Matthias und Philipp forschten bis in die frühen Abendstunden im Internet nach weiteren Informationen. War der alte Fritz tatsächlich in dieses Massaker von Ascq verwickelt gewesen? Hatte er sich damals schuldig gemacht? Immer wieder ging es um diese beiden Fragen. Schließlich fanden sie einen Hinweis.
In einem Bericht lasen sie:
Die zuständige Staatsanwaltschaft Hannover führte gegen Friedrich Schmidt im Jahr 2016 ein Ermittlungsverfahren durch. Die Anschuldigung lautete Beihilfe zum Mord.
»Also war er beteiligt!«, stellte Philipp sachlich fest. »Eine Staatsanwaltschaft führt ja nicht einfach so eine Ermittlung durch!«
»Dann war er einer von denen, die in Abwesenheit verurteilt wurden«, kommentierte Matthias. »Und was ist mit denen passiert, die in Lille vor Gericht standen? Ihre Urteile wurden später umgewandelt, hab ich in einem Bericht gelesen. Angeblich auf Betreiben von Hinterbliebenen. Ob man da noch an Informationen kommt, wer das veranlasst hat?« Matthias nahm sich vor, der Frage nachzugehen.
Die Jahreszahl 2016 ließ den beiden Freunden keine Ruhe.
»Warum ist die Staatsanwaltschaft erst so spät gegen den alten Fritz aktiv geworden? Warum nicht früher? Und wer hat die Staatsanwaltschaft überhaupt veranlasst, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten?«
Fragend schauten sich die beiden an.
»Dass er an dem Massaker beteiligt war, steht ja ganz offensichtlich fest. Aber warum wurde das Verfahren zwei Jahre später bereits wieder eingestellt?«, grübelte Matthias.
»Wir müssen schauen, ob wir irgendwo eine Begründung finden.« Philipp saß schon wieder vor dem Bildschirm und scrollte weiter nach unten.
»Hier!«, sagte er plötzlich, als er den knappen Text gelesen hatte, »hier steht es! ›Wenn ein Angeklagter einmal für seine Tat von einem Gericht verurteilt wurde, darf er nach geltendem Recht für die gleiche Tat kein zweites Mal verurteilt werden‹«, las Matthias vor.
»Das erste Urteil gegen den alten Fritz wurde doch aber nie vollstreckt!« Matthias verstand die Begründung nicht.
»Richtig«, meinte Philipp, »weil er nicht nach Frankreich ausgeliefert wurde.«
»Und wieso kommt eine deutsche Staatsanwaltschaft auf die Idee, Jahrzehnte nach der Tat zu ermitteln?«
»Ein Nachfahre eines der Opfer von Ascq hat durch Recherchen herausgefunden, dass Friedrich Schmidt seit Kriegsende unbehelligt in seinem Heimatort lebte und nie für seine Taten büßen musste. Er war es, der bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Anzeige wegen ›Verbrechens gegen die Menschlichkeit‹ erstattet hat. Ein weiterer Anklagepunkt war die Leugnung des Holocaust. So kam es zu den Ermittlungen, und als sich herausstellte, dass der alte Fritz für die eine Tat schon mal verurteilt wurde, hat man das Verfahren schnell wieder eingestellt.«
»Warum wurde er niemals ausgeliefert? Er hätte doch in Frankreich seine Strafe absitzen können!«
Philipp las weiter. »Hier steht, dass es in Frankreich eine Verjährungsfrist gibt. Danach muss ein Urteil spätestens zwanzig Jahre nach der Verkündung vollstreckt sein. Und die war im Fall vom alten Fritz abgelaufen.«
»Und warum wurde er nicht gleich nach der Urteilsverkündung ausgeliefert?«
Darauf fanden sie an diesem Nachmittag keine Antwort.
»Und was wurde aus der Anklage wegen Leugnung des Holocaust?«
»Die wurde nicht weiterverfolgt, weil der Angeklagte angeblich verhandlungsunfähig war.« Philipp schüttelte den Kopf. »Zum Gericht konnte er nicht, aber Vorträge halten, das ging?«
»Ist das gerecht?«, fragte Matthias.
»Recht und Gerechtigkeit sind manchmal zwei verschiedene Dinge, wie man in diesem Fall sieht. Gerecht wäre es auf jeden Fall gewesen, wenn der alte Fritz seine Strafe hätte absitzen müssen. Aber das Recht, die Gesetze, haben das verhindert.«
»Was wurde aus den anderen Verurteilten? Wurden sie wirklich hingerichtet?« Matthias überkam ein zwiespältiges Gefühl. Seine Strafe im Gefängnis zu verbringen, das konnte er sich vorstellen, aber nicht eine Hinrichtung mit der Guillotine.
Philipp hatte inzwischen herausgefunden, dass die Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt wurden. »Und weißt du, wer die Initiative dazu ergriffen hat?«, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.
Matthias schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Es waren Angehörige der Opfer, die gemeinsam mit einem Priester einen Brief an den französischen Staatspräsidenten richteten und ihn um Gnade baten.«
»Gibt es diesen Brief?«, fragte Matthias.
»Ich kenne da jemanden, der kommt mit ein paar Mausklicks in Archive, von denen wir nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Der arbeitet manchmal auch für die Uni, also alles völlig legal. Den werd ich mal anrufen.«
Zwei Tage später hatte Philipp die Antwort und zeigte sie seinem Freund.
»Hier, er ist fündig geworden. Das ist der Brief!«
Sehr geehrter Herr Präsident!
Die Unterzeichner dieses Briefes wenden sich mit großem Respekt und in persönlicher Eigenschaft an Ihre höchste Autorität; sie sind enge Verwandte derjenigen, die am 1. April 1944 Opfer des schrecklichen Massakers in Ascq wurden.
Der Schritt, mit dem wir auf Sie zugehen, erinnert uns an die schmerzhaftesten Momente unseres Lebens und berührt uns zutiefst. Als Christinnen kommen wir zu Ihnen und bitten Sie um Gnade für die Deutschen, die wegen des Massakers von Ascq angeklagt und am 6. August 1949 vom Gericht in Lille zum Tode verurteilt wurden.
Das Gesetz Christi schreibt uns Vergebung vor, und Sie werden verstehen, dessen sind wir uns sicher, Herr Präsident, dass kein menschliches Motiv in der Lage ist, dieses Gnadengesuch zu diktieren. Aber in den letzten fünfzehn Jahren wurde bereits so viel Blut unnütz vergossen, warum sollte man das Blut dieser Verurteilten hinzufügen? Es würde weder die Gerechtigkeit noch die Zuneigung befriedigen, die wir für diejenigen hegen, von denen wir getrennt bleiben. Es würde nur den Wunsch nach Rache befriedigen, den unser Glaube uns verbietet.
Seit elf Jahren hat unser Unglück dem Hass gedient. Wir wünschen uns, dass es der Förderung von Nächstenliebe und Frieden dient.
Wir würden es begrüßen, wenn Sie diesen Brief als streng vertraulich und persönlich betrachten würden.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, den Ausdruck unseres Vertrauens und unseres höchsten Respekts.
Zu Ascq, Pfingsten 1955.
Es folgten sieben Unterschriften mit Angaben zu den Unterzeichnern.
»Das nenne ich mal eine Haltung von den Hinterbliebenen, Hut ab vor diesen Menschen!« Matthias verneigte sich ehrfurchtsvoll mit dem Brief in der Hand. »Die Formulierungen stammen sicher von dem Priester«, vermutete er. »Gab es noch weitere Hinweise, die dein Bekannter herausgefunden hat?«, bohrte er neugierig nach. »Hat der Präsident auf den Brief reagiert?«
»Ein Antwortschreiben war leider nicht zu finden«, gestand Philipp, aber die Todesurteile wurden tatsächlich im Juli 1956 in Haftstrafen umgewandelt. Und wenig später wurden die Schuldigen auch schon aus der Haft entlassen und kehrten nach Deutschland zurück.
»Die Begnadigung galt übrigens auch für Friedrich Schmidt. Im Rahmen der deutsch-französischen Aussöhnungsbemühungen wurden nicht nur er, sondern auch alle anderen, die man in Abwesenheit verurteilt hatte, begnadigt.«
Als Obersturmführer Walter Hauck nach Deutschland kam, lasen sie im Internet weiter, wurde er von Mitgliedern des Freundeskreises ehemaliger SS-Angehöriger empfangen. In der Zeitschrift Der Freiwillige berichtete man über seine Rückkehr nach Deutschland, die hier groß gefeiert wurde.
»Unter einer gerechten Strafe stell ich mir was anderes vor«, sagte Matthias. »Offenbar gab es aber bei diesem Hauck nicht den Hauch von Einsicht und Reue. Der hat wohl genau da weitergemacht, wo er vor seiner Verurteilung aufgehört hatte.«
Philipp fühlte sich erschöpft. »Ich muss das erst mal alles verdauen, bevor wir uns weiter Gedanken machen. Wenn ich nach Hause komm, zieh ich als Erstes meine Sportschuhe an und lauf eine Runde, um den Kopf freizukriegen.«
»Gute Idee. Würd ja gern mitlaufen, aber ich muss noch mal los, einkaufen. Ein andermal.«