|| tretton ||
||     Sie war um halb zehn bereits im Neuen Westen der Stadt aufgetaucht und hatte in einem Café, das schräg gegenüber der Bar von diesem Bjarne Erlbakken lag, einen Tee getrunken. Miserabel teuer – aber lecker. Eine ganze Zeit lang hatte sie anschließend im Auto gewartet, bis der perfekte Parkplatz frei wurde und sie ihren Wagen strategisch richtig parken konnte, um den bestmöglichen Blick zu haben. Dann war Stina Borglund nochmals in das Café gewechselt, hatte einen Kaffee getrunken und einen weiteren in einem dieser Pappbecher mitgenommen, die man in Großstädten neuerdings bekam.
Gegen 10 Uhr 20 war dann ein großer Volvo mit sportlichem Touch vorgefahren. Der Fahrer hatte per Fernbedienung ein Rolltor neben der Bar geöffnet und war entschieden zu schnell hindurchgefahren.
Sie notierte sich das Kennzeichen mit ihrem Druckbleistift und behielt die Bar konzentriert im Blick. Offensichtlich gab es einen Hintereingang, den Bjarne Erlbakken verwendete, denn kurze Zeit später öffnete er zwei Fenster von innen, war für einen kurzen Moment zu sehen und Sekunden später trafen zwei schlanke Blondinen ein, die vielleicht Anfang 20 waren. Stina sah auf die Uhr und notierte auch das. Eine der Frauen schloss den Haupteingang auf und legte einen kleinen Holzkeil vor die Tür, um frische Luft einzulassen. Dann gingen mehr und mehr Lichter an und Stina notierte auch das. Sie prüfte die Zeit und notierte auch die mit dem Druckbleistift in ihr Buch.
Eine ganze Zeit lang geschah nichts, bis ein verbeulter oranger Lieferwagen vor der Tür hielt, dessen Fahrer den Warnblinker aktivierte, hektisch aus dem Auto sprang und mehrere Transportkisten auslud. Eine der blonden Frauen kam ihm auf halbem Weg entgegen, begrüßte ihn freundlich und trug die Kisten mit den Backwaren ins Innere der Bar. Die andere kam heraus, nahm die verbleibenden Kisten entgegen, zeichnete einen Lieferschein ab, umarmte den blonden Fahrer kurz und verschwand wieder im Inneren der Bar.
Morgenroutine.
Und in die würde Stina einbrechen – das hatte sie exakt so geplant. Sie würde die Leute unvorbereitet in der entspannten Routine erwischen, die sie hundertmal geübt hatten. In der Phase waren sie unaufmerksam, da waren sie angreifbar.
Also verließ sie den Wagen, überquerte die Straße rasch und trat so selbstbewusst wie möglich in die Bar, wo ihr eine der beiden blonden Mädchen zurief, dass sie noch nicht soweit seien und erst um 11 öffneten.
Stina erledigte weitere Diskussionen mit routiniertem Zücken ihres Polizeiausweises, den sie immer nur kurz zeigte, weil sie auf dem Foto aussah wie eine 17jährige Praktikantin. Um die beiden Bedienungen zu beeindrucken, reichte es. Sie gab zu verstehen, dass sie den Chef sprechen wollte und eine der beiden Frauen, die sich verwirrend ähnlich sahen, verschwand und brachte einen kräftigen Mann mit längeren fast schwarzen Haaren mit, der sich mit großer Sicherheit in der Bar bewegte. So, wie sich nur Besitzer von Plätzen bewegten. So sah der Chef aus, daran gab es hier keinen Zweifel. Und nicht nur das: Die Beschreibung des zweiten Mannes, der gestern im Forsdalen gesehen worden war, passte auch auf ihn. Damit hatte sie nicht gerechnet – aber das mochte Zufall sein.
„Stina Borglund, Polizei Lorisborg,“ stellte sie sich vor, ohne ihm nochmals ihren kindlich geprägten Ausweis zu zeigen. „Wo können wir uns hier in Ruhe unterhalten?“
Erlbakken musterte sie unter seinen kräftigen Augenbrauen und fragte dann mit einer fast beängstigenden Ruhe in der Stimme „Worüber?“
„Das sollten wir dort klären, wo wir uns in Ruhe unterhalten können,“ gab sie zurück.
„Dann ist das genau hier,“ erklärte er ruhig.
Hier ?“ gab sie zurück und ihre Stimme verriet mit einem lächerlichen Kieksen, dass sie damit nicht gerechnet hatte.
„Sicher, warum nicht? Wenn du mir nicht sagen willst, worum es geht, ist es vielleicht ganz gut, wenn meine beiden Mitarbeiterinnen im Zweifel als Zeugen fungieren können.“
‚Zeugen??‘ fragte sie sich innerlich. Für was? Die bisherige Unterhaltung gab ihr das leise Gefühl, die Situation nicht im Griff zu haben. Normalerweise reagierten die Menschen nicht so auf plötzlich auftauchende Kriminalpolizisten. Dieses Auftreten ließ eher vermuten, dass der Mann über einschlägige Erfahrung verfügte, was bei Besitzern von Kneipen und Bars oft nichts Ungewöhnliches war.
„Na gut,“ erklärte sie zögerlich, trat zwei Schritte zur Seite und stützte sich an einem der Tische auf. Bjarne Erlbakken machte drei große, schwere Schritte und setzte sich einen Meter entfernt auf die Bank, die an den Tisch angrenzte. Das versetzte sie in die dümmliche Lage, dass sie nun zu weit entfernt war, um leise zu sprechen und ihm folgen musste. Stina fühlte sich wie eine Grundschülerin neben diesem Mann, der vielleicht 10 Jahre älter als sie war, aber über 20 Jahre mehr Selbstbewusstsein zu verfügen schien. Er hatte ihr körpersprachlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht ernst nahm. Sie hasste das. Sie musste aufholen.
„Ich möchte mit dir über den gestrigen Tag sprechen,“ erklärte sie und ertappte sich dabei, dass ihr Satz wie eine Frage geklungen hatte, was ihr Gegenüber sofort aufnahm.
„Aha. Darf ich kurz deinen Ausweis sehen?“
„Ja, na sicher…“ Sie zückte das Dokument, wollte es rasch wieder verschwinden lassen, doch Bjarne Erlbakken hielt sie davon ab, warf einen genaueren Blick auf ihr Bild und schien beinahe zu schmunzeln. Sie musste sich dringend einen neuen Ausweis machen lassen.
„Ich möchte mit dir über den gestrigen Tag sprechen,“ wiederholte sie schließlich und nahm ihren Polizei-Ausweis wieder an sich.
„Willst du?“
„Ja, will ich. Der 11. September 2001.“
„Ja… ich glaube nicht, dass jemand so schnell das gestrige Datum vergessen wird,“ gab er ruhig zurück und schien innerlich laut über sie zu lachen, während er ein lässiges Signal in Richtung Bar machte. Als Stina weitersprechen wollte, unterbrach er sie und fragte „Auch einen Cappuccino?“
„Hm?“
„Cappuccino? Oder gerne auch etwas anderes?“
„Nein, Ich möchte…“
„Okay, gut.“ Er machte wieder eine geheime Geste mit seiner Hand und nickte der Blondine hinter der Theke zu, ohne großartig auf Stina Borglund zu achten.
„Kommen wir zu gestern.“
„Ja?“
„Du warst gestern nicht hier?“
„Doch, warum?“
„Ich – was? Nach meinem Kenntnisstand warst du gestern nicht hier, nicht in deiner Kneipe.“
Seine Augenbrauen gingen zusammen und gaben ihm noch mehr Autorität „Wer sagt denn so etwas?“
„Eine deiner… Mitarbeiterinnen…“
„Welche?“
Sie blickte in ihre Notizen und nannte dann den Namen.
„Agnetha? Wann hast du denn mit der gesprochen?“
„21 Uhr 40.“
„Hm… ist mir unklar. Da war ich längst hier. Hat sie vielleicht nicht mitbekommen in der Hektik gestern. Wo soll ich sonst gewesen sein – ich wohne hier. Ich war hinten in meinen privaten Räumen.“
„Alleine?“
„Ich und CNN, wenn du es genau wissen willst – nicht weiter verwunderlich, oder?“
„Aber am Vormittag warst du nicht hier?“
„Nein.“
„Was hast du da gemacht?“
„Entschuldige Sonja, was…“
„Stina. Stina Borglund.“
„Entschuldige, Frau Stina Borglund. Darf ich fragen, warum du das wissen willst?“
„Ich würde vorschlagen, dass du mir zunächst einmal antwortest, wenn du nichts zu verbergen hast.“
„Wenn ich…. Wenn ich nichts zu verbergen habe…?“ Der breitschultrige Kerl lachte unwillkürlich und echt. Frau Stina Borglund… Ich komme mir jetzt gerade ein wenig dämlich vor. Versteh es nicht falsch – aber wenn ich das richtig weiß, solltest du mich tunlichst erst einmal in Kenntnis setzen, worüber wir hier sprechen. Du machst dich ja gerade mehrerer Verfahrensfehler schuldig, was dir sicherlich bewusst ist. Befinden wir uns gerade in einem 316er Verfahren oder in einem 134er oder am Ende gar in einem 117er oder 163er? Letzteres wäre peinlich für dich, wenn ich das mal so sagen darf – und zwar unabhängig davon, was Du mir später vorwerfen möchtest.“
Stina spürte einen spontanen Schweißausbruch und war sich sicher, rot geworden zu sein. Sein Blick war fordernd und dennoch ruhig, was verwirrend war. Sie wollte etwas sagen, aber Bjarne setzte bereits seine Ausführungen fort. „Wenn letzteres der Fall ist, dann werde ich jetzt meine Mitarbeiterin bitten, zu bezeugen, wie diese Befragung durchgeführt wird. Du hast ja jetzt schon gegen mindestens sechs Paragrafen verstoßen und wir kennen uns…“ Er blickte kompliziert auf sein rechtes Handgelenk „Seit rund zwei Minuten.“
Als Stina gerade antworten wollte, setzte er nach „Respekt, junge Frau.“
Nachdem sie sich kurz besinnen konnte, tauchte pünktlich die Blondine auf und Bjarne Erlbakken bedankte sich kurz für seinen Cappuccino und griff sie dann spontan und unerwartet an der Schulter. „Ann-Marie – könntest Du bitte das Diktiergerät holen? Ich würde dieses Gespräch hier gerne aufzeichnen.“
„Oha… Soll ich auch unseren Anwalt anrufen?“
Bjarne schüttelte den Kopf nachdenklich. „Ich denke nicht, dass das notwendig ist.“
„Wir müssen hier nicht…“ mischte Stina sich ins Gespräch, aber Bjarne schnitt ihr mit einer ruhigen großen Geste das Wort ab, während seine Mitarbeiterin ein paar Meter weiter hinter den Tresen griff und ein kleines technisches Gerät hervorzauberte, kleiner als eine Zigarettenschachtel. Sie zementierte damit den bislang schlimmsten Tag in Stinas bisherigem Berufsleben. Nie war sie sich so dumm vorgekommen. Nicht einmal, als die Kommission ihr am Vortag erklärt hatte, warum sie nicht befördert werden sollte. Dabei war sie sich heute Morgen noch so investigativ und clever vorgekommen, weil sie die Witterung aufgenommen hatte…
Für einen kurzen Moment war sie jetzt bereit, die Bar einfach zu verlassen. Aufstehen und gehen. Dann sah sie sich plötzlich mit einem bereits angeschalteten Aufnahmegerät konfrontiert und der Besitzer der Bar nannte Datum und Uhrzeit und zu allem Überfluss seine Mitarbeiterin als Zeugin des Gesprächs. Dann übergab er mit einer ungeheuren Grandezza an die junge Kriminalkommissarin, die sich kurz besinnen musste.
Sie straffte sich, spulte das volle Programm ab und belehrte Ihr Gegenüber formal korrekt und entlang der notwendigen Paragrafen über den Grund des Gesprächs. Im Anschluss kam sie sich reichlich lächerlich vor, weil der Grund eigentlich ein viel zu schwacher Grund war, was ihr bei der amtlichen und akustisch dokumentierten Aufzählung erst so richtig klar wurde. Viele Gespräche und Vernehmungen dieser Art fanden in der Realität des kriminalpolizeilichen Lebens unter solchen Bedingungen statt – und jeder wusste das. Niemand zählte beim ersten Gespräch alle Paragrafen auf, die notwendig waren.
„Okay,“ lehnte sie sich vor, während die Bedienung sie interessiert anstarrte und an ihren Lippen klebte. „In welcher Beziehung stehst du zu Mikael Katbjörk?“ Sie hatte das gar nicht zu Beginn fragen wollen, aber nach der Belehrung war es praktisch der einzig legale Einstieg in dieses Gespräch.
„Mikael Katbjörk? Sagt mir spontan nichts. Hilf mir – woher würde ich den kennen?“
„Er war vorgestern Abend hier in der Bar.“
„Puuuh… Glauben wir etwa, dass ich hier jeden namentlich kenne?“ Er grinste herablassend – so, wie man ein kleines Kind belächelte, dass eine Frage stellte, die jeder Erwachsene für Unsinn hielt.
„Nein. Aber mit Mikael Katbjörk hast du gesprochen, hast ihn auch bedient.“
„Puuuh…“ Er lachte – und das wirkte jetzt dreist. „Okay,“ fuhr er grinsend fort, „Erhelle mich! Vorgestern Abend… Da werden hier in Summe über 100 Gäste gewesen sein. Ein paar kenne ich namentlich.“
„Aber Mikael Katbjörk nicht?“
„Was soll das jetzt für ein Trick sein? Auf diese Frage habe ich bereits geantwortet,“ gab er ruhig zurück und war jetzt wieder ernst. Er blickte Stina Borglund an und sagte nichts weiter. Er hielt den Blick so lange stand, bis ihr klar wurde, dass sie diejenige war, die nun etwas sagen musste. Aber was hatte er sie noch als Letztes gefragt? Sie konzentrierte sich. „Der betreffende Mann ist in etwa in deinem Alter und war an dem Abend mit mehreren Geschäftspartnern hier.“
Er nickte ruhig. „Das gilt für viele.“
„Er war bis in die frühen Morgenstunden hier.“
„Wie ebenso viele. Unsere Lizenz deckt das ab.“
„Hm?“
„Ich meine: Das ist nichts Illegales, falls du darauf hinauswillst. Ich könnte bis 2:00 ausschenken.“
„Das... Wie du den Paragrafen entnommen hast, die ich genannt habe, ist das nicht der Sinn dieses Gespräches,“ erwiderte sie leicht hochnäsig. Bjarne schoss jedoch schneller zurück, als ihr recht war.
„Das trifft zu – aber wir haben diese Aufzeichnung ja nur gestartet, weil du zuvor versucht hast, mich ohne Belehrung zu vernehmen.“ Das hatte er jetzt auf Band und sie konnte dem formal nicht widersprechen. Oh no….
„Wir wissen, dass er noch einmal zurückgekehrt ist, um mit dir zu sprechen, Bjarne.“
„So? Das wissen ‚Wir‘ woher?“
„Eine deiner Mitarbeiterinnen hat das gestern gesagt.“
„Falls es sich da wieder um Agnetha handeln sollte… Von der haben wir eben schon festgestellt, dass sie nicht alles in dieser Bar im Überblick hatte. Das konnte man auch nicht verlangen.“
„Aber du weißt jetzt, von wem ich rede,“ setzte Sie nach.
„Nein,“ erklärte Barry ruhig.
„Okay – wie viele Gäste waren hier gestern um 1 Uhr morgens?“
„Präzise?“
„Ungefähr!“
„Okay… 15 etwa, denke ich. Aber ich habe die nicht ständig reihum durchgezählt. Da kommen und gehen ja auch welche.“
„Trifft auf eine der Gruppen die Beschreibung zu?“
„Die des Mannes in meinem Alter?“
„Hm?“
„Du hattest bislang keine Gruppe beschrieben…“
Zehn Minuten später saß Stina ihrem Auto und schrie vor Wut. Noch nie hatte sie sich derart wie ein kleines Schulmädchen gefühlt, wie gerade im Gespräch mit Bjarne Erlbakken. Für eine idiotische Sekunde überlegte sie, ob sie einen Grund finden würde, ihn festzunehmen. Einfach nur so, um ihm Manieren beizubringen. Verdammter Besserwisser. Der Typ war Wirt – wer wusste, was der für eine Ausbildung hatte? Wahrscheinlich nur das nötigste an Schulbildung, überlegte sie sich und fühlte sich für eine biestige Sekunde besser, bis ihr klar wurde, dass dieser ungebildete Typ sie dennoch hatte verhungern lassen. Einfach so. Aus der holen Hand. Ohne Vorbereitung. Und wahrscheinlich verdiente er mit dem Schuppen auch das Dreifache von ihrem nicht beförderten Einkommen.
Sie schlug schreiend aufs Lenkrad und Tränen liefen aus ihren Augen. Unkontrolliert. Bis sie sich schließlich besann und heulend den Motor startete und den großen Wagen unaufmerksam in den Verkehr zog, um aus dem Sichtfeld der Bar zu gelangen. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie rechts ranfuhr, sich die Augen trockenwischte und sich fragte, wohin sie eigentlich gerade fuhr. Während sie ihren Lidschatten nachzog, wurde ihr ihr nächstes Ziel klar.