26.
In der Nähe von Paris, September 1995
Paul stand in dem kleinen Zimmer des Landhotels und versuchte, seine Krawatte zu binden, doch seine Hände zitterten vor Wut. Im Spiegel des Kleiderschranks sah er das angewiderte Grinsen seines Vaters. Der hatte sich zu seiner vollen Größe aufgebaut, in einem Anzug, dessen Nähte über den Muskeln bedrohlich spannten, und hielt seinem Sohn eine Ansprache, damit der seine Meinung änderte, sie verließ.
»Einer Polizistin wirst du nie gewachsen sein. Du bist eine Witzfigur, mit deiner schicken Krawatte da … Wahrscheinlich hast du Stunden gebraucht, um sie auszuwählen, oder? Wie viel hast du springen lassen für deinen Playboy-Anzug? Schau dich nur an, glatt rasiert, parfümiert, gestriegelt …«
»Halt die Klappe«, entfuhr es Paul.
Jetzt nahm Serges Grinsen einen bösartigen Zug an. Er kam näher, maß ihn verächtlich mit dem Blick.
»So redest du nicht mit deinem Vater, du kleiner Scheißer! Für Capestan fehlt dir das Format. Sie wird Dinge erleben, von denen du nicht die geringste Ahnung hast. Während du auf deinen Partys Champagner schlürfst, watet sie im Morast herum. Und wenn sie nach Hause kommt, braucht sie die starke Schulter eines Kerls, der einstecken kann. Und was wird sie finden? Schau dich an, verdammt noch mal! Was wird sie finden?«
»Einen Mann, der mit ihr spricht, ihr zuhört und nicht seinem Sohn eine runterhaut. Das hätte Maman bestimmt auch gefallen.«
Das »Du Wichser«, das er eigentlich hinterherschicken wollte, schluckte er hinunter. Er spürte, dass er den Tränen nahe war, und diese Genugtuung, diese Bestätigung wollte er ihm nicht geben. Scheiße, in seinem Leben passierte endlich etwas Schönes, Gutes, Großes, das auch den letzten Winkel erhellte, aber der Schatten lag immer noch auf der Lauer, wollte wachsen, alles bedrohen.
»Deine Mutter konnte immer auf mich zählen, sie …«
»Auf dich zählen? Du mit deinem Machogehabe warst der schlechteste Ehemann, den man sich vorstellen kann. Sie hatte ein beschissenes Leben, bis sie an ihrer Traurigkeit verreckt ist!«
Die Faust traf ihn an der Augenbraue, die unter der Wucht des Schlags aufplatzte. Blind und benommen prallte Paul gegen den Schrank und zerbrach dabei den Spiegel, dessen Scherben sich klirrend auf dem Boden verteilten. Er wollte sich aufrecht halten, klammerte sich an der Tür fest. Ein Glasstück, das noch im Rahmen steckte, schlitzte ihm die Hand auf. Er wischte sich mit dem Ärmel seines gestärkten Hemds übers Gesicht. Rote Flecken verfärbten das strahlende Weiß des Stoffs, seinen Anzug, seine Krawatte. Paul hob den Kopf und sah den zufriedenen Gesichtsausdruck seines Vaters, der bereit war weiterzuprügeln, um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Eine vertraute Angst stieg in ihm auf. Sie kam von weit, weit her, aus einer Zeit vor der Erinnerung, eingeschrieben in einen kleinen Körper. Sie war schlimmer als jeder Schmerz, denn sie lähmte seine Glieder, sein Denkvermögen, alle Instinkte, die ihm hätten helfen können, sich gegen die leibhaftige Befehlsgewalt zur Wehr zu setzen.
Aber Paul war erwachsen geworden. Rugby, Boxen, Hockey, Kampfsport, die Rangeleien am Ende eines Diskoabends, er hatte alles ausprobiert, um sich an die Gewalt zu gewöhnen. Er bereitete sich schon seit Jahren vor, wartete auf die richtige Gelegenheit, den Funken, der die Angst auslöschen würde.
»Heute ist mein Hochzeitstag, Papa. Bei etwas so Wichtigem hört der Spaß auf. Jetzt wendet sich das Blatt.«
Mit seinem blutenden, halb zugeschwollenen Auge richtete Paul sich auf und bemerkte mit einem Mal, dass er gar nicht kleiner war als sein Vater. Vielleicht sogar größer. Und nicht weniger breite Schultern hatte. Ein urtümlicher Energieschub bemächtigte sich seiner Arme, befreite seinen Brustkorb. Er packte seinen Vater am Revers des Jacketts.
Mit einem einzigen wütenden Uppercut schlug er ihn k.o.
Dann verpasste er ihm eine Ohrfeige, um ihn wieder aufzuwecken.
»Geh in dein Zimmer, zieh dich um und wasch dir das Blut ab. Ich heirate in einer Viertelstunde.«
Der Bürgermeister ließ den Blick zwischen dem anmutigen Gesicht der Braut und der zugeschwollenen Visage ihres Zukünftigen hin- und herschweifen. Paul hatte Mitleid mit dem armen Mann, der stotterte und stammelte und ständig auf seine Notizen starrte, weil er sich nicht konzentrieren konnte.
Die zwanzigjährige Anne trug ein cremefarbenes Kleid von natürlicher Schlichtheit und hatte die Haare zu einem verspielt-eleganten Knoten geschlungen. Paul hatte seine Jeans und das grüne Poloshirt angezogen, die eigentlich für den nächsten Tag gedacht gewesen waren. Was den Stadtvater wahrscheinlich noch mehr verwirrte, war das völlige Fehlen von Stress oder Enttäuschung im Auftreten der Braut und das vor Glückseligkeit strahlende Lächeln auf dem Pflaumengesicht des Bräutigams.
Nach der Auseinandersetzung mit seinem Vater hatte Paul erst einmal eine Dusche genommen, um sich wieder zu beruhigen. Danach hatte er seine blutbefleckten Kleider zusammengeknüllt und in seine Tasche gestopft. Und ganz langsam war der Hass einer einfachen Wahrheit gewichen: Er hatte Kontra gegeben. Sein Vater hatte auf seine Weisung hin das Zimmer verlassen. Zum ersten Mal hatte er den Feind zurückgedrängt, und zwar endgültig, denn Serge Rufus wusste nur allzu gut, wann der Schlussgong geschlagen hatte. Paul hatte sich von seinen Fesseln befreit, jetzt konnte er sich an Anne binden. Die Angst würde noch jahrelang bleiben, eingeprägt in seine Hirnrinde, doch sein Wille schritt voran.
Als er zu Anne gegangen war, um ihr alles zu erzählen, hatten sich ihre Züge sofort verzerrt. Er hatte kaum den ersten Satz beendet, da war sie schon auf dem Weg zur Tür. Er hatte sie aufgehalten. Sie hatten geredet. Das hier war sein Kampf. Er hatte ihr von der Wut berichtet und vom Frieden, den er nun empfand. Der Freude sogar. Auf sie wartete eine Zeremonie, ein neues Leben. Sie hatte ihm ihr Lächeln geschenkt, das alle Wettervorhersagen auf den Kopf stellte, dann waren sie gemeinsam zum Rathaus aufgebrochen.
Nachdem der Bürgermeister vor dem vollen und verblüfften Saal mühsam seines Amtes gewaltet und sie endlich zu Mann und Frau erklärt hatte, tauschten sie ihre billigen schmalen Ringe und gaben sich einen schnellen Kuss – schließlich sahen alle zu, und Pauls Wange tat immer noch ziemlich weh.
Dann drehten die Frischvermählten sich zu ihren Gästen. Die Familien zwangen sich zu lächeln, während sie einander von ihrer jeweiligen Seite des Saals aus misstrauisch beäugten. Pauls ebenfalls derangierter Vater hielt sich mit verkniffenem Mund und finsterer Miene aufrecht wie ein zum Tode Verurteilter. Die verlegenen, aber wenig überraschten Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen taten, als würden sie es gar nicht bemerken, und mieden gleichzeitig die Blicke der Familie Capestan. Das war gar nicht so leicht.
Annes Freunde und Verwandte wahrten eine würdevolle Fassade, schienen aber nichts von dieser ganzen Geschichte zu begreifen. Sie fragten sich bestimmt, ob ihre Enttäuschung noch größer werden sollte, ob sie sogar ihre tiefe Achtung vor dem liebenswürdigen, aufgeweckten Mädchen angreifen würde, das zu dieser eigenartigen Frau herangewachsen war.
Mit dem Polizeiberuf hatte Anne schon einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen. Ihre Erfolge an der Akademie von Saint-Cyr hatten ihr zwar die Türen zu den angesehensten Posten geöffnet, aber wenn sie unbedingt in diesem Bereich arbeiten musste, wäre die Staatsanwaltschaft eine schlüssigere Wahl für eine junge Frau mit ihrem Hintergrund gewesen. Doch wie ihr Großvater, eher bedauernd als bewundernd, immer sagte: »Unsere Anne hat ihren eigenen Kopf. Sie ist ein echtes Original.« Durch diese Ehe liebäugelte sie nun endgültig mit dem Status eines Parias. Selbstverständlich wollte man niemanden vorverurteilen, aber so ungleiche Verbindungen funktionierten nur selten. Sobald es um die Kindererziehung ging, würden die von der postjugendlichen Leidenschaft verwischten Unterschiede schnell wieder hervortreten und die Ehe zersprengen.
Paul war sich bewusst, dass sein Aufzug, sein Gesicht, sein Vater die ohnehin schon tief verankerten und wahrscheinlich begreiflichen Bedenken der Schwiegerfamilie noch befeuerten. Das tat ihm leid für Anne, aber er hatte genug davon, sich ständig zu schniegeln und zu striegeln, um den Schaden zu begrenzen.
Anne neben ihm scherte sich um nichts von alledem. Sie strahlte.
Nachdem die Freunde und Trauzeugen sich erst einmal beruhigt und Bekanntschaft geschlossen hatten, fanden sie einander sehr liebenswürdig. Die Zeremonie war der perfekte Eisbrecher.
Es wurde Zeit, ins Hotel zurückzukehren, wo die Feier stattfinden würde. Anne und Paul hatten nichts Extravagantes gewollt. Zum Teil, um die Unterschiede zwischen ihnen nicht noch zu betonen, aber vor allem, weil Paul darauf bestand, die Rechnung selbst zu begleichen. Der Landgasthof war urig und gemütlich, genau richtig für die ungefähr sechzig Gäste.
Die Festgesellschaft nahm um die beiden langen Tafeln herum Platz, ein wenig überrascht, dass der Begrüßungssekt schon eingeschenkt und lauwarm war. Die letzten Kohlensäurebläschen verendeten an der Oberfläche. Alle hoben ihr Glas, um einen Toast auf das Paar auszubringen, vermieden jedoch tunlichst jede Erwähnung der kläglichen Vorzeichen, unter denen sie es feierten. Dann warteten sie auf das Essen. Lange.
Irgendwann tauchte der Wirt in seiner weißen Kochjacke mit geröteten Augen und verdrossener Miene auf und brachte zusammen mit einem jungen Gehilfen, der sich in seiner karierten Hose sichtlich unwohl fühlte, ein paar Vorspeisensalate. Als der Gehilfe an Paul vorbeikam, beugte der sich vor und fragte leise: »Was ist los?«
Der Junge wand sich und schaute sich verstohlen um, damit sein Chef ihn auch nicht hörte.
»Die Wirtin … Sie ist heute Morgen abgehauen. Hat ihn verlassen. Da passt ihm eine Hochzeit natürlich gerade schlecht in den Kram. Das macht Arbeit. Und außerdem deprimiert ihn Ihr Glück ziemlich.«
Paul und Anne wechselten einen mitfühlenden Blick. »Der Arme …«
»Ja, und außerdem werden die Teller kalt, weil sie sonst den Service übernommen hat.«
»Gibt es denn keine Aushilfe, jemanden, der für sie einspringen könnte?«, hakte Paul, immer noch gedämpft, nach.
»Na ja, in der Gegend hier, so kurzfristig und auch noch an einem Samstag … Außerdem glaube ich nicht, dass er überhaupt in der Verfassung wäre, jemanden anzurufen.«
Der Jungkoch sah ihm direkt in die Augen. Einen hatte er noch, um das Debakel perfekt zu machen: »Und … das tut mir jetzt leid für Sie und Ihre Feier und alles, aber die Chefin hat die Anlage mitgenommen. Bloß um ihn zu ärgern.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Das wird ein Problem mit der Musik. «
Paul und Anne schwiegen einen Moment. Sie waren nah dran, in hysterisches Gelächter auszubrechen. Der Tag wurde allmählich wirklich kompliziert, und die Absurdität der ganzen Situation drängte das Mitgefühl in den Hintergrund.
Plötzlich ertönte die Grabesstimme des Wirts direkt neben seinem Gehilfen, der sich sofort aus dem Staub machte. »Keine Sorge, keine Sorge, Sie kriegen Ihr Festessen schon, wie abgesprochen.«
»Natürlich«, erwiderte Paul beschwichtigend. »Aber erlauben Sie, dass wir Ihnen beim Servieren zur Hand gehen?«
»Wenn Sie das für nötig halten …«
»Ja. Ja, das tue ich.«
Die Trauzeugen, Cousins und Cousinen wechselten sich den gesamten Abend über unermüdlich ab und sorgten für einen unorthodoxen, aber effektiven Service. Das Besteck lag nicht immer auf der richtigen Seite, und die Fingerabdrücke auf den Tellern wurden nicht gezählt, doch niemandem fehlte es an etwas.
Denis war fünfzig Kilometer mit dem Motorrad nach Paris und zurück gefahren, um eine Stereoanlage zu holen, auf der sie CD s abspielen konnten. Paul und Anne saßen in der Mitte einer Tafel, von der ständig jemand aufstand, um Essen oder Getränke zu bringen, sie selbst noch öfter als alle anderen, und hielten sich einen Moment lang an den Händen.
»Es läuft gut, oder?«, fragte Paul.
»Es läuft großartig.« Sie schaute ihm fest in die Augen, fesselte ihn mit ihrem Blick. »Wirklich toll. «
Pauls Brust blähte sich auf wie ein stolzer Zeppelin, so glücklich war er. Deswegen versetzte es ihm auch nur einen kleinen Stich, als sein Vater das Fest verließ, obwohl er wusste, dass er ihn nie wiedersehen würde.
Als er um fünf Uhr morgens beim immer noch tiefbetrübten Wirt die Rechnung begleichen wollte, teilte der ihm mit, dass Serge schon alles bezahlt hatte.
Paul erfuhr nie, ob er ihn damit um Verzeihung bitten oder ein letztes Mal demütigen wollte. Anne erzählte er nichts davon.