Die erste Woche nach den Ferien verlief fast wie immer in den vergangenen Jahren. Es gab neue Stundenpläne, neue Lehrer und … in der Klasse von Philipp und Matthias eine neue Schülerin.
Matthias und Philipp hatten gehofft, der Zeitungsartikel vom letzten Wochenende würde in irgendeiner Weise unter den Mitschülern thematisiert werden, doch Fehlanzeige. Hatte ihn wirklich niemand gelesen oder hatten sie einfach kein Interesse? Stattdessen standen die Urlaubserlebnisse im Mittelpunkt.
»In welchem Kaff bin ich hier gelandet?«, fragte die neue Mitschülerin, die sich als Sandra vorstellte, Philipp. »Ich hatte ja nie Lust auf Provinz. Hannover war echt eine andere Nummer.«
»Kaff ist vielleicht die richtige Bezeichnung. Wir sind eben eine typische deutsche Kleinstadt, in der jeder jeden kennt. Hier gibt es viel Klatsch und Tratsch, aber an wichtigen Dingen haben die meisten kein Interesse. Ich will dir die Stadt nicht madig machen, sie hat auch viele gute Seiten. Kommt eben immer drauf an, was man will.«
»Kino, Disco, einen Freundeskreis, das wär mir wichtig. Ich schau mir gern gute Filme an und ab und zu möcht ich auch mal so richtig abtanzen.«
»Mit einer zeitlichen Verzögerung kommen die guten Filme auch bei uns ins Kino und eine Disco können wir ebenfalls bieten. Ansonsten sind wir im Schwimmbad, in der Eisdiele, fahren Rad, je nachdem, wozu wir Lust haben.«
»Und wozu hast du Lust?«, fragte Sandra mit einem Lächeln.
»Ich häng oft mit Matthias zusammen. In den Ferien waren wir manchmal im Gartenhaus meiner Eltern. Wir haben aber auch noch was ganz Besonderes zusammen gemacht.«
»Oh, Geheimnis?«, wollte Sandra wissen.
»Nein, inzwischen nicht mehr. Letztes Wochenende stand es sogar in der Zeitung.«
»Du sprichst in Rätseln! Habt ihr an einem Sportwettkampf teilgenommen und einen Pokal gewonnen oder wofür kommt man hier in die Zeitung? Wir haben noch keine, sonst hätt ich es vielleicht schon gelesen.«
»Nein«, lachte Philipp, »kein Wettkampf mit Pokal als Siegertrophäe. Matthias und ich haben was aufgedeckt, wovon niemand in der Stadt wusste. Um es genau zu sagen: Es war ein Kriegsverbrechen!«
Sandra schaute ihren Klassenkameraden ungläubig an. »Ein was?«
»Du hast richtig gehört, es war ein Kriegsverbrechen. Wenn es dich interessiert, können wir uns gern irgendwo hinsetzen und ich erzähl dir die ganze Story.«
Sandra schaute auf ihre Uhr. »Heute Nachmittag um vier Uhr? Jetzt muss ich erst mal nach Hause. Mittag essen, Kisten vom Umzug auspacken, aber für meine Neugier schaufle ich mir die Zeit mit dir frei.«
Philipp freute sich und nickte. »Wo sollen wir uns treffen?«
»Ich kenn eure Eisdiele noch nicht, vielleicht wär das die Gelegenheit, sie zu testen.«
Philipp freute sich über die Neugier von Sandra. Auf jeden Fall würde er ihr die Wochenendausgabe der Zeitung mitbringen.
Sandra saß schon vor ihrem Eisbecher, als Philipp pünktlich um vier Uhr eintraf. Ohne große Vorrede schob er ihr den Zeitungsartikel über den Tisch.
»Hier, der erste Bericht, doch das ist erst der Anfang, es wird vermutlich noch zwei weitere Artikel geben.«
»Hallo Philipp, schön dass du da bist«, spöttelte Sandra. »Das Eis ist … na ja, ganz okay. Nimmst du auch eins?«
Philipp schaute sie verwirrt an. »Entschuldigung«, sagte er kleinlaut. »Klar, ich bestell auch ein Eis. Es hat mich einfach gefreut, dass du dich dafür interessierst, was Matthias und ich rausgefunden haben, da haben wir in den letzten Monaten viel Zeit reininvestiert.«
»Verstehe«, sagte Sandra, »aber mir geht es nicht nur um deinen Zeitungsartikel, ich bin schließlich neu hier und möchte gern rausfinden, mit wem ich’s zu tun hab. Die Mädels in der Klasse sind sehr zurückhaltend, da hab ich noch keine gefunden, die sich mit mir auch mal außerhalb der Schule treffen will.«
»Bin ich der Erste?« Philipp war erstaunt, als Sandra nickte.
»Oh, ich dachte, bei euch Mädels wär die Kontaktaufnahme viel leichter, aber wahrscheinlich ist das nur ein Vorurteil.«
»Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich möchte mit dir jetzt nicht anbandeln oder wie man so sagt. Du hast mich nur neugierig gemacht, als du von dem Zeitungsbericht erzählt hast. Das war was anderes, als sich mit den Mädels aus der Klasse über Mode, Schminke oder Möchtegernfreunde zu unterhalten. Vielleicht ist das auch ein Vorurteil meinen Klassenkameradinnen gegenüber, weil ich sie noch nicht gut genug kenne, um mir ein Bild von ihnen zu machen. Wenn sie aber in Grüppchen zusammenstehen und miteinander tuscheln, dann geht es eben meist um Klamotten oder so.«
»War auch nicht meine Absicht, mit dir anzubandeln, wie du es nennst.«
»Schade!«, prustete Sandra und setzte gleich hinterher: »Scherz!«
»Du bist die Erste, die sich für den Artikel interessiert hat«, redete Philipp schnell weiter. »Ich weiß nicht, ob die andern keine Zeitung lesen, bei dir hatte ich es gar nicht erwartet, weil du ja neu bist. Aber wenn alle aus der Klasse den Bericht noch nicht mal gelesen haben, wurde dann bei ihnen zu Hause das Thema überhaupt angesprochen? War niemand empört, dass so über einen Toten berichtet wird? Hat sich niemand aufgeregt, dass man die Nazizeit doch endlich mal hinter sich lassen sollte? Hat auf der anderen Seite kein Mensch gesagt, dass es gut sei, mal etwas Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen …?«
»Ich weiß noch gar nicht genau, worum es geht«, unterbrach ihn Sandra. »Vielleicht sollte ich zuerst mal den Bericht lesen, dann können wir weiterreden.«
Sandra nahm die Zeitung, schlug sie auf und las. Ab und zu schüttelte sie ungläubig den Kopf.
»Dieser Friedrich Schmidt«, sagte sie, als sie mit dem Artikel durch war, »war das wirklich einer hier aus der Stadt, den die Leute kannten?«
»Ja, sicher«, bestätigte Philipp. »Er war ein Nachbar von Matthias.«
»Und keiner will etwas von dem gewusst haben, was hier in der Zeitung steht? Unglaublich!«
»Vielleicht hatte er ja ein paar Vertraute in der Stadt. Aber die haben wohl dichtgehalten. Oder sie haben es als Geschwätz eines alten Mannes abgetan. Wenn er die ganzen Naziunterlagen nicht auf seinem Speicher verwahrt hätte, wäre vermutlich auch nie irgendwas rausgekommen.«
»Und du und Matthias, ihr habt das aufgedeckt?«
Philipp nickte. »Matthias war es, der die Sachen gefunden hat, aber er hat mich gleich eingeweiht.«
»Das nenn ich mal eine Leistung«, sagte sie anerkennend. »Was habt ihr jetzt weiter vor? Gibt es schon Reaktionen?«
Philipp konnte ihr nur von seinen Beobachtungen in dem Stehcafé erzählen. Enttäuscht war er, dass der Bericht nicht mal in der Schule angesprochen wurde, weder unter den Mitschülern noch von den Lehrerinnen und Lehrern. »Wenigstens von unserem Geschichtslehrer hätte ich das erwartet.«
»Dann wollen wir mal ein bisschen Schwung in die Sache bringen«, entschied Sandra. »Das ist es doch, was ihr wollt, oder?«
»Klar.«
Sie bestellten sich noch ein Eis und fingen an, Pläne zu schmieden. Mit Sandra ging das sehr gut, sie hatte viele Ideen, die sich oft mit seinen deckten. Gelegentlich kam die Bedienung vorbei und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie nickten nur und redeten weiter.
»Ich werde heute Abend noch mit Matthias reden und ihm erzählen, was wir uns überlegt haben«, sagte Philipp zum Abschied.
»Mach das«, stimmte Sandra ihm zu. Sie schauten sich an, dann umarmte sie ihn.
»Kein Anbandeln«, sagte sie wieder mit einem Lächeln, drehte sich um und ging. Philipp blieb noch einen Augenblick stehen. Mit der Umarmung hatte er nicht gerechnet.