10.
»Edle Damen, werte Herren, man hat mich angekündigt: Hier bin ich nun!«, gab der Mann in einem Tonfall bekannt, der eher herausfordernd als affektiert klang.
Er stand in der Eingangstür, klein und hager, hatte seinen Filzhut abgenommen und ließ den Blick über die im Wohnzimmer versammelten Polizisten schweifen. Mit einem ironischen Lächeln strich er über seinen Schnurrbart, bevor er grüßend den Kopf neigte.
»Ich wünsche Euch allen einen guten Tag und ersuche Euch – und zwar nur ein einziges Mal –, mich nicht D’Artagnan zu nennen. Mein Name ist Saint-Lô.«
Die Angesprochenen schwiegen verdutzt. Man hatte ihnen überhaupt nichts angekündigt. Gleich sollte die Besprechung stattfinden, und dieses plötzliche Übermaß an Präsenz unterbrach sie in ihren Vorbereitungen.
Der in der Brigade durch eine Art stillschweigende Übereinkunft herrschende Willkommensgeist wurde auf eine harte Probe gestellt. Der Neuzugang wollte die Begrüßungsrede anscheinend selbst übernehmen. Ohne den geringsten Hauch von Verlegenheit oder Zögern betrat Saint-Lô rasch, aber dennoch leichtfüßig das Zimmer und steuerte, eine Hand im Rücken um seinen Hut geschlossen, auf das Fenster zu. Er bewegte sich so präzise und geschmeidig wie Quecksilber, jederzeit bereit auszuweichen.
»Sicherlich wisst Ihr, dass man Heinrich IV . genau hier hinterhältig gemeuchelt hat.« Das Gebäude ging tatsächlich nach Süden hin auf die Rue de la Ferronnerie hinaus, wo eine Gedenktafel den Ort des Attentats markierte, das der wahnsinnige François Ravaillac verübt hatte. »Direkt da unten.«
Reflexartig wanderten Dax’ und Lewitz’ Augen zum Parkettboden, als würden sie dort die königliche Kutsche erwarten.
»Damals war ich noch ein kleiner Grünschnabel, ich konnte nichts tun. Nichts!« Saint-Lô schüttelte mit ehrlich reuiger Miene den Kopf.
Hmpf, dachte Capestan. Der Klinikaufenthalt hat offenbar nicht die erhofften Früchte getragen. Saint-Lô wandte sich zu ihr um, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Ich kann mir vorstellen, was Ihr jetzt denkt …«
Er machte eine Kunstpause und imitierte eine Schreibbewegung.
»›Die Nervenheilanstalt ist ihm wohl nicht bekommen.‹«
Er ließ die Hand wieder sinken, bevor er, ein wenig erschöpft, weitersprach: »So ist es auch. Denn ich muss nicht geheilt werden. Ich weiß, wer ich bin, und dieses Wissen kann mir keine Zwangseinweisung nehmen.«
»Schon gut, Capitaine, damit hat niemand hier ein Problem«, warf Capestan beschwichtigend ein.
»Lasst mich bitte ausreden«, schnitt Saint-Lô ihr das Wort ab, nicht aggressiv, aber fest entschlossen, mit seiner Vorstellung fortzufahren. »Ich dulde diese Behandlungen nur meiner Stellung und meiner Besoldung wegen. Sicherlich seid Ihr der Meinung, die Aufenthalte hätten mich zumindest lehren sollen, den Mund zu halten, um des lieben Friedens willen, aber nein – die letzten Jahre meines Daseins haben mir bewiesen, dass Schweigen zwecklos ist, man jagt die Hexen auch nicht weniger, wenn sie sich verkriechen. Also lebe ich, wie ich es für richtig halte, und Eure bedauernswerten Ansichten werden nichts daran ändern. Schmäht und provoziert mich, sooft Ihr wollt, Ihr seid nur eine von vielen Brigaden, in die man mich abgeschoben hat.«
Capestan sinnierte über all die Philosophen nach, die das Alter zum Garanten für Weisheit und inneren Frieden erhoben. Dieser vor Misstrauen nur so strotzende Mann versetzte ihnen einen herben Dämpfer. Die tausendste Reinkarnation des Buddhas war ein Giftzwerg. Das Schauspiel hatte jetzt lange genug gedauert, hier gab es einen aktuelleren Fall, der die Aufmerksamkeit des Teams verdiente. Vielleicht hatte Saint-Lô sogar die Güte mitzuwirken.
»Gut, vielen Dank für Ihre Ausführungen und herzlich willkommen, Capitaine. Eine Ermittlung wartet auf uns. Sind Sie an Bord?«
Ein wenig überrumpelt vom abrupten Ende eines Kampfs, der für ihn noch mit stumpfem Florett ausgefochten wurde, nickte Saint-Lô.
»Selbstredend. Wenn ich behilflich sein kann …«
»Sie haben ein funktionierendes Gehirn, oder?«
Eva Rosière, die gerade eine in Seidenpapier gewickelte Christbaumkugel auspackte, beugte sich zu ihrem Partner und flüsterte: »Und wenn man bedenkt, dass Dax hier ist, ist vermutlich nicht einmal das zwingend notwendig.«
Louis-Baptiste Lebreton hatte das Whiteboard neben dem Kamin platziert, gegenüber dem Weihnachtsbaum. Der erstrahlte mittlerweile in voller Pracht. Jedes Mitglied der Brigade hatte nach und nach einen persönlichen Schmuck mitgebracht. Das zusammengewürfelte Ergebnis hätte in den Edelboutiquen und schicken Parfümerien wohl niemanden begeistert, aber im Kommissariat sorgte es für Stimmung. Commissaire Capestan hatte die Fotos der beiden Opfer Serge Rufus und Jacques Maire sowie das Phantombild in den Rahmen des Spiegels geschoben. Als alle es sich bequem gemacht hatten, fing sie an.
»Diese beiden sind höchstwahrscheinlich vom selben Mann ermordet worden, und zwar möglicherweise von ihm hier.« Sie deutete nacheinander auf die Fotos und das Phantombild. »Stört euch nicht an dem grünen Fell, es geht nur ums Gesicht. Wir müssen herausfinden, was die drei verbindet. Aber zuerst: Haben wir etwas Neues über Rufus? Merlot?«
Der Capitaine mit seinem weitverzweigten Netzwerk war für den Bereich Gerüchte, nächtliche Aktivitäten und ungewöhnliche Bekanntschaften zuständig.
»Wie viele seiner Kollegen bei der Antigang hatte Serge Rufus mit mehr oder weniger zwielichtigen Herrschaften zu tun. Der Großteil seiner Spitzel waren Zuhälter, Hehler, Räuber oder reuige Revolverhelden. Nichts Außergewöhnliches. Auf den ersten Blick stand keiner von den ganz großen Namen der Szene in seinem Adressbuch, und seit dem Renteneintritt hatte er die Brücken zur Unterwelt offenbar vollständig abgebrochen. So wie ich das sehe, also alles im Rahmen des Erwartbaren. Was seine früheren Verwendungen betrifft, habe ich mich allerdings noch nicht umgehört. Lyon, Biarritz … da muss ich andere Kreise bemühen.«
Mit einem Lächeln dankte Capestan Merlot und übergab Lebreton das Wort.
»Der Autopsiebericht ist unvollständig, bestätigt aber die ersten Erkenntnisse: Serge Rufus ist mehrere Stunden lang geschlagen worden. Dabei war er mit Handschellen gefesselt, daher die Blutergüsse und Abschürfungen an den Handgelenken. Keine Spuren eines Knebels, also liegt die Vermutung nahe, dass man ihn zum Reden bringen wollte. Um was zu erfahren? Das wissen wir noch nicht. Anschließend hat man ihn nach draußen transportiert und ihm eine Neun-Millimeter-Kugel zwischen die Augen gejagt, mit einem Schalldämpfer. Der Todeszeitpunkt wird auf sechs Uhr früh geschätzt.«
»Kein unerheblicher Aufwand, einen solchen Schrank von A nach B zu schleifen, damit man ihn an der richtigen Stelle erschießen kann«, bemerkte Capestan. »Was rechtfertigt diesen Kraftakt? Okay, mit dem Straßenschild wird das Ganze zur ausgefeilten, makabren Inszenierung. Aber warum? Nur zum persönlichen Vergnügen des Mörders oder als Botschaft? An wen? Weitere potenzielle Opfer? Möglich. Was uns zu unserem Neuzugang führt: Jacques Maire.« Sie tippte mit einem Marker auf das Foto. »Er ist allerdings vor Rufus ermordet worden, oder?«
Obwohl Orsini gerade erst mit den Nachforschungen begonnen hatte, ergriff er das Wort. »Ja, drei Tage früher. Die Kollegen aus Avignon sind mit der Ermittlung betraut, und da wir die vermutete Verbindung zwischen den Fällen nicht offenlegen sollen, konnte ich sie nicht kontaktieren, um mehr Informationen zu bekommen. Aber ich kenne den La-Provence- Korrespondenten, der für den Bezirk zuständig ist. Er hat auch den Artikel geschrieben«, erklärte er, an Capestan gewandt. »Wir haben bei beiden Fällen das gleiche Vorgehen. Auch in Jacques Maires Gesicht fanden sich Spuren von Schlägen, allerdings weniger als bei Rufus. Vielleicht hat er schneller geredet. Anschließend ist er durch einen Schuss in die Stirn getötet worden, ebenfalls frühmorgens, und zwar am 25. November. Einen Tag nachdem sein Name auf dem Kriegerdenkmal aufgetaucht war.«
»Na, der hatte echt Eier in der Hose. Wenn mein Name auf einem Kriegerdenkmal auftauchen würde, würde ich mir den nächsten fahrbaren Untersatz unter den Hintern klemmen und nichts wie weg!«, warf Eva Rosière ein.
»Das stimmt. Aber er war in der Gemeinde sehr fest verwurzelt, womöglich hatte er noch etwas zu erledigen, bevor er eine Flucht ins Auge fassen konnte.«
»Was für ein Kaff ist das denn genau?« Rosière verschränkte die Arme vor der Brust, was die Anhänger ihrer Kette zum Klimpern brachte.
Pilou, der zu ihren Füßen lag, hob ein Ohr, ließ es aber gleich wieder sinken. Falscher Alarm.
»L’Isle-sur-la-Sorgue, ein charmantes Städtchen im Luberon, östlich von Avignon, in dem es mehr Antiquitätenhändler als Bäckereien gibt und das ab April vor allem vom Tourismus lebt. Die meisten machen eine Rundreise – L’Isle, Fontaine-de-Vaucluse, Gordes, Roussillon und so weiter. Kurz, ein kleiner, aber touristisch gesehen pulsierender Ort. Jacques Maire galt als so etwas wie ein Wohltäter. Ihm gehörte eine der größten Firmen in der Gegend. Provenzalische Luxusmöbel, handgefertigt, bestes Holz. Er hat auch viele Sportclubs und Vereine gefördert und die Kinderkrippe und die Bibliothek unterstützt. Ein höflicher Mann ohne offenkundige Feinde, sehr geschätzt, auch wenn er kein Einheimischer war, weshalb man ihm, wie in ländlichen Gegenden üblich, mit leichter Herablassung begegnete. Er hat sich ›erst‹ vor zwanzig Jahren dort niedergelassen. «
»Tja, wenn man genügend Knete lockermacht, werden selbst die eingefleischtesten Lokalpatrioten umgänglich. Im Rumtönen sind die Maulhelden immer ganz groß, im Rückgratbeweisen eher weniger«, bemerkte Rosière. »Was wissen wir sonst noch über unseren Heiligen?«
»Siebzig Jahre alt, fünfzig davon mit derselben Frau verheiratet, Yvonne Maire, mittlerweile an Alzheimer erkrankt und wohnhaft in der Seniorenresidenz Les Lavandes. Das Paar hat zwei Kinder, zweiundvierzig und siebenundvierzig Jahre alt; die Tochter lebt in Nordengland, der Sohn hat ein Haus vierhundert Meter von dem seiner Eltern entfernt.«
»Ist der Name in das Kriegerdenkmal eingraviert oder einfach draufgemalt worden?«, fragte Lebreton.
Orsini beugte sich zu der prall gefüllten Papiertüte mit Clementinen auf dem Couchtisch, die Dax der Allgemeinheit gespendet hatte. Der Lieutenant selbst schälte gerade seine dritte. Der charakteristische Geruch von Zitrusfrüchten erfüllte den Raum mit einer Behaglichkeit, die sich nur schwer mit irgendwelchen Mordfällen in Einklang bringen ließ.
»Beides«, antwortete Orsini. »Laut einem Kunsthandwerker, den ich kontaktiert habe, ist die Gravur ziemlich stümperhaft, wahrscheinlich mit einem Werkzeug für Hobbykünstler ausgeführt. Und die Farbe wurde ebenfalls sehr grob aufgetragen. Aber die Meinung eines Künstlers über die Arbeit eines anderen …«
»Trotzdem hat sich unser Täter viel Zeit genommen. Gibt es eine Überwachungskamera in der Nähe, an deren Aufnahmen wir rankommen?«
»Nein, für so etwas müsste ich die Kollegen vor Ort kontaktieren«, erinnerte Orsini ihn, während er die dünne Schale der Frucht mit einer Sorgfalt löste, als wollte er sie polieren .
»Natürlich«, lenkte Lebreton ein und griff selbst nach einer grellorangen Clementine. »Also, das ganze Tamtam soll entweder jemandem Angst einjagen oder dient nur dem sadistischen Vergnügen des Mörders.«
»Ja«, sagte Capestan. »Er ist ein Psychopath, hat aber keine festen Rituale – er wechselt das Trägermedium für seine Ankündigungen. Wir müssen die beiden Opfer vergleichen, vielleicht können wir so mögliche weitere Morde vorhersehen. Dax, könntest du auch die Telefonabrechnungen von Jacques Maire besorgen, für die letzten paar Monate? Möglicherweise haben er und Rufus miteinander telefoniert. Oder zumindest mit den gleichen Personen.«
Dax starrte eine kleine Ewigkeit lang reglos ins Leere, bevor er zusammenzuckte und ein Notizbuch aus der Innentasche seiner unvermeidlichen Lederjacke holte, um sich eifrig die Anweisungen aufzuschreiben.
»War die Beerdigung schon?«, fragte Lebreton und schlug die Beine übereinander.
Orsini schüttelte den Kopf und biss in eine glänzende Clementinenspalte. »Die Autopsie hat die Beisetzung verzögert. Sie findet am Freitag statt.«
»Glauben Sie, es lohnt sich hinzufahren, Capitaine?«, fragte Capestan.
Sie kannte die Antwort bereits, wollte jedoch dem Entdecker und Hauptermittler des Falls die letzte Entscheidung überlassen.
»Ja. Und möglichst zu mehreren.«
Commissaire Capestan ließ den Blick über ihre Brigade schweifen. Neben Orsini scharrten auch Eva Rosière und Pilou bereits mit den Hufen. Lebreton würde sie bestimmt begleiten. Die Firma unter die Lupe nehmen, das Phantombild und das Foto von Serge Rufus herumzeigen … sie würden noch zwei Mann zur Verstärkung brauchen.
»Sonst noch Freiwillige?«
Die Ratte steckte die Schnauze aus Merlots Ärmel und sprang auf das nächste Knie: Évrards.
Zum Ersten, zum Zweiten … verkauft!