28.
Die Métro, die sie vom Musée d’Orsay zurückbrachte, vibrierte in ihrem gleichmäßigen Rhythmus auf den Gleisen. Anne Capestan saß auf dem heiligen Platz aller Waggons, dem Einzelsitz, und las im Seifenopern-Quartett , einem alten, verknickten Taschenbuch von Tonino Benacquista. In der U-Bahn dachte sie grundsätzlich nie nach. Sie las oder ließ sich von den Momentaufnahmen des Lebens ringsum erfassen, wobei sie sich zwang, die Leute nicht anzustarren, als wollte sie ihnen in den Kopf gucken. An der Station Palais-Royal beobachtete sie einen Mann in einem groben dunkelbraunen Wollpulli, der im gekachelten unterirdischen Gang Plakate anklebte. Tausend Stufen vom Tageslicht entfernt, kleisterte er quadratmeterweise graues Papier ein und entfaltete dann Streifen für Streifen, enthüllte das strahlende Blau des Pazifiks, weißen Sand, Palmen, eine fröhliche Frau im Bikini. Ohne irgendein Zeichen der Rührung bürstete er das Sinnbild des Glücks glatt, ehe er zum nächsten überging, und zum übernächsten.
Bei Châtelet stieg Capestan aus. Draußen begrüßte sie ein kalter, kräftiger Wind, der ihr sofort Augen und Nase rötete. Sie kämpfte sich durch die einkaufswütige Menge auf der Rue de Rivoli bis zur relativ ruhigen Place Sainte- Opportune. Denis hatte das Geld vor zwanzig Jahren bekommen und mit Sicherheit verstanden, dass es schmutzig war. Sie konnte Paul nicht verschweigen, was sie und sein bester Freund wussten. Sie würde ihn gleich nach ihrer Ankunft anrufen.
In diesem Viertel breitete sich das Kopfsteinpflaster sternförmig in Dutzende kleine Gässchen aus, zum größten Teil Fußgängerzonen. Paris wuselte, wimmelte, drängte Millionen Menschen, einander zu begegnen, sich anzurempeln. Darunter auch Mörder. War Max Ramier nach der Sache vor dem Plaza aus der Stadt verschwunden? Vermutlich nicht. Aber wo steckte er jetzt?
Eva Rosière hatte mit dem Direktor des Luxushotels gesprochen und erfahren, dass Ramier seine Suite in bar bezahlt hatte, für mehrere Tage im Voraus. Ein Schnäppchen von sechsundzwanzigtausend Euro. Aber entgegen seinen Angaben bei den Behörden hatte er sich erst einen Monat nach seiner Freilassung eingemietet, also drei Tage nach dem Tod von Jacques Melonne. Er hatte mit jedem Mord neues Kapital eingetrieben, und neben der Vergeltung hatte ihn bestimmt auch die Geldfrage angespornt. Laut Akte war die Beute des Überfalls, zwanzig Millionen frisch gedruckte Francs plus der Inhalt der Schließfächer, nie gefunden worden. Lag irgendwo noch ein weiterer Teil versteckt? Hatte Ramier aus Rufus dessen Anteil herausgeprügelt oder hatte der alles für seinen Sohn ausgegeben?
Sollte Ramiers Liste abgearbeitet sein, hatte er vielleicht trotzdem die Stadt oder sogar das Land verlassen. Sicher hatte er die BRI erkannt und wollte keine Zeit verlieren.
Commissaire Capestan hatte ihr gesamtes Team auf die Suche nach dem Flüchtigen angesetzt, während sie sich auf den heiklen Fall Orsini konzentrierte. Ihr fehlte noch eine Antwort, und für die musste sie Buron kontaktieren.
Sie versuchte, sich in den Capitaine hineinzufühlen. Wenn ein Bankräuber eiskalt ihre Familie erschossen hätte, hätte sie ihn bis in die entlegensten Winkel, durch die tiefsten Elendsviertel, auf die höchsten Berge verfolgt. Sie hätte ihn geschnappt und an den Beinen aufgehängt wie einen Sandsack. Und dann hätte sie ihn windelweich geprügelt.
Orsini hatte jahrelang gewartet. Worauf? Welche Information hatte er gebraucht, um zu handeln? Vielleicht hatte er nicht gewusst, wer die Komplizen waren, und sich deshalb geduldet, bis Ramier entlassen wurde. Die DNA -Spuren bewiesen, dass alle drei Morde vom gleichen Täter begangen worden waren, aber nicht, von wem. Hatte Orsini den Opfern einen Besuch abgestattet, nachdem Ramier sich sein Geld geholt hatte? Capestan hatte den Terminkalender des Capitaines mit den Mordzeitpunkten abgeglichen: Theoretisch könnte er für jede der drei Taten verantwortlich sein. Doch das heiße Blut der Rache, das durch ihre Adern strömte, musste nicht zwangsläufig auch im steinernen Orsini fließen. Möglicherweise hatte er die Komplizen verhaften wollen. Und Ramier war ihm zuvorgekommen, indem er sie umgebracht hatte.
Capestan hatte die Personalakte des Capitaines noch einmal genauer studiert. Sein Eintritt in den Polizeidienst war tatsächlich nach dem Überfall erfolgt. Die berufliche Umorientierung war also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dadurch motiviert gewesen, mehr herauszufinden. Hatte er damals schon einen Verdacht gegen Serge Rufus gehegt und ihn im Auge behalten wollen ?
Wenn diese Ermittlung in eigener Sache alle Entscheidungen Orsinis gelenkt hatte, musste man auch seine Gründe für die Versetzung in die Rue des Innocents hinterfragen.
Capestan steckte sich ihr Headset in die Ohren und scrollte durch ihre Kontakte bis zu Burons Nummer.
»Guten Tag, Commissaire. Rufen Sie an, um mir zu erklären, warum die Kriminalpolizei gerade eine Rechnung für ein World-of-Warcraft -Abo bekommen hat?«
»Nein, aber wenn Sie unbedingt darüber reden möchten, höre ich Ihnen gerne zu. Danach hätte ich eine Frage, Monsieur le Directeur.«
Buron bemerkte die Sorge in ihrer Stimme und ließ von seinem Oberlehrertonfall ab. »Schießen Sie los.«
Capestan drehte das Mikro zwischen Daumen und Zeigefinger. Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten, diese Frage zu formulieren.
»Wie ist Orsini in meiner Brigade gelandet? Wer hat ihn hergeschickt?«
»Er sich selbst, warum?«
»Er hat seine Versetzung aufs Abstellgleis selbst beantragt? Er ist freiwillig in die Verbannung gegangen, und Sie haben mir nichts gesagt?«
»Ganz ehrlich, er war in keiner Abteilung gern gesehen, also dachte ich, er würde vielleicht gemobbt oder so etwas. Warum, was ist denn nun wieder mit ihm los?«
»Nichts Besonderes, nur ein außergewöhnlich hartnäckiger Journalist, deswegen war ich neugierig.«
Capestan sah den Directeur förmlich auf die Armlehne seines Ledersessels trommeln.
»Sie haben mir schon bessere Lügen aufgetischt, Commissaire. «
»Ja, im Moment fehlt mir die Muße für ausgefeilte Geschichten, Monsieur le Divisionnaire, bitte entschuldigen Sie. Aber Sie wissen ja, eines Tages wird sich Ihnen die Wahrheit offenbaren, bereit, vergraben zu werden.«
»Ich verlasse mich darauf, Commissaire.«
Capestan erreichte das Gebäude, unter dessen Dach ihr Kommissariat nistete. Orsini hatte seine Versetzung also selbst beantragt. Dass sie Rufus’ Schwiegertochter war, hatte dabei bestimmt keine unerhebliche Rolle gespielt.
Orsini war ihretwegen da.
Er beobachtete, maß, beurteilte sie. Vielleicht verdächtigte er sie sogar.
Als sie sich die Stiefeletten an der Fußmatte abtrat, hatte sie immer noch keinen blassen Schimmer, was sie mit diesem unbequemen Capitaine anfangen sollte. Er führte eine Schlacht, die sie nachvollziehen konnte, aber auf eine Art und Weise, die ihrer Brigade schadete.
Sie öffnete die Tür genau in dem Moment, als Saint-Lô, Rosière, Lebreton, Évrard, Lewitz und Dax gerade hindurchstürmen wollten. Torrez folgte ein Stück dahinter. Irgendwer packte sie geschickt an den Schultern, sodass sie eine halbe Drehung vollführte.
»Wir haben ihn gefunden!«
»Wen, wo?«
»Ramier, im Lutetia.«
»Er hat sich noch mal in ein Luxushotel eingemietet? Unter seinem Namen?«
»Nein.« Rosière hämmerte wie ein Schlagbohrer auf den Aufzugknopf ein. »Unter dem Namen aus Velowskis Manuskript. Ich habe vermutet, dass das einer seiner Decknamen ist, und Dax danach suchen lassen. Aktuell sind wir die Einzigen, die diese Info haben.«
Burons Anweisungen bei ihrem letzten Treffen waren zwar klar formuliert gewesen, ließen jedoch einen gewissen inhaltlichen Spielraum. Zumindest beschloss Capestan unter diesem Zeitdruck, sie so zu interpretieren. Wenn Frosts BRI mit den Hunderten Überwachungskameras in der Stadt, den GPS -Systemen und allen anderen Lokalisierungswerkzeugen, die ihr zur Verfügung standen, die Adresse noch nicht ausfindig gemacht hatte, mussten die Amateure sie ihr nicht auf dem Silbertablett servieren.
Nach dieser revanchistischen Logik durfte ihre Brigade es allerdings nicht vermasseln.
»Dann nichts wie los. Und dieses Mal muss es klappen.«
»Schon so gut wie erledigt!«, rief Dax.
»Aaah, so was darf man doch nicht sagen«, stöhnte Torrez.