Unglaubliche Fakten

Auf Philipp konnte er sich verlassen. Schon für den nächsten Nachmittag verabredeten sie sich. Philipp war ganz neugierig geworden, konnte gar nicht fassen, was Matthias ihm am Telefon beschrieben hatte.

»Was? Der alte Fritz war ein Nazi? Bist du sicher?«

»Ich konnte es auch nicht glauben, aber nachdem ich angefangen habe, mich durch den Inhalt der Truhe zu arbeiten, komme ich zu dem Schluss, dass er bis zu seinem letzten Atemzug einer war. Wenn du die Briefe und Zeitschriften, Fotos und Mappen gesehen hast, wirst du es begreifen«, antwortete Matthias.

Bevor Philipp am Nachmittag kam, versuchte Matthias, eine Struktur in das ganze Material zu bekommen, indem er alles nach Themen sortiert auf dem Fußboden zurechtlegte. In einem Ordner waren die Einladungen zu den Zeitzeugengesprächen. Es gab einen weiteren Ordner mit Briefen, in denen »Fans« vom alten Fritz ihn um Autogramme baten. Seitlich davon stapelte er die vielen Zeitschriften und dann gab es noch diese Ledermappe. Den Stahlhelm packte er daneben, die Uniform nahm einen breiten Raum ein und zum Schluss die Flagge, die er auf dem Fußboden ausbreitete.

»Was ist das?«, fragte Philipp ganz ungläubig, als er Matthias’ Zimmer betrat. Er rieb sich die Augen, dann fragte er noch einmal.

»Das ist der Inhalt der Truhe, die ich beim alten Fritz auf dem Speicher entdeckt hab«, erklärte Matthias.

»Das ist ja … unglaublich … ich fass es echt nicht!« Philipp schüttelte den Kopf.

»Und es wird noch viel unglaublicher, wenn du siehst, was das im Einzelnen alles ist!« Matthias griff nach dem ersten Ordner.

»Hier, Einladungen zu sogenannten Zeitzeugengesprächen! Der alte Fritz war oft auf Achse!«

»Zeitzeugengespräche? Die kennt man doch eigentlich nur von Überlebenden des Holocaust*?« Philipp schüttelte wieder den Kopf. »Was sollen denn das für Zeitzeugengespräche gewesen sein?«

»Weiß ich auch noch nicht, aber hier, schau nach, jede Menge Einladungen! Und sieh dir auch die Absender an! Da wird dir ganz schlecht!«

Philipp nahm den Ordner, blätterte, las, rieb sich die Augen und begriff… nichts. In einem Jahr waren es fünfzehn, dann waren es neun, die meisten Einladungen stammten aus dem Jahr 2014. Neunzehnmal war er unterwegs gewesen, zweimal sogar im Ausland. Einmal in Polen und einmal in Ungarn. Zu gern hätte Philipp gewusst, was der alte Fritz seinen Zuhörern erzählte, aber es gab keine Hinweise darauf, kein Redemanuskript, nichts. Vielleicht brauchte er keins, überlegte er, sondern berichtete einfach von seinem Aufstieg und seinen Erlebnissen in der Waffen-SS.

Und die Absender?

»Die NPD gibt es ja heute nicht mehr, aber dort war er wohl auch eingeladen, bevor sie sich aufgelöst hat.« Philipp fand kaum Worte für das, was er da las. »Wir freuen uns, von einem tapferen SS-Mann, der sich um Volk und Vaterland verdient gemacht hat, die ganze Wahrheit über diese große Zeit zu erfahren!«

»Aber ganz offensichtlich haben sie in ihrer neuen Partei einfach weitergemacht. Eine Frechheit! Lösen sich auf, gründen die nächste Partei, geben sich einen unverfänglichen Namen wie Die Heimat und knüpfen genau dort an, wo sie aufgehört haben.«

»Das seh ich auch so«, kommentierte Matthias. »Bei den zwei anderen Parteien kann man ja ohnehin davon ausgehen, dass sie ein Interesse haben, Erinnerungen von SS-Männern unter ihren Anhängern zu verbreiten.«

Matthias griff nach einer Zeitschrift – Der Freiwillige* hieß sie –, schlug sie auf und hielt sie Philipp hin. »Hier, sieh mal, da ist unser Friedrich Schmidt abgebildet, zusammen mit anderen ehemaligen SS-Männern. Unsere Ehrengäste auf unserer Veranstaltung steht obendrüber!«

Philipp nickte und begann, den Bericht unter dem Foto zu lesen.

»Was? Der behauptet, den Holocaust habe es nie gegeben?« Philipp war empört. In dem Bericht stand weiter, dass es niemals sechs Millionen ermordete Juden gegeben haben könne, weil es so viele gar nicht gegeben habe. Schließlich äußerte sich Friedrich Schmidt in seinem Vortrag auch noch über die Konzentrationslager*.

Und das mit den Konzentrationslagern, das stellt man heute einfach so dahin. Dort wurden aber keine Menschen umgebracht. Sicher gab es ein paar Lager für Strafgefangene, da wurde sicher auch mal hart durchgegriffen. Vielleicht sind auch mal welche gestorben. Den Hitler*, den hat man einfach nach dem Krieg nicht mehr gemocht und ihm daher die Sache mit den Juden und den Konzentrationslagern angedichtet.

»Wo hat der Typ gelebt? Hat er nie Nachrichten geschaut oder sich mal über die Zeit informiert? Wie kann man nur solchen Unsinn schreiben?« Philipp geriet in Rage. »Wenn er noch leben würde, müsste man ihn glatt dafür anzeigen!«

»Er hat noch mehr erzählt, lies weiter!«

Im nächsten Abschnitt des Berichts wurde der alte Fritz wörtlich zitiert.

Auch das, was man der Waffen-SS heute vorwirft, das sind alles Lügen. Viele waren froh, wenn wir kamen! Nein, wir haben als Waffen-SS nie etwas Verbrecherisches gemacht. Wir haben gekämpft, schließlich waren wir im Krieg.

»Diese Zeitschrift gibt es übrigens immer noch, nur unter einem anderen Namen. DMZ-Zeitgeschichte heißt sie jetzt. Die Buchstaben DMZ stehen für Deutsche Militärzeitung.« Matthias war einem Hinweis im Internet nachgegangen und hatte das herausgefunden. »Alle zwei Monate erscheint eine neue Ausgabe und wendet sich auch an Soldaten.«

Nachdem er das gelesen hatte, hatte sich Matthias auch über die Waffen-SS informiert.

Die Waffen-SS war danach eine auserwählte Truppe, die für Säuberungsaktionen zuständig war. Sie war es, die nicht nur an der Front gekämpft hatte, sondern besonders im Hinterland ganze Dörfer und auch größere Wohngebiete und Städte in Brand steckte und Zivilisten ermordete, Frauen, Kinder, alte Menschen. Vor Matthias’ innerem Auge tauchten entsetzliche Bilder auf. Erschießungskommandos, Massengräber, Galgen … Kampf gegen den Widerstand nannten sie das.

Von Baby Jar* hatte er schon gehört, sich damit aber nicht auseinandergesetzt, weil es ihm einfach nach dem, was er erfahren hatte, zu grausam erschien. In der Schlucht von Baby Jar waren am 29. und 30. September 1941 mehr als 30 000 Juden von einer SS-Einsatzgruppe erschossen worden.

Ferner wurden Mitglieder der Waffen-SS in Konzentrationslagern eingesetzt. Als Wachmannschaften gehörten sie zu den SS-Totenkopfverbänden*. Auch der Völkermord an den Sinti und Roma wurde ihnen zur Last gelegt.

Und für den alten Fritz war das alles in Ordnung, was die SS gemacht hatte? Das behauptete er zumindest in seinem Vortrag, über den in der Zeitschrift berichtet wurde. Und er wünschte sich noch mal einen starken Mann zurück, einen Adolf Hitler. Der habe doch durchgegriffen!

Matthias sah, wie Philipp die Zeitschrift weglegte, ans Fenster trat und hinausschaute. Er war verstört. Philipp hatte mit vielem gerechnet, als sein Freund ihm von seinem Fund erzählte, aber nicht mit so was.

»Warum ist dieser Mann uns nicht aufgefallen? Oder sonst jemandem im Ort? Wie konnte er so unbemerkt mitten unter uns leben?« Und nach einer Pause fragte er: »Gibt es noch mehr solcher Behauptungen?«

»Es gibt noch einen Stapel Autogrammkarten, fast alle schon signiert. Oft bekam er Fan-Post von seinen Anhängern, die ihn um ein Autogramm baten. In frankierten Rückumschlägen schickte er sie seinen Kameraden zu. Hier, ein ganzer Ordner voller Anfragen. Aber das nur nebenbei. Ich habe noch was gefunden, und wenn sich das bewahrheitet, dann war der alte Fritz ein Kriegsverbrecher. Zwischen all den Unterlagen habe ich noch diese beiden Zeitungsartikel entdeckt.«

Matthias drückte sie Philipp in die Hand.

»Warum hat der alte Fritz diese beiden Berichte aufgehoben? Die Frage ist mir immer wieder durch den Kopf gegangen. War er etwa mit dabei? War er einer von denen, die in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden?«

»Das glaube ich nicht … das kann doch nicht sein, oder?« Aber auch Philipp konnte sich keinen Reim darauf machen, warum der alte Fritz ausgerechnet diese beiden Zeitungsartikel in seiner Truhe aufgehoben hatte.

»Lass es uns rausfinden, bevor wir weiter- spekulieren!« Matthias schaltete seinen Computer an, gab in die Suchmaschine die beiden Begriffe »Ascq« und »Massaker« ein, drückte die Entertaste und schon tauchten massenhaft Suchergebnisse auf. Sowohl bei Wikipedia als auch auf vielen anderen Seiten wurden die beiden Freunde fündig. Es waren harte Fakten, die sie dem Text entnahmen.