35.
Anne Capestan hatte die Ohren gespitzt, um die Klingel zu hören, einen Ultraschall, der, kaum abgegeben, schon wieder verklingen wollte. Buron hatte sie angerufen, um sie vorzuwarnen. »Er ist sehr groß, und Sie kennen nur einen kleinen Teil von ihm. Ich glaube, dass der Rest zerbrochen ist. Reparieren Sie ihn, wenn Sie können, Commissaire. Danke.«
In Diaments Händen sah der Karton mit seinen persönlichen Sachen aus wie eine Schuhschachtel. Der Lieutenant stand mit mürrischer Miene und unsicherem Blick im Türrahmen. Seine Muskelmasse ließ alles um ihn herum winzig wirken.
Capestan gelang es, ihn ohne die geringste Ironie zu begrüßen: »Willkommen, Lieutenant, immer herein mit Ihnen. Ich weiß nicht, ob wir noch ein Büro haben, das groß genug ist für Sie, aber wir werden schon was finden.«
»Lasst ja das Billardzimmer in Ruhe! Nimm’s mir nicht übel, Schätzchen, aber das Spiel hat es mir inzwischen angetan«, rief Eva Rosière, eine noch unangezündete Zigarette in der Hand, bevor sie auf die Terrasse rauschte, dem schwanzwedelnden Hinterteil von Pilou hinterher.
»Seit sie mal gewonnen hat«, erklärte Louis-Baptiste
Lebreton. »Ganz hinten sind noch zwei leere Zimmer, vielleicht könnten wir die Zwischenwand rausreißen.«
»Warum nicht. Oder einfach hier im Wohnzimmer«, schlug Capestan vor.
»Dann sitzt er direkt vorm Fenster und nimmt uns das Licht.«
»Bitte entschuldigen Sie, dass wir von Ihnen reden, als wären Sie ein antiker Kleiderschrank«, sagte Capestan an Diament gewandt, der zuhörte, sich aber nicht traute, sich einzuschalten.
»Meine Versetzung hierher hat wahrlich weniger Interesse hervorgerufen«, bemerkte Saint-Lô säuerlich.
Laute Stimmen von der Terrasse rissen sie aus ihren Überlegungen. Capestan, Lebreton und Saint-Lô gingen in Richtung Küche. Diament folgte ihnen, nachdem er seinen Karton abgestellt hatte.
Merlot und Rosière diskutierten mal wieder. Aber heute lag keine spielerische Freude in ihrer Unterhaltung, sie stritten wirklich.
»Doch, ich glaube, dass er Ramier umgebracht hat«, bekräftigte Merlot.
»Nein, hat er nicht, er würde uns doch nicht anlügen. Außerdem hätte ein Bulle nicht erst den gesamten Baumbestand mit Kugeln durchsiebt, bevor er den Kerl erwischt.«
»Das ist kein Argument, Eva«, warf Évrard ein. »Orsini geht nie auf den Schießstand, er ist definitiv kein Lucky Luke. Er hat schlecht gezielt, aber ich glaube auch, dass er es war.«
»Himmel noch mal, wenn er vorgehabt hätte, jemanden umzulegen, dann hätte er ja wohl trainiert. Wenn ich es euch sage, er war’s nicht!
«
»Doch. Und es geht immerhin um einen Mord. Wir müssen es der Dienstaufsicht melden«, beharrte Évrard mit resignierter Stimme.
»Oh, nein, werte Freundin, das sehe ich anders«, unterbrach Merlot sie und wackelte vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger. »Ja, er mag vom rechten Weg abgekommen sein, aber ihn deswegen hinzuhängen? Nein, damit bin ich nicht einverstanden. So etwas regelt man unter sich, ohne eine böswillige Instanz einzuschalten«, fügte er hinzu, wobei er demonstrativ Lebretons Blick mied.
Diese Debatte tobte seit dem Vortag in der Brigade, die sich unmerklich in zwei rivalisierende Lager gespalten hatte: die Pro- und die Anti-Orsinis. Oder, weniger radikal ausgedrückt: diejenigen, die ihm glaubten, und die, die es nicht taten. Zwei Untergruppen disputierten noch lebhafter: die Verfechter einer richtigen Ermittlung und die Anhänger inoffizieller Abmachungen. Capestan hatte beschlossen, sich nicht zu äußern, im Moment war sie mit allen einer Meinung, was offensichtlich keine besonders autoritäre Haltung war.
Sie wartete darauf, dass eine Art Weg der Weisheit aus den trüben, aufgewühlten Tiefen ihres wenig beispielhaften Gewissens auftauchte. Vor allem fürchtete sie, dass der Vorfall dem zerbrechlichen Zusammenhalt der Brigade schadete. Die ersten Risse waren schon erkennbar. Seit Lewitz’ kleinem Unfall auf der Motorhaube des Porsches war Torrez erneut geächtet und blieb freiwillig in seinem Büro. Orsini suchte auch weiterhin die Flure des Kommissariats heim, unnahbar wie ein norwegischer Gletscher. Man konnte ihm wahrlich nicht vorwerfen, dass er auf irgendjemandes Mitgefühl setzte. Wenn er vorüberging, verstummten die
Diskussionen, nur um gleich darauf noch hitziger aufzuflammen.
»Wir müssen überhaupt nichts regeln«, erwiderte Rosière scharf. »Wir müssen den wahren Schuldigen finden, bevor die BRI
oder irgendwelche anderen Rindviecher uns einen Kollegen für nichts und wieder nichts einbuchten.«
Dax und Lewitz, die die Unterhaltung aus Mangel an Redezeit längst verlassen hatten, lehnten an der Brüstung und beobachteten die Straße. Plötzlich riefen sie im Chor: »Ach du Scheiße!«
Sie fuhren herum und winkten wild. »Schnell, kommt her, kommt her!«
Alle Anwesenden stürzten zu ihnen. Unten auf der Straße braute sich donnergrollend etwas zusammen. Erschrockene Köpfe wurden aus den Fenstern aller Wohnungen gesteckt.
Die Invasion hatte begonnen. Hooligans quollen in stetem Strom aus den Aufgängen der Métrostation, als würden sie vom Forum des Halles ausgespien. Anschließend schwappten sie auf die umliegenden Straßen über, um zur Rue Saint-Denis zu gelangen, die sie aus einem unerfindlichen Grund grölend auf und ab liefen, wie eine Horde Barbaren in ihren mit Sponsorenlogos bedruckten Trikots. Innerhalb von Sekunden wussten alle Bewohner des Viertels, was auf dem Programm stand: Heute Abend spielte Paris Saint-Germain gegen Chelsea.
Die Fans brüllten wie von Sinnen, aufgeputscht von Bier und Rinderhormonen. An der Spitze des Zugs schwenkten drei Kerle mit schweißnassen Haaren Böller so groß wie Dynamitstangen, die sie anzündeten und auf Geschäfte schleuderten. Die Ladenbesitzer ließen die Metallrolladen
vor ihren Schaufenstern herunter, während die Kellner der Cafés hastig die Terrassenstühle nach drinnen schafften.
Ein Typ, eindeutig noch besoffener als seine Kumpels, schnappte sich einen Stehtisch und wuchtete ihn in die Luft, um ihn auf Passanten zu werfen. Die hirnlose Herde übernahm die neue Idee sofort begeistert und pfefferte Stühle und Werbetafeln in alle Richtungen, ohne Rücksicht auf die Männer, Frauen, Kinder, Buggys und Großmütter ringsum.
»Wir müssen da runter«, sagte Lewitz und stützte sich auf seine Krücke.
Commissaire Capestan nickte, und die gesamte Brigade drängte wieder in die Wohnung. Ratafia schlängelte sich zwischen den Beinen und unter den Stühlen hindurch, um ihrer Rolle als Aufklärerin gerecht zu werden. Auf dem Weg zur Tür schnappten sich die Polizisten ihre Armbinden mit der Aufschrift »Polizei« von den Schreibtischen oder aus den Jackentaschen und legten sie um. Als Eva Rosière ihnen folgen wollte, hielt Capestan sie auf.
»Du verständigst die Bereitschaft, die Präfektur und den ganzen Rest.«
Also blieb Rosière zurück, zusammen mit einem verwirrten Pilou und einem völlig verdatterten Lieutenant Diament. Letzterer blickte abwechselnd aus dem Fenster und auf seine Kollegen, die wild entschlossen hinausstürmten.
»Sind sie verrückt? Sie können es nicht ohne Ausrüstung mit diesem wütenden Mob aufnehmen. Sie haben weder schusssichere Westen noch Schlagstöcke noch Tränengas noch Helme. Das ist eine Sache für Profis, sie müssen auf Verstärkung warten. Sagen Sie es ihnen!«, rief er, an Rosière gewandt
.
Die zuckte nur mit den Schultern. Sie kannte ihre Kollegen.
»Die Passanten sind auch nur in Hemd und Höschen. Wir müssen ihnen helfen.«
Ungläubig starrte Diament sie eine Sekunde lang an, ehe er sich abrupt umdrehte und den anderen hinterhereilte.
Auf dem Platz angekommen, schwärmten sie mit ausgebreiteten Armen aus und riefen die Fans zur Ruhe auf. Ihre Anordnungen verhallten ungehört, anscheinend war der berühmt-berüchtigte Respekt vor den Bobbys nicht mitangereist. Im Gegenteil, bestärkt durch ihre Überzahl und aufgeheizt vom langen Marsch, ohne die Möglichkeit, sich abzureagieren, schienen ein paar besonders streitlustige Hooligans das Ganze für eine gute Gelegenheit zu halten, eine Rauferei anzuzetteln, und eröffneten den endlosen Kreislauf von Provokationen und Beleidigungen.
Sie mussten sie unter Kontrolle bringen, ihren Zerstörungswahn irgendwie erschöpfen. Auch auf die Gefahr hin, ihn auf sich selbst zu lenken.
Ein bartloses Bübchen, das offenbar nach dem Status des Alphamännchens strebte, fing an, Évrard zu schubsen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, verpasste Dax ihm eine Gerade mitten ins Gesicht. Der Startschuss war gefallen.
Wie ein wutentbrannter Steinbock stürmte Saint-Lô mit gesenktem Kopf in die schwitzende und brüllende Horde. Merlot, Lebreton und Dax verteilten sich an den Flanken und kümmerten sich um die Ausreißer, die das städtische Mobiliar zerstörten und die eng an die Häuserwände gepressten Passanten bedrohten. Der athletische Commandant
und der boxerfahrene Lieutenant machten kurzen Prozess mit den Randalierern, die von der unerwarteten Gegenwehr völlig überrumpelt und viel zu betrunken waren, um schnell zu reagieren. Merlot glich seine weniger auf körperliche Anstrengung geeichte Physis durch Kühnheit aus. Er setzte auf direkten Körperkontakt und verteilte ohne Vorwarnung saftige Leberhaken. Ratafia attackierte unterdessen Fußknöchel und sorgte so für rettende Ablenkung.
Capestan drehte sich zu Évrard, Diament, Orsini und Torrez, der weiter hinten stand. Mit dem Kinn deutete sie auf die Böllerwerfer. Geschlossen rückten die Polizisten vor, um die geballte Kraft der Menge aufzubrechen.
Évrard, die leichteste von ihnen, prallte wie gegen eine Mauer und stürzte zu Boden. Ein Hooligan packte sie an Jeans und Windjacke und schleuderte sie gegen einen Zeitungskiosk. Sie brach benommen zusammen und blieb halb bewusstlos unter der Auslage liegen.
Sie waren viel zu stark, zu zahlreich, zu aufgepeitscht. Die Schläge prasselten nur so auf die klägliche Brigade ein, die mehr und mehr einem Selbstmordkommando ähnelte. Keine Sirene ertönte, und die langen schwarzen Mannschaftswagen der CRS
ließen auf sich warten. Ohne Verstärkung würde das hier bald zur Schlacht von Alamo werden.
Orsinis Gesicht war bereits blutüberströmt. Rote Rinnsale flossen von seinen Augenbrauen, aus seiner Nase, seinem Mund, doch der Capitaine gab nicht auf, warf sich schwankend, mit irrem Blick, wahllos auf die weiß-blauen Trikots. Er war kein erfahrener Raufbold. Sein Krawattenschal war nicht einen Millimeter verrutscht, der Rest seiner Kleidung dafür mit Fußabdrücken übersät.
Lewitz sicherte die Nachhut und versuchte, die Flüchtenden
aufzuhalten und ein paar Schädel einzuschlagen, doch als einer der Männer ihm die Krücke wegzog, konnte er sein wackliges Gleichgewicht nicht mehr halten. Er fiel, und sofort versetzte ihm der Hooligan, unterstützt von zwei Kumpanen, eine Salve Tritte in den Bauch.
Diament stand mitten in der Menge, packte wie ein entfesselter Catcher alle Köpfe in seiner Reichweite, manchmal drei auf einmal, und nahm sie in den Schwitzkasten. Er schrie und brüllte lauter als seine Gegner, führte einen regelrechten Kriegstanz auf und schlug die Nasen platt, die er um dreißig Zentimeter überragte. Er prügelte sich mit der wilden Freude eines Mannes, der zu lange nur auf Sandsäcke eingedroschen hatte, und genoss das Knirschen der brechenden Knochen, die Wärme des Bluts auf den Fingern. Er wirkte, als würde er selbst auf einem leeren Schlachtfeld noch weiterkämpfen. Und tatsächlich hatte sich bald aus Mangel an Freiwilligen ein breiter Kreis um ihn herum gebildet, und er musste seine Opfer in immer größerer Entfernung suchen. Er hatte seine neue Brigade völlig vergessen und stritt allein, ohne Zurückhaltung, ohne Maßregeln. Versunken in seiner eigenen Welt, hörte er plötzlich Lewitz’ Rufe und kam seinem Kollegen im Laufschritt zu Hilfe. Er schnappte sich den dicksten der Angreifer, stemmte ihn in die Luft und ließ ihn auf seine Kumpane fallen wie ein Gewichtheber seine Rekordhantel. Dann hob er den Brigadier behutsam hoch und trug ihn zu einer Mauer hinüber, in Sicherheit.
Auch Torrez kämpfte allein. Er ging in den angrenzenden Straßen auf die Jagd, um seine Kollegen nicht seiner demoralisierenden Anwesenheit auszusetzen, seinem Schatten, der noch unheilvoller war als der eines kreisenden
Aasgeiers. Die Überzeugung, auf der dunklen Seite zu stehen, war wie eine Rüstung, die ihm Kraft gab, auch wenn er es allein mit mehreren aufnehmen musste.
Der Schmerz des ersten Hiebs hatte Capestans Wut entfacht. Sie hatte rotgesehen, blind um sich geschlagen und ringsum alle Kombinationen ausgeteilt, die das Kampftraining ihr eingeimpft hatte. Doch mittlerweile nahm sie ihre Umgebung nur noch verschwommen wahr, der Boden schwankte. Sie hatte den Angriff von hinten nicht erwartet. Der Kerl hatte sie gepackt und gewürgt, so lange zugedrückt, bis sie kurz davor war zu ersticken. Sie war auf dem Bürgersteig zusammengesackt. Plötzlich griff sie jemand unter den Achseln. Es war Dax, der sie zu Évrard, Merlot und Lewitz hinübertrug. Die drei saßen in einer Reihe auf dem Kopfsteinpflaster, an eine raue Hauswand gelehnt. Der zuvorkommende Krankenpfleger hatte sie in sicherem Abstand, aber mit Blickrichtung zur Schlacht platziert.
Unterdessen wurde Orsini von zwei Hooligans festgehalten, während ein dritter ihn windelweich prügelte. Dieses Mal hatte der Krawattenschal keine Chance. Sofort eilte je ein Vertreter der beiden Lager in der Brigade, der Pro- und der Anti-Orsinis, herbei. Saint-Lô musste sich allerdings gar nicht mehr einschalten. Lebreton hatte den Schläger bereits am Trikot gepackt, das unter seinem Griff zerriss. Er drehte ihn um, damit er ihm ins Gesicht schauen konnte, und versetzte ihm einen Kopfstoß, der ihn direkt ausknockte. Die beiden anderen hörten auf ihren Überlebensinstinkt und verschwanden eilig in der Menge ihrer Freunde.
Eva Rosière kam durch die schwere Tür des Mietshauses. Sie hatte Turnschuhe angezogen, die zwar dem Anlass angemessener waren als ihre schwindelerregend hohen Pumps,
aber nur bedingt zu ihrem smaragdgrünen Satinkleid passten. Sie brachte einen großen Erste-Hilfe-Kasten und einen kampflustigen Polizeihund mit. Kaum draußen, stürzte Pilou sich auf die Waden der Gegner.
Dax sammelte Orsini ein und setzte ihn neben Capestan.
Der Capitaine hustete sich die Seele aus dem Leib. Bevor Rosière ihn in die Finger bekam, wandte er das geschwollene Gesicht zu seiner Chefin und berührte sie sanft am Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Capestan beugte sich zu ihm. Zwischen keuchenden Atemzügen und einem unterdrückten Stöhnen stieß er hervor: »Ich habe etwas gefunden. Ich glaube, ich weiß, wer Ramier erschossen hat.«
»Was? Wer? Kennen wir ihn?«
Orsini nickte schwerfällig. »Später … Nach dem Ganzen hier«, würgte er und deutete auf den Platz, wo das Chaos herrschte.
Die Brigade hatte es zu zehnt mit dreihundert aufgenommen. Jetzt waren sie nur noch fünf, und der Gegner schien immer wieder aufzustehen. Die steinernen Brunnennymphen beobachteten das Massaker, ohne ihr unerschütterliches Lächeln zu verlieren.
Saint-Lô wurde von drei Muskelpaketen in die Zange genommen. Er wich zurück an die Hauswand, um seine Rückendeckung zu sichern. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Lewitz, der ein Stück weiter versuchte, sich an einem Regenrohr hochzuziehen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Der Capitaine schüttelte den Kopf und rief: »Nein, nein, nicht nötig – nur die Krücke!«
Und mit der Zielsicherheit eines Speerwerfers schleuderte der Brigadier seinem Kollegen die Gehhilfe zu, der sie im Flug fing. Ein breites Lächeln entblößte Saint-Lôs Eckzähne.
Mit einer geübten Bewegung wog er den langen Stock in der Hand, und als er ihn perfekt ausbalanciert hatte, griff er richtig zu, genau zwischen den beiden Kunststoffringen, die er nach außen drehte. Dann schwang er die Krücke drohend durch die Luft und verkündete mit selbstbewusst und zufrieden vibrierender Stimme: »En garde!«
Die englischen Chelsea-Anhänger verstanden zwar die Worte nicht, wohl aber ihren Sinn. Das Blitzen in Saint-Lôs Augen hielt sie allerdings davon ab zu lachen. Sie rückten weiter vor. So schnell, dass man die Bewegung kaum wahrnahm, bohrte sich die Krücke in den Solarplexus des ersten Angreifers, der erschrocken die Augen aufriss und atemlos zusammensackte. Anschließend traf sie den Adamsapfel des zweiten, der würgend zu Boden fiel. Blieb nur noch der dritte, dessen Selbstbewusstsein allmählich schwand, doch sein Stolz ließ nicht zu, dass er floh. Mit einem Satz stürzte er sich auf den Capitaine, um ihn in einen Nahkampf zu verwickeln. Der wich leichtfüßig aus, packte den Arm seines Gegners, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und vollführte eine Drehung, bevor er ihm die Spitze der Krücke genau zwischen die Augen stach.
»Der Nevers-Stoß, meine Freunde«, rief Merlot begeistert. »Mit dem Gummifuß verliert er ein wenig an Wirkung, aber was für eine Technik!«
Der Mann war bedient und flüchtete in Richtung Rue des Lombards. Doch der Strom an Trikotträgern riss nicht ab, und ihr Rausch war ungebrochen. Saint-Lô warf Lewitz seine Krücke zurück und zog den Dolch aus seinem Socken. Mit einer Geste beruhigte er seine Chefin – der Dolch blieb in der Lederscheide und würde nicht mehr Schaden anrichten als ein Holzspielzeug für Kinder
.
Mit einem lauten Brüllen machte Lieutenant Diament den flinken Capitaine auf sich aufmerksam. Er schien die Sache ein für alle Mal beenden zu wollen. Wie ein Schaufellader raffte er die Dumpfbacken mit ausgebreiteten Armen zusammen und trieb sie auf Saint-Lô zu, der mit seinem Dolch um sich stach wie ein wütender Blitz. Der Grizzlybär und die Hornisse gegen die Biernasenhorde.
Merlot beugte sich zu Ratafia. »Lauf! Lauf und hilf ihnen, Ratalein!«
Die Ratte flitzte zum Musketier hinüber. Dieses Mal begnügte sie sich jedoch nicht mit den Fußknöcheln, sondern schlüpfte, selbstsicherer geworden, in die Hosenbeine und fiel über die Oberschenkel her. Die Randalierer schrien auf und hieben blindlings auf ihre Jogginghosen ein, um einen Angreifer zu verjagen, den sie nicht hatten kommen sehen.
Pilou sprang Ratafia bei und biss, die Sandwichstrategie von Diament und Saint-Lô übernehmend, ihren Opfern in den Hintern, die gar nicht mehr wussten, wo sie zuerst hinschlagen sollten.
»Höher, Rata, höher!«, feuerte das Herrchen seine Ratte an.
Die Schnauze voraus, die Krallen in die Haut gebohrt, rückte Ratafia vor. Ihr Umriss zeichnete sich unter den Falten ab, bis er schließlich im Schritt verschwand und ein dunkler Heiligenschein aus Blut die Baumwolle tränkte. Die Männer sanken weinend auf die Knie.
»Los, meine Süße, zum Angriff, zum Angriff!« Merlot war wie elektrisiert aufgesprungen und drehte sich zu seiner Chefin. »Ich habe eine Polizeiratte abgerichtet! Ich habe eine Polizeiratte abgerichtet!«
»Sch, nicht so laut«, flüsterte die.
Fehlte gerade noch, dass sich herumsprach, die Polizei
würde Ratten darauf abrichten, Menschenmengen zu entmannen. Buron wäre begeistert.
Langsam löste sich die Massenschlägerei auf, die die Fontaine des Innocents heimgesucht hatte. Die Hooliganschar zog in Richtung Châtelet weiter, allerdings marschierte sie nicht mehr, sondern humpelte, verwundet, vornübergebeugt und begierig darauf, möglichst bald die Plastiksitze der Tribünen zu erreichen, auf denen die meisten nur unter Schmerzen würden Platz nehmen können.
Mit vereinten Kräften hatten die beiden Neuzugänge der Brigade – drei, wenn man Ratafia mitzählte – die Barbaren in die Flucht geschlagen.
»Sieg! Wir haben gewonnen! Veni, vidi, wie die Profis! Und alles dank meiner Ratte!«
Für Merlot gab es kein Halten mehr. Obwohl sein linkes Auge fast zugeschwollen war und ihm ein paar Zahnkronen fehlten, obwohl seine am Boden sitzenden und liegenden Kollegen ihre wenigen noch heilen Glieder zählten und Torrez, Lebreton, Dax, Saint-Lô und Diament, die letzten stehenden Kämpfer, erschöpft auf sie zuhinkten, einen Hund und eine rote Ratte bei Fuß, feierte er sein Austerlitz.
»Du weißt schon, dass sie im Grunde genau das gewollt haben, oder? Ich glaube nicht, dass wir ihnen den Abend verdorben haben«, wandte Évrard ein, konnte aber ein breites Grinsen nicht unterdrücken, genau wie die übrigen zahnlosen, aber stolzen Sieger.
Merlot kraulte seiner Ratte mit blutverschmierten Fingernägeln den Hals. »Ach, ich denke doch. Glaub mir.«
Er machte eine kurze Pause und legte verschwörerisch eine Hand auf Évrards Arm. »Schmerzende Eier ruinieren die Feier.«