Eine nächtliche Festnahme

Ascq, 1. April 1944

Es war schon sehr spät am Abend, fast Mitternacht. Rolande und ihre beiden jüngeren Brüder schliefen bereits seit einigen Stunden. Sie hatten einen schönen Tag gehabt, der Frühling kündigte sich an, und die meiste Zeit verbrachten sie draußen, spielten mit Freundinnen und Freunden. Die Kinder wussten, dass Krieg war, sie hatten oft Soldaten und Armeefahrzeuge gesehen. Wehrmachtssoldaten wohnten im Ort, hatten Kontakt zu der Bevölkerung, redeten mit ihr, wurden zum Essen eingeladen. Lange Zeit war es für die Menschen in Ascq, aber auch in der ganzen Region ein »verrückter« Krieg, in dem nicht gekämpft wurde. Die Wehrmacht hatte die Region besetzt. Was Krieg wirklich bedeutete, konnte sich Rolande noch nicht vorstellen. Hier, in ihrem Dorf, begann der Frühling, der sie hinauslockte.

Später konnte sie sich weder an diesen Tag noch an die Zeit davor erinnern. Alles war wie ausgelöscht.

Sie wurde von einem Lärm aus dem Tiefschlaf gerissen. Rolande wusste nicht, was der Krach bedeutete, bis plötzlich ein paar deutsche Soldaten in ihr Zimmer stürmten. Es waren wohl die schweren Stiefelschritte gewesen, die sie geweckt hatten.

Die Soldaten schalteten das Licht an, schauten sich im Zimmer um, rissen die Bettdecken weg, unter denen ihre beiden Brüder lagen, schauten, fanden aber offenbar nicht, wonach sie suchten. Auch Rolandes Bett blieb nicht verschont. Mit lauten Schritten verließen die Soldaten schließlich das Kinderzimmer und durchsuchten als Nächstes das Schlafzimmer ihrer Eltern.

Die Tür des Kinderzimmers stand noch offen. Rolande konnte sehen, wie zwei Soldaten mit ihrem Papa in der Mitte über den Flur gingen.

»Mach dir keine Sorgen«, rief er seiner Tochter zu. »Ich komme bald wieder.«

Das waren die letzten Worte, die Rolande von ihm hörte. Nachdem sie ihre beiden kleinen Brüder und auch sich selbst etwas beruhigt hatte, schlief sie wieder ein. Es war ein unruhiger Schlaf. Sie wollte dabei sein, wenn ihr Papa zurückkam.

Am nächsten Morgen wurde sie geweckt. Tränenüberströmt stand die Mutter vor ihrem Bett.

»Ich fürchte, du hast keinen Papa mehr«, sagte sie. »In der Nacht haben die Deutschen viele Männer erschossen, auch ihn. Sie dachten wohl, wenn sie alle töten, wird der Richtige schon dabei sein, der für den Anschlag verantwortlich ist.«

Rolande wusste noch nichts von einem Anschlag. Sie hatte das Wort zwar ein paar Mal gehört, konnte sich aber nichts darunter vorstellen. Und wieso sollte ihr Papa tot sein? Warum? Er war doch den ganzen Abend zu Hause gewesen!

Am Vormittag des 2. April 1944 mussten die Angehörigen der Opfer auf Anordnung der SS zur Schule kommen, auch Rolande mit ihrer Mutter.

»Jeden Tag in meinem Leben hat mein Papa mir gefehlt!«, sagt Rolande zum Schluss.

Durch Zufall war Matthias bei YouTube auf das Interview mit Rolande Bonde gestoßen. Gegen Ende erklärte sie, sie müsse jeden Tag an dieses Massaker denken, sie könne nicht vergessen. »Ohne dieses Massaker hätte ich einen Vater gehabt und ein komplett anderes Leben.«

Und dieser Friedrich Schmidt kam nach dem Krieg nach Hause, fand sich schnell wieder zurecht, arbeitete bei der Post und führte ein ganz normales Leben, ohne Schuldgefühle, ohne Reue, ging es Matthias durch den Kopf. Ich möchte die Frau treffen, sie fragen, mit ihr reden, wenn ich mit Philipp nach Ascq fahre. Ob es noch weitere Menschen dort gibt, die sich an die Taten erinnern? Menschen, die alles miterlebt haben?