Pläne

»Bist du verrückt?!«

Sandra stand vor Philipps Haustür und lächelte ihn an. »Ist das die Begrüßungsformel in eurer Familie? Ich hab dir bessere Umgangsformen zugetraut.«

»Wie bist du denn hergekommen? Das ist gefährlich, wenn du …!« Weiter kam er nicht, Sandra umarmte und küsste ihn.

»Ich wollte dich sehen, mit dir reden, live und vor Ort, nicht nur am Telefon!«

»Komm rein«, forderte Philipp sie auf. »Bist du etwa zu Fuß gekommen?«

»Klar, aber ich war vorsichtig. Mir ist nichts passiert.« Und nach einer kleinen Pause fragte sie: »Wo warst du denn? Ich hab mehrmals versucht, dich anzurufen!«

Sein Handy lag in seinem Zimmer und er hatte mit seiner Oma im Wohnzimmer gesessen.

»Sonst hab ich es immer bei mir«, entschuldigte er sich.

»Gibt es was Neues? Hast du noch mal mit Matthias gesprochen?«

»Nein, nicht mit Matthias, aber mit meiner Oma. Die kann jetzt nicht mehr hinter dem Berg halten, nachdem sie einmal ihre Geschichte erzählt hat.«

»Was ist mit ihr?«

Nach dem Zeitzeugenvortrag hatte sich Philipps Oma mit dem Pfarrer in Verbindung gesetzt und erklärt, sie habe auch etwas zu erzählen. Nachdem sie ihm ihre Geschichte beschrieben hatte, vereinbarten sie, in dem Gemeindesaal ein Erzählcafé zu veranstalten. Sie hofften, dass neben Oma auch andere bereit wären, über ihr Leben zu berichten.

Sandra war angetan von der Idee. »Du hast eine tolle Oma!«, strahlte sie Philipp an. »Wir müssen aber auch schauen, wie wir jetzt weitermachen. Ich lass mich nur ungern von diesen Rechten bevormunden und schon gar nicht einsperren!«

»Ja, das stimmt«, sagte Philipp, »ich hab nur noch keine brauchbare Idee.«

»Deswegen bin ich hier, und vielleicht schafft es Matthias ja auch, unbemerkt herzukommen. Ich finde es besser, wenn wir zusammensitzen, als nur online miteinander zu reden.«

»Wenn er sich drauf einlässt, gern. Ich ruf ihn mal eben schnell an.«

Keine zehn Minuten später klingelte Matthias an der Haustür. »Ich hatte noch nie so viel Schiss wie eben auf dieser kurzen Strecke. Ständig hab ich mich umgeschaut und bin immer ganz dicht an den Häusern entlanggelaufen. Das muss bald ein Ende haben, lange halt ich das nicht aus.«

»Ging mir genauso«, meinte Sandra. »Wir müssen überlegen, wie wir aus der Sackgasse rauskommen. Das geht nun schon fast eine Woche so.«

»Hast du eine Idee? Ich zermartere mir dauernd das Hirn, aber mir fällt nichts ein.« Matthias raufte sich die Haare. »Zuerst hab ich gedacht, dass die Polizei hinter der Sache steckt, doch die haben nur Sandras Nummer. Mein Verdacht geht jetzt eher in Richtung Schule, zu den Klassenkameraden oder Leuten aus anderen Klassen, die wir kennen und zu denen wir Kontakt haben.« Philipp rieb sich die Stirn und lief im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen. »Wir könnten was ausprobieren«, schlug er vor. »In dieser Woche haben wir nicht mehr über den alten Fritz gesprochen, zumindest nicht in der Schule, sodass es jemand mitbekommen konnte. Irgendwie hab ich das Gefühl, seitdem hat uns auch niemand mehr aufgelauert, weil sie denken, wir haben ihre Drohung ernst genommen.«

»Und was willst du ausprobieren?«, fragte Sandra.

»Wir werden uns bis zum Ende der Woche weiter mit Äußerungen zurückhalten, also noch genau zwei Tage. Und morgen lassen wir uns nicht in die Schule fahren und gehen auch wieder zu Fuß nach Hause. Mal sehen, ob was passiert. Unterwegs können wir ja unsere Handys bereithalten und bei Gefahr den Polizeinotruf wählen.«

»Und wie geht dein Plan weiter?«, fragte Matthias wenig überzeugt.

»Am Montag haben wir in der ersten Stunde wieder Frau Perl und da lassen wir unsern Versuchsballon starten. Wir sprechen das Thema erneut an, und dann schauen wir mal, was passiert. Geschieht nichts, ist es eben so. Wenn aber doch, können wir davon ausgehen, dass es jemand aus unserer Klasse ist, der uns verpfiffen hat.«

»Können wir gern so machen«, stimmte Sandra Philipps Idee zu. »Wenigstens tun wir dann etwas und dieses Abwarten hört endlich auf!«

Wie verabredet gingen sie am nächsten Morgen wieder zu Fuß zur Schule, jeder mit einem griffbereiten Handy in der Tasche. Es geschah – nichts. Am Schultor trafen sie sich und umarmten einander. Auch der Nachmittag und der Freitag blieben ohne Zwischenfälle.

Dann kam der Montag mit der ersten Stunde bei Frau Perl. Sie hatten sich abgesprochen, mit welcher Idee sie ihre Deutschlehrerin und die Klasse konfrontieren wollten.

»Frau Perl«, begann Philipp. »Ich hab die Stunde vom letzten Montag noch in sehr guter Erinnerung. Sie hat mich mehr bewegt als viele andere Unterrichtsstunden, weil mir während der Diskussion etliche Dinge klar geworden sind. Wenn ich Ihnen und der Klasse jetzt einen Vorschlag mache, werden Sie sicher sagen, dafür sei der Geschichtslehrer zuständig. Aber ich bin überzeugt, ein Gespräch unter Ihrer Leitung könnte sehr fruchtbar sein. Die Frage, die nicht nur mich, sondern auch Matthias und Sandra beschäftigt, ist: Wie gehen wir heute mit der NS-Vergangenheit um? Überall sehen wir das Anwachsen von rechtsextremem Gedankengut, Gewalttaten aus dieser Ecke mehren sich und die breite Öffentlichkeit scheint dem schulterzuckend zuzuschauen.«

Frau Perl nickte.

»Wir sind jung«, führte Sandra Philipps Ausführungen fort, »wir haben die Zukunft noch vor uns. Nicht nur ich, sondern bestimmt alle aus der Klasse können sich nicht vorstellen, mit vielen Beschränkungen und Ausgrenzungen zu leben, wie sie derzeit von einer bestimmten rechtspopulistischen Partei propagiert werden. Wir sind ein Staat, in dem die unterschiedlichsten Menschen leben, Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, die unseren Alltag bereichern.«

»Du redest schon wie eine Politikerin«, warf Max ein, »aber es stimmt.«

»Ich verstehe euer Anliegen«, kommentierte Frau Perl die Redebeiträge. „Wir werden diese Deutschstunde noch einmal für eure Fragen verwenden. Das können wir aber nicht unbegrenzt tun.“ ‚Leider›, hätte sie noch gerne hinzugefügt, ließ es aber. „Deswegen mache ich euch einen Vorschlag: Alle, die Lust und Zeit haben, können sich gern heute Nachmittag um zwei Uhr mit mir in der Bibliothek treffen. Dort können wir über eure Fragen diskutieren, und keine Pausenklingel wird uns diktieren, wann wir aufhören.«

Matthias schaute Philipp und Sandra an. Er schien enttäuscht, das war ihm anzusehen.

Philipp meldete sich noch einmal zu Wort. »Ich denke, wir nehmen Ihr Angebot sehr gern an. Wer würde sich denn an der Diskussion beteiligen?«

Er schaute sich in der Klasse um. Nur vereinzelt hoben sich Finger.

»Das war doch ein glatter Reinfall«, wetterte Matthias, als sie sich in der Pause trafen. »Nach deiner genialen Einleitung hätt ich erwartet, dass die Perl auf den Vorschlag eingeht. Mist. Trotzdem, war echt gut, was du gesagt hast, Philipp.«

»Es war kein Reinfall«, hielt Sandra dagegen. »Wenn es in der Klasse eine undichte Stelle gibt, weiß der oder die jetzt Bescheid und wird irgendwas unternehmen. Aber wie gesagt, nur dann, wenn jemand spitzelt.«

»Was wollen wir denn heute Nachmittag in der Bibliothek besprechen?«, fragte Matthias mutlos. »Wenn tatsächlich noch welche kommen, sind wir vielleicht ein kleiner Haufen Gleichgesinnter, da können wir uns gegenseitig auf die Schulter klopfen und zu allem nicken, was gesagt wird.«

»Ich versteh ja, dass du enttäuscht bist«, versuchte Philipp, seinen Freund aufzumuntern. »Wär aber doch gut, wenn wir alle einer Meinung sind, dann können wir gleich die nächsten Schritte vorbereiten.«

»Was meinst du damit?«

»Zum Beispiel Vorschläge machen, was wir tun können. Es war doch auch deine Idee, die Schule in Veranstaltungen mit einzubeziehen. Das könnte heute ein erster Schritt sein.«

»Stimmt ja, was du sagst. Ich hatte einfach nur drauf gehofft, dass wir durch eine Diskussion in der Klasse vielleicht jemanden ausfindig machen, der oder die Kontakt zu der Motorradgang hat.«

»Wir wissen ja nicht mal, ob es überhaupt jemand aus unserer Klasse ist. Sollte es aber so sein, werden wir es in den nächsten Tagen merken«, sagte Sandra. »Hoffentlich nur nicht körperlich.«

Sieben Schülerinnen und Schüler aus der Klasse versammelten sich um zwei Uhr in der Bibliothek.

»Ich hatte mit einem größeren Zuspruch gerechnet«, kommentierte Frau Perl das offenbare Desinteresse der überwiegenden Mehrheit.

»Vielleicht sind wir ja auch das Spiegelbild unserer Gesellschaft«, hielt Sandra dagegen. »Es gibt so viele wichtige Themen, und es lassen sich immer nur ein paar Menschen vom Sofa locken, um sich für etwas zu engagieren.«

»Was wollen wir denn besprechen?«, fragte Max und schaute interessiert in die Runde.

Matthias schlug vor: »Wir können ja mal überlegen, wie die Öffentlichkeit heute noch mit dem Thema ›Verbrechen während der NS-Zeit‹ umgehen sollte.« Für ihn bedeute das, sich nicht mehr ausschließlich den Opfern zuzuwenden, sondern auch den Tätern und den gesellschaftlichen Strukturen, unter denen die Verbrechen erst möglich wurden.

»Was verstehst du unter ›gesellschaftlichen Strukturen‹?«, wollte Maria wissen.

»Die Macht, die ausgeübt wurde, von oben nach unten. Anordnungen, Befehle, selbst wenn sie noch so bescheuert waren, mussten befolgt werden. Widerspruch? Nicht dran zu denken! Dann die Ausgrenzung von ganzen Bevölkerungsgruppen, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, und am Schluss stand ihre Vernichtung. Das konnte nur in dieser autoritären Befehlsstruktur gelingen. Denen, die die Befehle ausgeführt haben, wurde vermittelt, sie müssten einfach nur gehorchen. Das taten sie ja auch, nachdem man ihnen lange genug eingetrichtert hatte, es handele sich bei denen, die ausgegrenzt wurden, nur um minderwertige und lebensunwerte Menschen, die es zu vernichten gelte.«

Maria nickte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass so was noch einmal passieren könnte. Da gäb es doch bestimmt den totalen öffentlichen Aufschrei!«

»Bist du dir sicher?«, fragte Moritz. »Schau dich doch mal um! Auch heute werden wieder Menschen ausgegrenzt. Ich denke da an die vielen Geflüchteten, die hier Schutz suchen. Was passiert mit ihnen? Bei Behörden werden sie geduzt, sie bekommen heruntergekommene Wohnungen, Brandanschläge werden verübt, man sucht Gründe, um sie abzuschieben. Einmal hab ich mitbekommen, wie sich zwei Mitarbeiter einer Ausländerbehörde lustig gemacht haben. ›Wenn die wieder in ihrem Flieger sitzen, dann feiern wir!‹ Dabei klatschten sie sich gegenseitig ab.«

»Okay«, meinte Matthias, »wir können jetzt einen bunten Strauß von Themen zusammenstellen, ich bin nur nicht sicher, ob uns das weiterbringt. Zu den Problemen in der Gegenwart kommen wir sicher noch. Mich interessiert mehr die Vergangenheit und welchen Blick wir heute darauf haben. Das Zeitzeugengespräch, das wir kürzlich im Gemeindesaal hatten, hat mir Einblicke verschafft, die mir bislang verschlossen waren.«

»Was hast du vor? Willst du die Dimension des Holocaust erforschen?« Max schaute ihn fragend an.

»Das ist unrealistisch, aber ich würde gern mehr darüber erfahren. Was ist damals passiert? Gab es jüdische Mitbürger in unserer Stadt? Wurden sie abgeholt? Wie haben die Nachbarn reagiert? Wo wurden sie hingebracht? Was geschah mit ihnen? Das sind die Fragen, die mich umtreiben.«

»Genau deswegen bin ich hier«, meldete sich Leora erstmals zu Wort. »Es gab jüdische Menschen in unserer Stadt, aber daran erinnert sich niemand, nicht mal eine Gedenktafel gibt es.«

Sandra schaute ihre Mitschülerin mit großen Augen an. »Woher weißt du das?«, wollte sie wissen.

»Woher schon?«, antwortete Leora vorsichtig. »Ich bin nur keine bekennende Jüdin, ich lebe nicht nach den jüdischen Regeln, meine Eltern auch nicht, aber wir wissen, dass es hier in Nordenhausen zwei oder drei Familien gegeben hat, die deportiert wurden.«

»Wohnt ihr schon immer hier? Seid ihr eine alteingesessene Nordenhauser Familie?« Max wunderte sich, nie etwas davon gehört zu haben, dass es in der Stadt einmal jüdische Familien gegeben hatte.

»Nein, meine Eltern sind ein paar Jahre vor meiner Geburt zugezogen, weil sie hier eine Arbeit fanden. Da sie keine frommen Juden sind, haben sie auch nie Wert darauf gelegt, ihre Religion öffentlich zu machen.«

»Ich bin froh, etwas darüber zu erfahren«, gestand Matthias. »Das wurde ganz offensichtlich immer unter der Decke gehalten. Vielen Dank, Leora.«

Genau am Beispiel dieser Familien wollten sie mit ihrer Erinnerungsarbeit beginnen. Sie setzten sich enger im Kreis zusammen – auch Frau Perl machte mit – und überlegten, wie sie vorgehen könnten. Die Namen wollten sie herausfinden, die genauen Adressen dieser Menschen und wann sie wohin deportiert wurden. Viel Arbeit sahen sie auf sich zukommen, doch das schreckte sie nicht ab, im Gegenteil: Als sie sich nach zwei Stunden trennten, hatte jeder eine feste Aufgabe übernommen.

Matthias, Philipp und Sandra waren sehr zufrieden, als sie zusammen vor der Schule standen.

»Meint ihr, wir müssen heute vorsichtig sein?«, fragte Sandra und schaute ihre beiden Freunde an.

»Auf keinen Fall dürfen wir ein Risiko eingehen!«, sagte Matthias bestimmt. »Noch wissen wir nicht, was und wer hinter den Drohungen steckt!«

»Immer das Handy bereithalten und den Polizeiruf schon mal vorwählen, damit es schnell geht, wenn sie uns nachstellen.«

Philipp begleitete Sandra zu ihrer Haustür, für Matthias war es nur ein kurzer Weg, bis er daheim war.

Sie waren aufmerksam, schauten sich öfter um und zuckten auch schon mal zusammen, wenn sie ein Motorrad hörten.

Doch die ganze Woche verlief ohne einen Zwischenfall. Ihre Angst legte sich langsam, und so konnten sie sich intensiver um die Aufgaben kümmern, die sie übernommen hatten.

Maria und Max hatten schon bald die Namen der jüdischen Familien herausgefunden, die in Nordenhausen gewohnt hatten. Moritz und Leora kümmerten sich um die Adressen. Matthias, Philipp und Sandra wollten im Internet klären, bei welchen Stellen man etwas über Deportationen jüdischer Menschen erfahren konnte.