Omas Geheimnis

Den ganzen Samstagnachmittag überlegte Philipp, ob und wie er mit seiner Oma über das Familiengeheimnis reden könnte. Sollte er sie direkt drauf ansprechen oder es lieber einem Zufall überlassen? Einem Zufall, den er herbeiführen könnte? Und sei es durch den Bericht in der Zeitung?

Irgendetwas war an diesem Nachmittag anders. Das gemeinsame Kaffeetrinken am Samstag war stets der Start ins Wochenende. Die meisten Arbeiten waren getan, nun war es Zeit, sich auf den gemütlichen Teil des Tages zu besinnen.

Lag es an dem Zeitungsartikel, dass alle den Kaffee vergaßen, oder gab es einen anderen Grund? Wenigstens sein Vater erschien, wenn auch verspätet.

»Wo sind Mama und Oma? Warum sind sie noch nicht da?«

»Keine Ahnung«, antwortete sein Vater. »Deine Mutter ist heute schon den ganzen Tag so merkwürdig drauf. Vor einer Stunde ist sie rausgegangen. Angeblich, weil sie frische Luft brauchte, mehr hat sie nicht gesagt. Und Oma? Vielleicht ist sie eingeschlafen oder sie sitzt in ihrem Zimmer vor dem Fernseher.«

»Das glaub ich nicht, sie ist es doch immer, die so großen Wert auf das gemeinsame Kaffeetrinken am Samstagnachmittag legt. Ich schau mal nach ihr.«

Wenig später klopfte er bei ihr. Weil sie nicht antwortete, drückte er vorsichtig die Klinke, öffnete einen Spaltbreit die Tür und fragte, ob er reinkommen dürfe.

Oma saß reglos in ihrem Sessel und sah aus dem Fenster.

»Willst du nicht zum Kaffeetrinken kommen?«, fragte Philipp leise.

Doch seine Oma reagierte nicht, sondern schaute nur weiter aus dem Fenster.

»Was ist los mit dir, geht’s dir nicht gut?«

Jetzt schaute sie zu ihm. Ganz traurig sah sie aus.

»Willst du lieber allein sein?«

Oma atmete tief ein, dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, ich will nicht allein sein, ich war viel zu lange allein!«

Philipp verstand nicht, was sie meinte. »Aber wir waren doch immer zusammen, wir sind doch eine Familie!«

»Familie, Familie! Was ist das schon? Ja, wir sind eine Familie, aber was für eine? Ich habe mich immer nach einer gesehnt, einer, in der ich mich zurückfallen lassen kann, einer, die mich auffängt, einer, in der man über alles reden kann, die keine Geheimnisse hat.«

»Aber das kannst du doch! Wir reden doch über so vieles, wenn wir im Wohnzimmer zusammensitzen. Das magst du doch so. Und wenn ich mir die Fotoalben anschaue, fängst du immer an, von deinem Mann, meinem Opa, und von deinen Kindern zu erzählen. Dann hab ich nie das Gefühl, dass du unglücklich bist.«

»Ja, ja, das stimmt. Aber das war immer nur die Oberfläche. Darunter verbirgt sich bloß noch etwas anderes, das ganz tief sitzt.« Sie machte eine Pause und atmete ein paarmal tief durch. »Oft habe ich gemerkt, dass es in mir noch etwas anderes gibt, nicht nur die gute Hausfrau und Mutter zu sein mit allen schönen Seiten, die es zweifellos gab und gibt.«

»Und was ist das?«, wollte Philipp wissen.

Sie sah ihn lange an, bevor sie anfing zu reden.

»Ich habe heute Vormittag mitbekommen, wie du und deine Mutter gestritten habt. Am Anfang wusste ich nicht genau, worum es ging, aber dann habe ich es rausgehört. Als ich später den Bericht in der Zeitung las, war mir alles klar.«

»Was war dir klar?« Philipp ahnte es zwar, wollte es aber von ihr hören.

»Weißt du«, begann sie, »es gibt Dinge, die werden einfach vererbt. Damit meine ich nicht nur die Äußerlichkeiten wie Haarfarbe, Körperbau oder überhaupt das Aussehen. Es können auch Konflikte sein, die vererbt werden. Aber nur dann, wenn sie nicht geklärt sind.«

Sie schaute ihren Enkel lange an. Schließlich nickte sie.

»Einen solchen ungeklärten Konflikt habe ich von meiner Mutter geerbt, und ich habe ihn an meine Tochter weitergegeben, weil ich in all den Jahren nicht in der Lage war, das Thema anzugehen. Ich hatte es verdrängt, doch es tauchte immer wieder auf, oft in völlig unpassenden Momenten. Und nun ist meine Tochter dabei, den Konflikt an dich weiterzugeben. Ist aber gut, dass du dich dagegen wehrst.«

»Kannst du mir das etwas genauer erklären?«, bat Philipp.

»Ja«, meinte sie lächelnd, »zum ersten Mal brechen wir die Tradition des gemeinsamen Kaffeetrinkens am Samstagnachmittag. Es ist wirklich eine Tradition, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Es ist eine der wenigen guten Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe.«

»Was ist denn passiert? Gab es so viel Schlimmes? Das wusste ich gar nicht!«

»Ja, es gab viel Schlimmes, aber als Kind habe ich das noch nicht begriffen. Ich dachte immer, Familie, so wie ich sie erlebt habe, sei ganz normal. Wir hatten es ja auch gut, wir waren nicht arm, wir konnten uns Dinge leisten. Urlaub, ein Dienstmädchen, schöne Kleider und Nippes, der überall in unserem Haus herumstand. Doch mit all den Dingen, die meine Mutter gekauft hat, hat sie nur den Konflikt mit ihrem Mann übertüncht.«

»Was war das für ein Konflikt?«

»Willst du es wirklich wissen?« Oma schaute ihm in die Augen.

»Ja, klar. Sonst würd ich nicht fragen.«

»Also gut, dann versuche ich, es dir zu erklären. Du bist der erste Mensch, der davon erfährt.«

Philipp nahm einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber.

»Mein Vater«, begann sie, »war für mich lange Zeit ein guter Vater. Wenn er zu Hause war, spielte er mit mir, er las mir Bücher vor, wir sangen zusammen Lieder, wir machten Radtouren, wir wanderten, und wenn mir die Füße wehtaten, nahm er mich auf seine Schultern. Es war eine schöne Zeit, aber auch die einzige in meiner Kindheit, an die ich gerne zurückdenke. Damals war ich noch klein, vier, fünf, sechs Jahre. Manchmal habe ich mitbekommen, dass Papa und Mama stritten, ich habe jedoch nie rausgefunden, worum es ging.«

Sie machte eine Pause, rieb sich mit beiden Händen die Wangen und redete weiter.

»Ich war schon elf oder zwölf, vielleicht auch dreizehn, ich weiß es nicht mehr genau, als ich mir die Fotos in den Alben angeschaut habe. Du kennst sie, du hast sie auch schon oft angesehen. Natürlich war ich neugierig, was das für eine Uniform war, die mein Papa da trug. Wenn ich danach gefragt habe, bekam ich nie eine klare Antwort.«

Sie schaute Philipp lange an.

»Du kommst ganz nach mir«, sagte sie plötzlich. »Je älter ich wurde, desto neugieriger bin ich geworden. Ich wollte mehr über diese Uniform wissen, um die so ein Geheimnis gemacht wurde. In Bibliotheken habe ich rumgestöbert, habe ältere Menschen, besonders Männer, danach gefragt und nach und nach eine Antwort gefunden. Mein Vater war kein einfacher Soldat, wie ich das lange Zeit vermutet hatte, er war in der SS-Division Totenkopf. Diese Totenkopfdivisionen waren Eliteverbände des Heeres und unter anderem für den Betrieb und die Bewachung der Konzentrationslager zuständig. Er hat tatsächlich in Konzentrationslagern gearbeitet, nein, als Arbeit kann man das nicht bezeichnen. Er war daran beteiligt, die Häftlinge dort zu ermorden. Als ich das herausgefunden hatte, habe ich meine Mutter drauf angesprochen. In Tränen ist sie ausgebrochen und hat verlangt, dass ich das Thema nie wieder anspreche. Niemand dürfe etwas darüber erfahren. Ihr Mann habe es ihr auch verboten, darüber zu reden. ›Frag nie, wo ich war und was ich gemacht habe!‹ Das klang meiner Mutter gegenüber wie ein Befehl. Meine Mutter sollte auch nie mit ihren Kindern, also mit mir und meinem Bruder, der jetzt schon so lange tot ist, darüber sprechen. Es sei gefährlich, vielleicht sogar lebensgefährlich. Das behauptete mein Vater damals. Heute weiß ich, dass er recht hatte. Wenn etwas über seine Arbeit an die Öffentlichkeit gelangt wäre, hätte es mindestens einen Prozess gegen ihn geben können. Das sollte vermieden werden, mit allen Mitteln. So hat meine Mutter geschwiegen, ich habe geschwiegen, obwohl ich ganz viel wusste, und ich habe dieses Schweigen trotzdem weitergegeben an meine Tochter. Sie glaubt vermutlich immer noch, das Familiengeheimnis müsse bewahrt werden und ich würde leiden, wenn etwas an die Öffentlichkeit gelangt. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Ich bin froh, dass ich mit dir drüber reden kann, und fühle mich jetzt erleichtert.«

Philipp hatte Tränen in den Augen. »Glaubst du, du wirst noch einmal auf deinen Vater angesprochen, danach befragt, was er während der NS-Zeit gemacht hat?«

»Das glaube ich eher nicht. So viele Jahre sind nun schon vergangen, und wenn jemand etwas sagen würde, hätte ich auch die passende Antwort.«

»Welche?« wollte Philipp wissen.

»Es war schließlich seine Verantwortung, nicht meine. Ich war noch ein Kind. Wenn es ein Jüngstes Gericht gibt, was ich sehr hoffe, wird er sich dort für seine Taten rechtfertigen müssen.«

Philipp spürte, dass sie fürs Erste genug erzählt hatte. Sie schwieg. Er war froh, dass seine Oma so offen zu ihm gewesen war.

»Wollen wir jetzt noch zum Kaffeetrinken ins Wohnzimmer gehen?«, fragte er vorsichtig. Es war spät geworden, und er konnte nicht einschätzen, ob sie um diese Zeit tatsächlich noch Kaffee trinken würde.

»Nein!«, sagte sie entschieden, »heute brechen wir die Tradition! Ich lade dich zum Griechen ein, da wollte ich schon immer mal hin, doch ich habe mich nie getraut. Aber heute, mit dir, das geht!«