Ascq, 1. April 1944
Die zuständige Führung der Wehrmacht erwartete für die nächste Zeit die Landung der Alliierten in der Normandie. Aus diesem Grund erging der Beschluss, die zwölfte SS-Panzer-Division Hitlerjugend von Belgien in die Region zu verlegen. 460 Soldaten, alle Mitglieder der Waffen-SS, saßen in dem Zug, der von Tournai in Belgien startete und sie über Lille zu ihrem Zielort bringen sollte. Sie gehörten zur Aufklärungsabteilung unter dem Kommando von Obersturmführer Walter Hauck, der bereits einschlägige Erfahrungen als Zugführer in einem Polizeiregiment und an der Ostfront gesammelt hatte.
Die Soldaten, alles kriegserfahrene junge Männer, die noch als halbe Kinder in der Hitlerjugend ideologisch geprägt wurden, waren zuversichtlich, die erwarteten Gegner in der Normandie zurückzuschlagen. Schließlich hatten sie ihrem Führer Treue geschworen und waren bereit, für ihn auch in den Tod zu gehen.
Dieser zwölften Panzer-Division Hitlerjugend gehörte auch Friedrich Schmidt an.
An der Grenze zwischen Belgien und Frankreich standen zwei Züge, beide zur Abfahrt bereit. Einer der Züge war ein Güterzug, der Waffen, Fahrzeuge und weiteres Kriegsmaterial transportierte. In dem zweiten Zug befand sich die zwölfte Panzer-Division Hitlerjugend, die in den hinteren Waggons saß; vorne waren Panzer geladen.
SS-Obersturmführer Walter Hauck bestand darauf, dass sein Zug als Erster die Grenze passieren und in die Normandie fahren dürfe, auch wenn es anders geplant war. Das Bahnhofspersonal hatte keine andere Wahl, als dem Ersuchen stattzugeben.
Der Zug hatte Lille bereits passiert und fuhr in Richtung Ascq, als es plötzlich um 22.25 Uhr zu einer Detonation kam. Zwei Waggons im vorderen Teil des Zuges entgleisten, von den Soldaten wurde niemand verletzt.
Friedrich Schmidt machte dem Obersturmführer Hauck Meldung, dass niemand zu Schaden gekommen sei. Lediglich die Fahrzeuge in den vorderen Waggons wären leicht beschädigt, aber einsatzbereit. Schnell stand fest, dass auf die Bahnstrecke ein Sprengstoffanschlag verübt worden war. Wer steckte dahinter? Eine französische Widerstandsgruppe?
Obersturmführer Hauck war wütend. Er wollte nicht lange spekulieren und vermutete die Täter unter den männlichen Bewohnern von Ascq. Deshalb ließ er vier Gruppen zu je zwanzig Männern bilden und ordnete an, alle männlichen Bewohner des Ortes zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren zu verhaften. Ein Oberbefehlshaber der Feldgendarmerie versuchte zu intervenieren. Die SS sei nicht berechtigt, Verhaftungen durchzuführen. Doch Obersturmführer Walter Hauck setzte sich über die Bedenken hinweg und bekräftigte seinen Befehl.
In der Dunkelheit stürmten die Soldaten durch die Straßen, drangen wahllos in Häuser ein und machten selbst vor Schlafzimmern nicht Halt, um die männlichen Bewohner festzunehmen. Dabei achteten sie nicht auf das Alter, auch Männer, die weit über fünfzig waren, wurden aus den Wohnungen geholt und abgeführt. Manche waren noch in Pyjamas, Pantoffeln oder auch barfuß, als sie den Anweisungen der Deutschen ruhigen Gewissens folgten. Sie hatten sich nichts vorzuwerfen und gingen davon aus, bald wieder zu Hause zu sein.
Sechzehn Männer, die sich ihrer Verhaftung widersetzten, wurden sofort in ihren Häusern oder draußen auf der Straße erschossen, einige von ihnen vor den Augen ihrer Ehefrauen.
Angelockt von dem Lärm in den Straßen und Gassen, kamen Bewohner aus ihren Häusern, andere aus dem Kino, in dem gerade die Filmvorführung zu Ende war. Entfesselt durch den Hass, prügelten die Soldaten auf die Menschen ein und schossen in die Menge. Viele lagen danach blutend auf den Bürgersteigen. Es gab mindestens dreizehn Verletzte. Frauen wurden geschlagen und vergewaltigt. Häuser wurden geplündert. Angst und Schrecken machten sich breit.
Die SS-Soldaten trieben siebzig Männer durch die Straßen, hin zu den Bahngleisen. Dort mussten sie sich nebeneinander aufstellen. Als die SS-Soldaten das Feuer eröffneten, versuchten einige Männer vergeblich zu fliehen. Andere ließen sich einfach hinfallen in der Hoffnung, so überleben zu können. SS-Männer gingen aber noch mal an den Leichen vorbei und schossen auf alle, die am Boden lagen.
Am Ende der Nacht waren sechsundachtzig Männer im Alter zwischen fünfzehn und fünfundsiebzig Jahren tot.
In den frühen Morgenstunden – es war Palmsonntag – gaben SS-Männer einigen Bewohnern der Stadt den Befehl, die Toten in den Schulsaal zu bringen. Angsterfüllt machten sich die Menschen an die furchtbare Arbeit. Schließlich kannten sie alle Männer, die an den Bahngleisen und in den Straßen und Häusern in ihrem Blut lagen. Einige der Toten waren bis zur Unkenntlichkeit zerschossen. Der Priester war tatsächlich nur noch an seinem Gewand zu erkennen.
Leitern mussten als Tragbahren herhalten, um die Toten in den Schulsaal zu tragen. Dort lagen sie nebeneinander auf dem Fußboden, eingewickelt in Papier, da keine Leichentücher zur Verfügung standen.
Ebenfalls in den frühen Morgenstunden drangen SS-Soldaten in die Häuser der Witwen ein und verlangten, ihnen ein Essen zuzubereiten.
Am Vormittag mussten die Angehörigen antreten, um die Toten zu identifizieren. Es waren Mütter und Kinder, die weinend durch den Raum irrten und sich neben die Toten knieten, sie anschauten, sie berührten und ein letztes Mal mit zarten Fingern streichelten.
Der Oberfeldkommandant von Lille, Generalleutnant Georg Bertram*, rechtfertigte das Massaker mit folgenden Worten:
»Die Bevölkerung muss wissen, dass jeder Angriff auf deutsche Einheiten oder einzelne Soldaten mit allen Mitteln beantwortet wird, die die Situation erfordert. Das Beispiel von Ascq muss eine Lektion sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass es unvermeidlich ist, dass unschuldige Menschen leiden, wenn solche Dinge geschehen. Die Verantwortung liegt bei den Kriminellen, die solche Angriffe verüben.«
Kriegsverwaltungsrat* Carlo Schmid*, der als Oberfeldkommandant in Lille stationiert war, schrieb einen Bericht, der an den Gerichtsherrn, SS-Obergruppenführer* Sepp Dietrich*, weitergeleitet wurde. Darin hielt er fest, dass die Männer durch das MG-Feuer regelrecht niedergemäht worden waren.
In einem Aktenvermerk beglückwünschte SS-Obergruppenführer Sepp Dietrich Obersturmführer Hauck für sein Vorgehen. Wenn er weiterhin so entschlussfreudig sei, werde er es noch weit bringen. Ein Verfahren gegen Hauck wurde nicht eingeleitet.
Carlo Schmid nahm die Akten an sich, um sie eines Tages an der Stelle vorlegen zu können, wo abgerechnet würde.