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„Der Chef hat dich ziemlich rund gemacht, höre ich?“
„Sagt wer?“ fragte Stina, während Henrik sich ihr gegenüber an den Bürotisch setzte, der seit Wochen leer stand.
„Sagen die Wände,“ gab Henrik sachlich zurück und machte es sich unerwartet auf dem bemerkenswert abgewetzten Stuhl ihres Partners bequem. Ihr Partner Sune, mit dem sie seit knapp zwei Jahren arbeitete, würde vermutlich nach seinem letzten Fall nie mehr wiederkommen. Aber im Moment wollte niemand darüber reden. Solange bekam Stina allerdings auch keinen neuen Partner. Das machte sie innerhalb des Reviers sehr einsam, isolierte sie beinahe. Sune war nicht nur ihr Partner gewesen, sondern auch ihr soziales Bindeglied. Aber so wollte es der schwedische Polizei-Apparat: Psychische Erkrankungen wurden so lange wie eine Grippe behandelt, bis jemand gänzlich ausfiel. Sie musste Sune unbedingt wieder einmal anrufen. Das wusste sie seit Wochen. Manchmal notierte sie sich das irgendwo und vergaß es dann immer wieder.
Henrik war also an einem Tag wie diesem schon ein Unterhaltungs-Highlight für sie. Mitte 50, entspannt, alles erlebt. Ein schlanker, aufrechter Typ, dessen Haare oben langsam ein wenig dünn wurden. Er besuchte sie in unregelmäßigen Abständen alle paar Wochen mit einem fast väterlich wirkenden Habitus, ohne dabei bevormundend zu sein, wie viele ältere Kollegen. Sie mochte ihn sehr, hatte jedoch nur ganz selten dienstlich mit ihm zu tun.
„Da haben die Wände wohl recht,“ murrte sie und schaute angestrengt auf ihre beiden Käsebrote, die im Laden lecker gewirkt hatten, jetzt jedoch eher staubig und lahm.
„Was war denn los?“ erkundigte Henrik sich. Und das hatte im besten Sinne etwas von einem Beichtvater, strahlte eine vertraute Wärme für sie aus und erzeugte an diesem tag das erste wohlige Gefühl in ihrem Bauch.
„Ach… frag nicht.“ Sie überlegte kurz und entschied sich dann für Offenheit. Wem gegenüber sollte sie offen sein, wenn nicht Henrik gegenüber? „Ich habe mich wohl ganz schön zum Affen gemacht.“ Ihre Blicke trafen sich und er hörte ihr ruhig zu, neutral, aber aufmerksam. „Ich habe mich vermutlich verrannt – und dann hat sich einer beschwert.“
„Ah… Hm – worum ging es?“
„Die Streife hatte am 11. nach mehreren Anrufen von besorgten Anwohnern einen Typen aufgegriffen. Oben an der Straße, die aus dem Forsdalen herausführt.“
„An der Vorsperre?“
„Genau. Da hatten ein paar Leute aus Forsdalen angerufen, dass sich zwei seltsame Typen im Tal herumtrieben und hielten die für Einbrecher oder möglicherweise für irgendwelche perversen Spinner.“
„Aha – und dann? Ihr habt nur einen erwischt?“
„Ja. Camilla sagte, sie glaubt, dass der andere weggerannt ist – aber sie waren sich auch nicht so ganz sicher und haben ihn auch nicht verfolgt oder so.“
„Okay… Das klingt nicht gerade dramatisch.“
„Ja…“ Sie hob die Hände zum Himmel. „War es vermutlich auch nicht. Aber ich fand den irgendwie verdächtig. Er hatte eine komische Erklärung, die keinen Sinn ergab.“
„Was denn?“
„Er war im Wald spazieren gewesen. Aber vorher war er 50 Kilometer mit dem Zug angereist. Angeblich, weil er mal vor Jahren da irgendwo im Wald war und den Kopf freibekommen wollte.“
„Im Forsdalen? Das ist dafür doch eher ungeeignet…“ stutzte er und seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, die ihn durchaus attraktiver machten, wie Stina fand. „In Forsdalen kann man sich allenfalls ein paar giftige Dämpfe holen, wenn man den Kopf zu lange lüftet. Da sind bestimmt noch ausreichend Gifte übrig…“
„Ja – eben, merkste was? Und der Typ wirkte verwirrt. So ein Börsen-Kerl. Offensichtlich ein gut situierter Typ, vermutlich stinkreich.“
„Na gut – die Börsentypen sind seit dem 11. Neunten wohl alle nicht ganz zurechnungsfähig…“ Er zuckte die Schultern.
„Ja – aber das war am 11. Neunten
. Als das Ganze bekannt wurde, wollte er mehrere Stunden allein im Wald spaziert sein. Er hat den 11. September gar nicht mitbekommen. Insofern hatte er noch nicht mal einen guten Grund, verwirrt zu sein.“
Henrik legte die Füße auf den Tisch und grinste über das Klischee, das er nun erfüllte. „Hey … jetzt wird es interessant. Erzähl mir mehr.“
„Ich habe ihn eine ganze Zeit verhört – aber dem konntest Du nix anhaben. Wir hatten ja keine Straftat oder so. Ich hätte ihn im Grunde gar nicht verhören sollen – aber die ganzen anderen saßen ja wie hypnotisiert vor dem Fernseher. Und der konnte das alles zumindest so erklären, dass es in den einzelnen Facetten glaubhaft war.“
„Aber die übergreifende Geschichte stimmte nicht…“
„Genau. Die einzelnen Bilder waren glaubhaft – aber es wurde einfach kein Film draus.“
„Hm… okay. Und dann?“
„Der Typ hat in der Aussage irgendwann erzählt, dass er am Abend davor in einer Bar war – das war Teil seines Alibis, wenn Du so willst. Und deshalb hatte er am 11. angeblich nicht gearbeitet, weil er lange in der Bar war. Als ich das überprüfe, stelle ich fest, dass das wohl stimmte. Und eine Mitarbeiterin der Bar sagte mir in einem Nebensatz, dass er noch einmal zurück in die Bar gekommen sei und mit dem Besitzer der Bar geredet hat.“
„Ja – na und?“
„Und am 11. September war dann auch der Besitzer der Bar nicht erschienen. Und alle seine Mitarbeiter… Nein – alle seine Mitarbeiterinnen
, die es ja eigentlich sind, haben bestätigt, dass es das bei ihm zuvor nie gegeben hat.“
„Und das findest Du verdächtig?“ Henrik blickte sie aufmerksam an und sie hatte ein wenig Angst, dass er leicht schmunzelte, ignorierte das aber.
„Die beiden Kerle treffen sich abends in einer Bar, sprechen miteinander, kommen am nächsten Tag beide nicht zur Arbeit und tauchen dann hier im Wald auf? Ja – das finde ich allerdings
verdächtig!“ betonte sie unnötig laut und Henrik wich leicht zurück.
„Moment, wieso meinst Du, dass die beide
hier aufgetaucht sind?“
„Die Beschreibung passte. Der eine hatte einen AC/DC Hoodie an – das war dieser Börsentyp. Und der andere wurde als sehr muskulös und breitschultrig beschrieben – und so sieht der Barbesitzer aus! Also nehme ich an, dass die irgendwie zusammengehören, oder?“
„Okay - verstanden. Aber das allein hat Ole nicht aufgeregt, oder?“
„Nein – ich bin am nächsten Tag hingefahren und wollte mit den beiden sprechen. Beide Gespräche… Beide… Ich war einfach scheiße, sagen wir es mal so.“ Sie ließ den Kopf unbewusst sinken und fühlte sich sofort wieder schlecht, wenn sie an diese beiden Gespräche zurückdenken musste. Die lagen auf ihr wie ein dicker Pickel auf der Nasenspitze. Immer und immer wieder kam die Erinnerung daran zurück und ihr Magen verkrampfte sich. „Die Vernehmungen waren ein Desaster. Die Typen kannten zum Teil einzelne Paragrafen aus dem Kopf. Ich hatte ihnen nicht sauber gesagt, in welcher…“
„Ja ja… Das ist uns allen doch schon mal passiert, oder?“ Der väterliche Blick traf sie ins Herz und beruhigte sie. Er zeigte ins Revier hinein. „Meinst du, du findest hier einen einzigen Menschen auf dem Revier, dem das nicht schon passiert wäre?“ Henrik zuckte die Schultern und zeigte ihr, wie belanglos das im richtigen Leben war. Dabei hatte sie so geweint an dem Tag. Es war so schmerzhaft gewesen… Schon die Erinnerung stresste sie – und doch war sie froh, jetzt so locker mit Henrik darüber sprechen zu können. „Du willst doch zuerst mal ganz
normal mit jedem Zeugen, Verdächtigen oder Beteiligten sprechen, eine Atmosphäre aufbauen und locker werden. Da spricht keiner über Paragrafen, oder? Mache ich auch nicht – darauf kannst Du einen lassen. Und Ole kann zehnmal der Chef sein: der macht es auch nicht, vertrau mir.“
Wieder schlug Henrik die Beine auf dem Tisch übereinander, lehnte sich auf dem Stuhl weit nach hinten. „Aber deswegen hat Ole dich nicht angeschnauzt, dass ich es bis in die Olof-Palme-Gata hören konnte?“
„Nein… Ich habe die Vernehmungen nicht nur verbockt – der Chef von diesem Kerl, von dem Börsentypen, hat sich beschwert. Hier bei uns. Und dabei ist er ausgerechnet bei Ole gelandet, der sich das anhören musste… Und ich hatte mich nicht abgemeldet, keiner wusste, wo ich war…“
„Weil Du eine verdammte Ermittlerin bist und nicht nur das Recht hast, sondern auch die Pflicht, dich im Zweifel in Dienst zu setzen, wenn Du irgendwo eine Straftat vermutest. Ole lernt das irgendwie nie…“ Er schüttelte den Kopf. Dann schien Henrik nachzudenken, schien sich ein wenig überwinden zu müssen und Stina gab ihm die Zeit und bemühte sich, ihn dabei nicht zu intensiv zu beobachten.
„Sag… Stina… Du weisst, dass Ole auch von da unten kommt, oder?“
„Nein… Aus Forsdalen?“
„Nicht direkt. Er kommt aus dem Tal gegenüber, aus Kolsbäckla.“
„Aus Kolsbäckla? Das ist doch nicht gegenüber.“
„Oh doch… Das fühlt sich nur nicht so an, wenn man oben an der Hauptstraße dran vorbeifährt. Ganz früher waren die beiden Täler mal durch eine eigene kurze Bahnlinie verbunden. Das begreifst Du nur nicht, weil du die Gegend nur von der Straße aus kennst. Und die hat sich mit den Jahren verändert. Wenn Du das nur mit dem Auto kennst, scheint das endlos weit weg zu sein, weil Du von der anderen Landstraße aus nach Kolsbäckla fährst. Aber schau es dir mal auf der Karte an. Zu Fuß musst Du da nur ein paar Minuten durch den Wald gehen. Und bevor die Talsperre dort gebaut wurde, hast Du die beiden Orte von derselben Straße aus angesteuert,“ erklärte Henrik. Er war in der Gegend um Lorisborg groß geworden – ein unglaublicher Vorteil für einen Ermittler, wie Stina fand. Sie selbst kam zwar auch aus der Region, jedoch nicht direkt aus Lorisborg.
„Okay… Das wusste ich nicht…“ Sie konnte es auch nicht direkt verarbeiten. Sie war in beiden Orten schon einmal kurz gewesen. Und hatte da keinerlei Zusammenhang hergestellt.
„In Kolsbäckla war früher eine Chemie-Fabrik, Lösungsmittel und solche Sachen.
Verarbeitet wurde alles im Forsdalen – da kamen die chemischen Zutaten und der Schlamm aus den Minen zusammen. Vereinfach gesagt. Dort wurde all das falsche billige Falunrot hergestellt, das unser Land prägt. Das Falunrot, das sich nicht einmal so nennen durfte. Und die Leute da unten – ich sage Dir, die konnten sich nicht mal einen kalten Hering an die Lampe hängen.“
„Hä?“
„Was – hä?“
„Was meinst Du mit dem kalten Hering
?“
„Die waren bettelarm! Die konnten sich nicht mal einen kalten Krill an die Lampe hängen.“
Stina lachte kurz. „Das habe ich noch nie gehört…“
„Noch viel lernen du musst, mein junger Padawan…“ grinste Henrik. „Ole redet da natürlich heute nicht mehr drüber – was ich verstehe. Behalt das auch mal für dich. Ich denke nicht, dass das hier alle wissen. Aber als der hier angefangen hat, haben ihn ein paar Typen wirklich gehänselt wegen seiner Herkunft. Forsdalen war eine durchaus üble Gegend – und Kolsbäckla war es auch.“
„Die 70er…“
„Och – das ging bis in die 80er, denke ich.“ Er schüttelte den Kopf und grinste. „Da durfte man hier noch in jedem Büro rauchen. Ich erinnere mich an Verhöre, bei denen mir die Augen getränt haben…“
Sie lachten beide. Dann wurde Henrik ernst. „Irgendwann ist dann aber Oles Bruder verschwunden. Das war nicht lustig für ihn. Das hat ihn verändert, ehrlich. Und da war er ja auch noch ein ganz kleines Licht hier.“
„Ja – aber muss ich ihm das heute noch irgendwie verzeihen? Ich meine: Wann war das? Vor 30 Jahren?“
„20 eher…“
„Na gut, meinetwegen. Dann bekommt er zwei extra Punkte von mir. Aber trotzdem… Er hat mich echt zur Sau gemacht.“
„Forsdalen… das ist etwas Besonderes für ihn…“
„Wieso?“
„Na… der kannte da praktisch jeden. Die sind doch alle zusammen zur Schule gegangen. Die Typen aus Kolsbäckla haben die Mädels aus Forsdalen gevögelt und umgekehrt.“ Er grinste. „Kleiner Grenzverkehr… die hingen alle zusammen. Die beiden Fabriken konnten
ohne einander nicht überleben – und die Leute… die Leute irgendwie auch. Und dann gab es eben die Blutnacht. Und sein Bruder…“
„Die Blutnacht
? Was war das?“ unterbrach sie ihn und setzte sich spontan aufrecht hin.
Henrik hielt einen kurzen Moment inne. Stina Borglund war sich einen ganzen Augenblick lang sicher, dass das zur Dramaturgie gehörte. Dann aber begriff sie, dass Henrik hier gar nicht spaßte. „Du hast noch nie von der Blutnacht
gehört? Dein Partner Sune hat dir nie von der Blutnacht
erzählt?“
„Ich…“ Stina kam sich ausgestoßen, klein und dumm vor. Sune war ziemlich genau Oles Alter. Er kannte hier jeden. Er kannte Ole seit der Ausbildung. Und er war Ende der 70er schon hier im Revier gewesen. Von einer Blutnacht hatte sie noch nie gehört. „Was… Also – ich meine: Vielleicht habe ich nur den speziellen Namen noch nie gehört?“
„Nein nein… die Blutnacht...“ Er schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich – es ist eine Frechheit, dass dir niemand…“ Er riss die Füße vom Tisch, erhob sich fast blitzartig, legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und versprach im Hinausgehen „Ich besorg dir die Akte.“
„Ich… Vielen Dank, Henrik.“
„Kein Ding – Du schuldest mir ein Bier oder zwei.“
Dann war er verschwunden und Stina wusste nicht, was überwog: die Tatsache, dass sie ihm sehr dankbar war oder die Wut gegen den Rest der Welt. War sie die einzige in Lorisborg, die noch nie von der Blutnacht gehört hatte?“
Sie machte früh Feierabend und entschied sich, das Skarabäus aufzusuchen, um dort in ihrer Lieblingsbar ihren Kummer zu ertränken und vielleicht mit einem der älteren Gäste kurz über die Blutnacht zu sprechen. Wenn das so eine heiße Sache war, dann würden ja sicher nicht nur die Polizisten davon wissen.