettel, der sich von selbst wieder zusammenrollte. Sie fuhr mit dem Finger darüber. Die erste senkrechte Linie enthielt die Zahlenfolge von eins bis sechs. In der zweiten Linie erschienen unterschiedliche Zahlen, auch zweistellige.
«Fünfzehn, zehn, neun, achtzehn, eins, dreizehn. Hm, sieht nach einer Nummerierung aus. Aber wovon?»
«Was wissen wir, was in einem kranken Gehirn vor sich geht? Komisch ist es schon. Der Zettel lag auf einer Peitsche. Diese hatte ich just bemerkt, als ich nach dem Papier griff.»
«Eine Peitsche? Sonderbar.» Valérie rollte den unteren Streifen auf. «Was steht darunter? ‹Satan wird entlarvt›.»
«Das ist unheimlich», sagte Fabia und bekreuzigte sich.
Valérie durchfuhr ein Stromstoss. Fabias Reaktion erschreckte sie.
«Was ist?» Fabia legte die linke Hand aufs Herz. «Weil ich das Kreuzzeichen mache? Dem Bösen kann man nur so entgegenwirken.»