4.
Anne Capestan stand vor der Wohnung, die Fäuste im Schutz ihrer Manteltaschen geballt, und fürchtete sich vor dem Moment, in dem die Tür aufgehen würde. Natürlich war es ihre Pflicht, hier zu sein. Sie hatte nicht eine Sekunde lang daran gedacht, sich aus der Affäre zu ziehen. Aber es fiel ihr nicht leicht, die instinktive Wut in Schach zu halten, die jederzeit hervorbrechen konnte. Zum Glück halfen Traurigkeit und Mitgefühl ein wenig.
So würde sie ihn also wiedersehen. Und sein neues Umfeld kennenlernen, denn damals hatte er den Großzügigen gespielt und ihr die Wohnung überlassen. Nein, verbesserte sich Capestan mit all dem Gutglauben, den sie aufbringen konnte, er hatte nicht den Großzügigen gespielt
, er war großzügig gewesen
. Wie immer. Diese Wohnung, das wusste sie, war das letzte Überbleibsel eines schier unglaublichen Vermögens, das sich wieder auf ein Normalmaß reduziert hatte. Paul hatte nur die Möbel seiner Großeltern mitgenommen, und die Waschmaschine und den Geschirrspüler, mit einer klaren Botschaft dahinter: Du benutzt sie ja sowieso nicht.
Trotzdem hatte er bei der ersten Schwierigkeit die Flucht ergriffen und sich hinter selbstgefälligem Moralapostelgerede
versteckt. An jenem Tag hatte sie einen Dreckskerl getötet, nachdem sie zuvor schon ein paar andere zum Krüppel gemacht hatte. Ihre Karriere stand vor dem Aus, und sie zeigte nicht den Hauch eines Bedauerns. Sie wollte ihr Handeln nicht kommentieren, sich nicht rechtfertigen und schon gar nicht darüber reden. Paul hatte einige Minuten gewartet, dann war er gegangen.
Capestan hörte Schritte, die sich näherten. Sie spannte sich an. Alles um sie herum verschwand.
Die Tür öffnete sich, und vor ihr stand der schönste Mann, den sie kannte. Ihr Ehemann. Paul schien alles Licht der Stadt in sich aufzusaugen. Er war wie ein Feuerwerk inmitten von LED
-Lampen. Seine Mutter, die sonst eher bescheiden war, hatte sich jedes Mal, wenn der strahlende Stern einen Raum betrat, gebrüstet: »Da haben wir wirklich nicht weit danebengelegen, sein Vater und ich. Wir haben ihm den Vornamen von Newman gegeben, und er hat das Gesicht von Redford.« Woraufhin der unausstehliche Vater geantwortet hatte: »Ja, eine hübsche Schauspielervisage.« Und mit einem Mal war das Kompliment verpufft, und der Stolz glänzte durch Abwesenheit.
Dieser Vater war heute gestorben. Ermordet worden. Und Capestan musste es seinem Sohn mitteilen.
Pauls Lächeln erlosch beim Anblick ihrer ernsten Miene. Sie kam nur als Botin, als Überbringerin einer Nachricht, die jede Lockerheit zunichtemachte. Das Wiedersehen würde eisig und bleiern ausfallen. Sie trat die Flucht nach vorn an.
»Hallo. Kann ich kurz reinkommen?«
Er zögerte, beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, wich jedoch wieder zurück, als sie sich versteifte. Schließlich trat er wortlos einen Schritt beiseite, um sie
vorbeizulassen. Sie streifte seinen Arm. Er duftete immer noch nach Kiehl’s.
»Danke.« Sowohl aus Stolz als auch aus Anstand unterdrückte Capestan den Drang, sich umzuschauen. »Wir setzen uns besser, wenn es dir nichts ausmacht.«
Ihr Tonfall und die gesamten Umstände dieses ersten Treffens nach einem Jahr waren völlig unpassend, deswegen begriff Paul schnell, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelte. Er kannte seine Ehefrau gut genug, um zu wissen, dass sie keine Spielchen mit ihm trieb. Also deutete er auf das Sofa und ließ sich selbst in den Sessel gegenüber sinken. Capestan nahm Platz, ohne ihren Mantel auszuziehen. Dann faltete sie die Hände und fuhr rasch über die Narbe an ihrem linken Zeigefinger.
Sie suchte nach einer Formulierung, der richtigen Vorgehensweise. Ihr Beruf hatte sie schon oft in diese Lage gebracht. Aber noch nie mit Paul. Er beobachtete sie geduldig, mit der fatalistischen Miene eines Soldaten, der sich darauf vorbereitet, Schläge einzustecken, in hartem Training an den Schmerz gewöhnt. Seit er ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte, rechnete er mit nichts Gutem. Und damit lag er richtig, so leid es Capestan auch tat. Sie hörte, wie ihre Stimme ihr die Entscheidung abnahm, kühler, als sie es sich gewünscht hätte.
»Ich bin hier, weil ich dir etwas Trauriges mitteilen muss, Paul. Dein Vater …«
Sie senkte einen Moment lang den Blick, und als sie ihn wieder hob, hatte Paul bereits verstanden und wartete nur noch auf ihre Bestätigung.
»Er ist ermordet worden. Heute Morgen höchstwahrscheinlich.
«
Paul rutschte bis an die Lehne seines Sessels zurück und fixierte einen Punkt auf dem Couchtisch. Seine rechte Hand strich sanft über das braune Leder der Armlehne. Hin- und hergerissen zwischen Schock, Trauer und dem Bedürfnis, Haltung zu bewahren, verbiss er sich jede Reaktion. Nur seine Beine zitterten leicht. Capestan tat, als würde sie es nicht bemerken.
Um ihren Ehemann nicht länger leiden sehen zu müssen und ihm die Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen, ließ sie den Blick durch die Wohnung schweifen. Die Einrichtung war, wie sie es nicht anders vermutet hatte, gemütlich, fröhlich und sehr männlich. Ein gewaltiges Bücherregal nahm die gesamte Längsseite des Wohnzimmers ein, bis zum Bersten vollgestopft mit Taschenbüchern, Comicheften, DVD
s, Rugbypokalen, Plastikfiguren von Filmcharakteren und kleinen Bildern, hauptsächlich Meeresansichten, die aufs Geratewohl verteilt waren. Ein Esstisch fehlte, dafür entdeckte sie einen einigermaßen aufgeräumten Schreibtisch und dahinter eine gut ausgestattete offene Küche.
Trotz des traurigen Anlasses war Capestan Polizistin durch und durch. Reflexartig tastete sie wie ein Echolot die Umgebung ab, erfasste alle Details und wertete die Daten aus. Und in diesem großen Zimmer fand sie weder Spuren einer Frau noch die eines neugeborenen oder erwarteten Kinds. Nichts deutete darauf hin, dass Paul regelmäßig Besuch empfing. Er schien Single zu sein. Eine seltsame Freude wallte in ihr auf, durchströmte ihre Adern und drängte die Verbitterung und den alten Zorn in die hintersten Winkel ihres Körpers. Doch sie würden bald an ihren angestammten Platz zurückkehren. Capestan wollte diese Freude nicht. Sie nahm sie sich sogar übel
.
Die Ecke eines umgedrehten Bilderrahmens erregte ihre Aufmerksamkeit. Er ragte hinter dem Geschirrschrank neben der Küche hervor. Sie erkannte ihn wieder, aus einer so lange vergangenen Zeit, dass sie fast unwirklich anmutete. Den Profilrahmen aus Holz hatte Capestan selbst gebaut, zu Pauls Dreißigstem. Ein mal zwei Meter. Eine Collage aus Fotos, Kinokarten, Kieselsteinen, Konzerttickets, Möwenfedern und anderen Souvenirs von ihren Erlebnissen zu zweit. Damals hatte es nichts gegeben, was der große Star nicht schon gehabt hätte, und kein Geschenk hatte ihn mehr überraschen können. Aber dieses Teil, das man unmöglich aufhängen konnte, hatte ihm die Sprache verschlagen. Glücklich und zufrieden hatte er wie angewurzelt davorgestanden. Noch nie hatte ihm jemand etwas gebastelt. Fünfzehn Jahre später fragte Capestan sich immer noch, was sie damals geritten hatte. Sowohl sie als auch er waren die Schamhaftigkeit in Person, und sie hätten ihre Beziehung niemals derart zur Schau gestellt. In den darauffolgenden Jahren hatten sie die Collage bei jedem Umzug mitgeschleift und irgendwo in der Wohnung versteckt, ohne sich dazu durchringen zu können, sie wegzuwerfen oder wenigstens in den Keller zu verbannen.
Gegen ihren Willen gerührt, richtete Capestan den Blick wieder auf Paul. Eine goldene Strähne verbarg Augen von derselben Farbe.
Er weinte nicht.
Um diesen Vater hätte sie auch nicht geweint.
Trotzdem verzerrte der Kummer seine Züge und ließ seinen Kiefer zucken.
Vielleicht hätte sie etwas sagen, ihn trösten sollen. Vielleicht wollte sie ihn trösten. Doch sie blieb reglos sitzen, tat nichts
.
Er starrte sie an, schien ebenfalls nach einem Wort, einem Satz zu suchen, bevor er es sich anders überlegte. Er stemmte sich aus dem Sessel und ging in Richtung Küche, wo er den Wasserbehälter der Kaffeemaschine füllte.
»Willst du auch einen?«
»Ja, bitte.«
Das Schweigen machte sich im Zimmer breit, türmte sich zwischen ihnen auf und versperrte ihnen die Sicht. Die Überreste ihrer Liebe huschten wie Geister an den Fußleisten entlang. Sie fanden nicht die richtigen Worte, weil es die wahrscheinlich nicht gab.
Paul stellte eine Tasse vor sie auf den Couchtisch, mit einem kleinen Stück Zucker und einem Mokkalöffel auf der Untertasse. Dann setzte er sich wieder, seine eigene Tasse in der Hand.
Nachdem er ein paar Minuten darin herumgerührt hatte, fragte er schließlich: »Du bist nicht mit den Ermittlungen beauftragt, oder?«
Die unterschwellige Aggressivität in seinem Ton entging Capestan genauso wenig wie die Resignation. Sie antwortete knapp: »Doch.«
Er stieß einen leisen Seufzer aus und leerte seine Tasse.
»Du konntest ihn nie leiden.«
Die Umstände verlangten ein gewisses Taktgefühl, aber es war sinnlos, das Offensichtliche zu leugnen.
»Nein.«
»Beschmutze sein Andenken nicht.«
Reflexartig nickte sie. Und schalt sich sogleich selbst. Dieses Versprechen würde sie unmöglich halten können.