|| tjugo ||
||     Ihre Augen fühlten sich an, als hätte sie Tabasco unter die Lieder gerieben und sie musste einen Moment Pause einlegen. Nachdem sie die Lider geschlossen hatte, war sie für einen kurzen Moment weggenickt, dann raffte sie sich ruckartig auf, ging ein paar Schritte und schnitt Grimassen, um wieder zu sich zu kommen. Schließlich bemerkte sie, dass sie kurz davor war, sich in die Hose zu machen. Sie verkrampfte sich und huschte schnell raus ins Licht, über den langen Gang, der dieses komische Echo zurückwarf und schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.
Als sie sich wieder entspannte hatte und den Slip hochzog fiel ihr Blick in den Spiegel, den jemand in der kleinem Toilettenbox angebracht hatte. Erst da realisierte Stina, wie gestresst sie eigentlich aussah. Der Hof um ihre Augen hatte sich verfärbt und ließ sie alt wirken. Nicht nur älter – sie wirkte alt um die Augen, gestresst, als hätten diese Augen bereits viel mehr gesehen. Aber so fühlte sie sich tatsächlich.
Tagsüber hatte sie die vergangenen drei Tage an einem bescheuerten Todesfall ermittelt und heute alles auf den Weg gebracht, was die Staatsanwaltschaft brauchte. Sie hatten ihr einen jungen Kerl an die Seite gestellt, der ihr geholfen hatte. Ein netter artiger dummer Junge.
Abends hatte sie sich dann mit Henrik getroffen und alles noch einmal durchgespielt. Schließlich hatte sie es heute geschafft, in das alte Archiv zu gehen, wo sie mit sehr viel Ruhe und Zeit weiter geforscht hatte. Abwechselnd in der grünen Welt der Microfiches und der schwarzweißen Welt der CD ROMs. Sie musste Grinsen – ihre Mutter sprach den Begriff CD ROM seit Jahren stur aus wie die Stadt mit dem Petersdom. Das war ihr erstes Lächeln seit Stunden. Es ging auf 23 Uhr zu und sie begann sich zu fragen, ob außer ihr und dem Mann am Empfang überhaupt noch jemand in diesem Polizeirevier zu finden war.
Vermutlich nicht.
Dennoch: Sie war vorangekommen.
Es wäre ihr schwergefallen, zu erklären, warum sie in Sachen Blutnacht überhaupt glaubte, etwas ermitteln zu können. War das nicht lächerlich? Sie führte Verhöre wie eine scheue Katze auf Speed und wollte Kriminalpolizistin sein? Zweimal hatte sie die Chance auf den nächsten Schritt jetzt verpasst. Immer noch war sie im Rang einer Kriminalkommissarin. Sie hatte zwei Kollegen, die drei Jahre nach ihr gestartet hatten und einen höheren Rang innehatten. Und ausgerechnet sie wollte den alten Fall heimlich lösen?
Wirklich? Und wenn ja – für wen? Für sich? Nein… Wenn sie ehrlich war, wollte sie Ole, ihrem Chef, unter die Nase halten, dass sie eine gute Ermittlerin war. Sie war sich sicher, dass hier etwas vorgefallen war, was man auseinander knoten konnte, wenn man es nur wirklich mit dem Herzen wollte. Nie hatte sie so verzweifelt an etwas herumgeforscht. Nie. Sie wollte dieses Rätsel lösen. Und je tiefer sie eintauchte, umso mehr zeichnete sich ein Netz in ihrem Kopf ab, das langsam zu einem Bild wurde. Das hatte längst nichts mehr mit diesem Mikael zu tun, der sie am 11. September zufällig auf dieses Thema gestürzt hatte.
Am kommenden Morgen wachte sie früh auf, obwohl sie spät ins Bett gekommen war. Sie schickte Henrik eine SMS und informierte ihn, dass sie sich auf den Weg ins Forsdalen machte und dass sie es wieder über Kolsbäckla ansteuern würde. Ihr war in der Nacht etwas klar geworden, dass sie bislang nicht begriffen hatte.
Es war Samstag, aber Henrik hatte ihr versprochen, sie auf ihrem Projekt zu begleiten, wie sie diese Recherchen jetzt nannten. Eine Ermittlung war es nicht – niemand hatte sie befugt, Ermittlungen anzustellen.
Keine 20 Minuten später parkte sie ihren Wagen wieder gegenüber dem Haus mit der alten Frau. Wieder erkannte sie den Schatten der grauhaarigen gebückten Gestalt hinter den grauen Gardinen, wieder schob sich die alte Frau zur Seite, bis sie fast nicht mehr zu sehen war. Wieder nahm sie ihren Rucksack mit der Cola-Light-Flasche, einer stark erweiterten Version ihrer Akte und einer neuen Karte aus dem Wagen. Mit ihren festen Schuhen marschierte sie diesmal die Straße, die diesen Namen nicht verdiente, ein kleines Stück herunter, wechselte dann über den kleinen Fluss, der die Straße säumte und folgte diesem. Es kostete sie gut 20 Minuten, bis sie die Stelle gefunden hatte, an der man den toten Jungen im Fluss gefunden hatte. Von den Bildern der ersten Akte wusste sie, dass der Fluss damals mehr Wasser geführt hatte. Heute war es eher nur noch ein Bach, was wohl mit dem Stausee zu tun hatte, bei dessen Bau man einige Flüsse umgeleitet oder zusammengefasst hatte. Dieser hier hatte einst weiter oben einen mächtigen Zufluss gehabt, der nun den Stausee fütterte und scheinbar woanders weiterlief.
Sie packte die Akte aus, die sie völlig neu zusammengestellt hatte. Die Bilder waren jetzt in Folien eingeheftet und sie konnte die Akte jetzt auch im Wald herausnehmen, ohne Angst haben zu müssen, etwas zu verlieren. Zwischen den ursprünglichen Bestandteilen der Akte hatte sie alle neuen Erkenntnisse akribisch mit ihrem Druckbleistift handschriftlich dokumentiert. Das waren gute 20 Seiten, die eng beschrieben waren und mit einigen Zeichnungen gespickt waren, die sie in den letzten Tagen angefertigt hatte.
Sie hatte sich mit Gesetzen auseinandergesetzt, die bislang keine Bedeutung in ihrem Leben gehabt hatten. Das Verschollenheitsgesetz etwa, von dem sie zuvor nur einmal in ihrer Ausbildung gehört hatte. Von den drei Verschwundenen der Blutnacht nämlich waren zwei Personen nie für tot erklärt worden. Nach knapp 20 Jahren war das eher ungewöhnlich, wie sie mittlerweile wusste. Die Akten dazu hatten Henrik und sie angefordert – der reine Eintrag im Computersystem gab keinen Sinn – und auch der Microfiche-Ausflug der vergangenen Nacht hatte hier nicht weitergeführt.
Aber heute wollte sie sich im ersten Schritt einmal die ganzen Orte genau ansehen, um aus der Aktenlage eine Lage herzustellen, die ihr das Gefühl verlieh, dabei gewesen zu sein.
Sie hielt das Bild aus der Akte hoch und verglich 1982 mit 2001, um festzustellen, dass das Foto leider einen völlig unpassenden Ausschnitt hatte. Der junge Kerl, dieser Harry Schorflund, der hier gefunden worden war, hatte tot unter der Brücke gelegen mit gebrochenem Schädel. Als sie ihn gefunden hatten, war die Blutnacht selbst schon einige Tage her gewesen. Er hatte im Wasser gelegen, war hier und da von Tieren angeknabbert worden und viel zu untersuchen gab es da nicht mehr. Der Gerichtsmediziner war zu dem Schluss gekommen, dass Harry Schorflund von der kleinen steinernen Brücke gestürzt sein musste und dabei ungünstig gefallen war und sich zwei Brüche zugezogen hatte, die ihn nicht umgebracht hätten. Sein Kopf jedoch war offensichtlich auf einen großen spitzen Stein geprallt und war mehr oder weniger zerplatzt. Sein Genick war doppelt gebrochen. Da spielte es kaum noch eine Rolle, was genau die Todesursache gewesen war.
Im Normalfall hätte es bei diesem Tod 1982 keinerlei Untersuchung gegeben. Harry Schorflund war ein arbeitsloser Jugendlicher, der als gewalttätig galt, öfter trank und ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängig hatte. Eine Untersuchung hatte es damals überhaupt nur gegeben, weil seine Leiche Luftlinie nur wenige hundert Meter von den anderen Vorgängen der Blutnacht gefunden worden war. Hinzu kam, dass er von Zeugen als der beste Freund von Gunnar Fransson beschrieben wurde. Und der war schließlich auch wenige Tage vor der Blutnacht verschwunden. Ebenso wie die beiden Teenager aus Forsdalen. Und wenn vier junge Kerle in wenigen 100 Metern Umkreis verschwanden und einer wiederauftauchte, dann war das wohl auch im Schweden von Thorbjörn Fälldin und Olof Palme eine Untersuchung wert gewesen.
Die Obduktion hatte Spuren verschiedener Drogen in seinem Blut nachgewiesen, jedoch nur in sehr geringen Mengen. Ein Todeszeitpunkt war nicht mehr präzise zu bestimmen gewesen. Das hatte der Gerichtsmediziner damals offengelassen – eine Verfahrensweise, die 19 Jahre später in Schweden nicht mehr zulässig war, zumal nicht ohne eine gute Begründung. Stina schüttelte den Kopf und blickte sich um. Schließlich setzte sie einen Fuß auf die steinerne alte Brücke, die auch 1982 schon historisch gewesen war. Sie balancierte auf der breiten Abmauerung wie ein junges Schulmädchen, tänzelnd beinahe. Das musste Harry auch getan haben, sonst hätte er sich die beschriebenen Verletzungen nicht zuziehen können. Dieses Bild wollte nicht in ihren Kopf passen. Hätte der junge kräftige Typ, der als brutaler Schläger galt, auf dieser Brücke herumbalanciert?
Aus dem Augenwinkel bemerkte Stina plötzlich, dass sie beobachtet wurde. Sie schaute vorsichtig in die betreffende Richtung, konnte jedoch niemanden erblicken. Dennoch war sie sich sicher, dass dort jemand gewesen war. Der Gedanke wollte ihr nicht recht aus dem Kopf gehen, trotzdem blickte sie noch einmal in die Akte und notierte die Anmerkung, dass aus den Unterlagen eigenartiger Weise nicht hervorging, wer den jungen Mann damals gefunden hatte.
Tatsächlich hatte sie das an einigen Stellen bemerkt. Das junge Mädchen, das im Krankenhaus gerettet worden war, war dort scheinbar auch vom Himmel gefallen. Das würde sie noch klären.
Erst einmal verstaute sie die Akte und zurrte den Rucksack fest, um im Wald den steilen Pfad in Richtung der Staumauer zu erklimmen. Sie musste jedoch feststellen, dass das von hier aus nicht möglich war. Die Steigung war schlicht zu groß – und das bei rutschigem Waldboden. Als sie die Entscheidung traf, aufzugeben und den unteren Weg zu gehen, drehte sie sich spontan um. Und diesmal konnte sie sehen, wie ein roter Pullover oder eine rote Jacke ruckartig hinter einer stattlichen Eiche verschwand.
Stina Borglund schritt ruhig und mit leicht gesenktem Kopf weiter und zog dabei stoisch ihre Bahn durch den Wald, während sie sich der Eiche immer mehr näherte. Sie ärgerte sich, keine Waffe mitgenommen zu haben. Aber etwas an der Bewegung hatte ihr gesagt, dass es sich um ein Kind gehandelt hatte, das sie beobachtete, vielleicht einen Teenager. Wenn sie die Bewegungen im Kopf zurückspulte, deuteten nichts auf einen Erwachsenen hin. Irgendwie erschien ihr der Ablauf dazu zu schnell, fast ein wenig katzenhaft.
12 Meter noch. 10 Meter noch. Ihre Hände waren leicht feucht geworden. Sie hatte die eine Hand zur Faust geballt und musste sich konzentrieren, um die Finger wieder zu strecken. Dann startete sie los und rannte die letzten Meter blitzschnell zu der Eiche hin. Als sie neben die Eiche sprang, sah sie…
…nichts und niemanden. Sie kniff die Augen zusammen, sah sich rasch in die einzige Richtung um, die man zur Flucht hatte nutzen können. Aber auch dort sah sie nichts außer ein paar Spuren auf dem Boden, die jedoch weder neu noch von einem Menschen sein mussten. Dann hielt sie inne. Ohne die Person, die sie beobachtet hatte, hätte sie einen leicht anderen Weg eingeschlagen. Nun aber erkannte sie etwas, das ihre Geländekarte nicht zeigte. Sie konnte es nur erkennen, weil sie leicht erhöht stand. Weiter oben im Wald sah sie eine verrottete Leitplanke und ein Stück von gut sieben oder acht Metern Länge, das geteert war, obwohl der Wald die größten Teile davon bereits zurückerobert hatte. Vermutlich war dort oben eine Straße verlaufen, bevor sie damals die Staumauer gebaut hatten.
Sie blickte hoch, blickte zurück zur Steinbrücke, blickte zur Staumauer. Offensichtlich hatte die Geometrie des Waldes sich durch die Talsperre erheblicher verändert, als sie von der reinen Karte her begriffen hatte. Sie musste eine Karte beschaffen, die ihr diesen Wald in seiner Form von 1982 zeigte, soviel wurde ihr jetzt klar. Wenn sie die Blutnacht verstehen wollte, musste sie die Mikro-Geografie von 1982 ebenso verstehen, wie die Mikro-Soziologie dieser beiden Orte, die so abgelegen und so eng beieinander lagen und von ihren wirtschaftlichen und menschlichen Schicksalen verwoben waren.
Ihr privates Handy klingelte und sie riss es förmlich aus ihrer Jeans und nahm das Gespräch an.
„Stina – Henrik hier. Wo bist du?“
„Ziemlich genau zwischen den beiden Orten im Wald. Und Du?“
„Ich bin unten in Forsdalen und gehe gerade in Richtung Wald. Wie finde ich Dich?“
„Ich bin ziemlich weit oben in der Nähe der… Halt mal bitte an – Stopp!“
„Hä?“
„Ich kann Dich sehen. Du trägst eine braune Jacke, oder?“
„Ich…“ er drehte sich zur Seite, blickte sich in alle Richtungen um, konnte Stina aber nicht erkennen, obwohl er in die richtige Richtung schaute. „Ich sehe Dich nicht – wo bist Du?“
„Dreh Deinen Kopf mal etwas höher. Ja, so… jetzt nach rechts – Nein! Mein Rechts, also dein Links. Ja… langsam, langsam… Stopp!“
„Und jetzt?“
„Siehst Du mich nicht?“
„Nein… Nicht im Geringsten.“
„Interessant. Ich komme Dir entgegen. Ich winke.“
„Ah… jetzt sehe ich da was. Wow! Sooo weit oben bist Du? Das hatte ich nicht verstanden. Ich habe Dich weiter unten gesucht.“ Er legte auf und schaute ihr zu, wie sie langsam den Wald zu ihm herabstieg. Die ersten Laubblätter machten den Abstieg leicht rutschig – aber es war immerhin trocken. Als sie unten ankam, geschah etwas eigenartiges. Henrik umarmte sie fröhlich und irgendwie kumpelhaft. Beide sahen sich das erste Mal in echter Freizeitkleidung und Stina fragte sich, ob sie für seine Augen auch so fremd wirkte wie er für ihre.
„Was hast du herausgefunden, Liebes?“
„Ich habe mir die Brücke angesehen, wo sie diesen Harry gefunden haben.“
„Ah… Da hinten.“ Er deutete einigermaßen präzise in die richtige Richtung und Stina nickte.
„Erinnerst du dich, wer den damals gefunden hat?“
Er blickte nachdenklich an ihr vorbei. „Hm… nicht präzise. Wenn ich sagen wollte, was meine Erinnerung ist: Spielende Kinder? Aber nagel mich nicht drauf fest.“
„Kanntest du Harry Schorflund?“
„Ja, flüchtig… Den kannte hier jeder. Wenn es in Lorisborg irgendwo eine Schlägerei gab – Schulhof, Fußballplatz, Kneipe – er war eigentlich immer dabei seit Mitte der 70er. Der war viel unterwegs, genau wie Gunnar Fransson. Wäre der nicht Oles Bruder gewesen, hätte man da sicher genauer hingesehen. Ich hatte nie so richtig viel mit ihm zu tun – aber als Polizist kanntest du den. Und wenn du ihn bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle gefunden hast, dann hast Du sein Auto immer vorsichtshalber zerlegt. Ein Schlägertyp, wenig Hirn, wenn Du mich fragst.“
„Und Gunnar Fransson hat für ihn die geistige Arbeit gemacht?“
Er lachte kurz. „Ein gutes Bild, Stina, wirklich. Aber ja: So war das wirklich. Harry war der Kettenhund von Gunnar Fransson, wenn du so willst. Gunnar Fransson war der klügere der beiden. Das war so ein David Bowie-Typ. Fransson war ein Exot. Ganz anders als der Ole Franssson etwa, den du heute kennst. Irgendwie ein bisschen Dandy und vielleicht der einzige hier unten, der durch seine Klamotten auffiel. Das gab es hier unten nicht. Stell Dir das Schweden unter Thorbjörn Fälldin oder auch noch unter Olof Palme ein wenig anders vor als das heutige Schweden. Da war man unauffälliger, angegelichener.“
„Wegen des kalten Herings und so…“
Er lachte wieder sein frisches, etwas raues Lachen. „Richtig, ich sage doch: die Leute hier unten konnten sich nicht mal einen kalten Hering an die Lampe hängen.“
„Aber Fransson konnte?“
„Ja… das war schon ein wenig eigenartig. Zumal er schließlich aus derselben Familie wie Ole stammte. Und die waren jetzt alles andere als reich. Seine Mutter wohnt da übrigens immer noch, soweit ich weiß.“
„Und sie haben ihren Sohn nie für tot erklären lassen…“
„Ja… Das verstehe, wer will. Ist das nicht wie eine offene Wunde, auf die du jeden Morgen einen Schluck Essig schüttest?“
Stina schüttelte den Kopf. „Was für ein hässliches Bild.“
„Und so schmerzhaft,“ ergänzte Henrik in einem eigenartig neutralen Ton. „Ich habe übrigens die Akte im Auto, die du angefordert hattest. Ich war noch einmal schnell auf dem Revier. Ist scheinbar heute ganz früh eingetroffen.“
„Und?“
„Hab sie nur überflogen – aber warst Du schon mal in Djuras?“
„Äh… denke nicht.“
„Djuras ist ein Grenzort. Liegt so in etwa zwischen Falun und Björbo, wenn Du so willst.“
„Okay… Was ist damit?“
„1996 wurde dort ein Skelett gefunden. In einem Wald in einem Bunker – oder vielmehr unterhalb eines Bunkers vergraben, wenn ich es recht verstanden habe. Und bei der Leiche hat man die Ausweispapiere von den beiden verschwundenen Teenagern gefunden.“
„Von diesen Wrigger und Hanson?“
„Korrekt.“
„Und wer war der Tote?“
„Fionnbharr Wrigger.“
„Hä…?“ Stina sah zu Boden und überprüfte die geringe Menge Theorien, die sie hatte. „Ganz ehrlich: Ich hatte auf etwas getippt, dass hier ganz lokal stattgefunden hat. Ich hätte gewettet, dass das alles, was sich in der Blutnacht zugetragen hat, hier auf ein paar Metern stattgefunden hat und nicht an der norwegischen Grenze.“
„Ja… das war lange Zeit auch immer die Ermittlungsrichtung. Die hatten sich ja die verrücktesten Sachen ausgedacht.“
„Etwa?“
„Na … ein paar Sachen findest Du ja in den Akten. Aber die Fantasien sind da nicht alle in die Akten gekommen, klar, oder? Es gab eine ganze Zeit lang jede Menge Theorien, die von einer kruden Rolle ausgingen, die der erschossene Anton Hanson gehabt haben musste. Also der alte Hanson, der Vater von diesem Morten Hanson, der verschwunden ist. Das wildeste, was ich damals gehört habe, war, dass der die ganzen Teenager irgendwo festgehalten hat und sie sich an diesem Abend befreit haben. Einer von ihnen hat Hanson dann angeblich erschossen und die Treppe heruntergestoßen. Alternativ hatten sie sich befreit und er hat sich selbst erschossen, weil er Angst hatte, die Kinder würden ihn bei uns verpfeifen.“
„Aber da passt ja nichts zusammen.“
„Immerhin waren da sechs Teenager irgendwie involviert, zwei davon junge hübsche Mädchen. Da geht mit dem einen oder anderen schon mal die Fantasie durch. Und die beiden Mädchen waren wirklich hübsch.“ Er zuckte die Schultern und lächelte.
Stina Borglund schüttelte den Kopf. „Mal im Ernst: davon kann man nach Aktenlage nichts beweisen.“
„Stimmt. Und 1996 hätte das eigentlich noch einmal komplett verändern müssen, oder?“
„Du meinst, den Fall neu aufnehmen?“
„Na ja – findest Du nicht? Da war das 14 Jahre her. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass da der Chef der hiesigen Polizeibehörde, dessen Bruder seitdem verschwunden war, den Faden wieder aufnimmt?“
„Oh…“ Stina stockte der Atem für einen Moment. Zwei Sekunden lang hatte sie ein regelrechtes Erstickungsgefühl, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisierte. „Das hatte ich nicht bedacht. Ich war gerade irgendwie mehr im Fall selbst als in der politischen Betrachtung.“ Sie kräuselte die Stirn, überlegte. „Meinst Du etwa, dass Ole da etwas…?“
„Ehrlichgesagt glaube ich das nicht. Nicht so, wie Du das jetzt gerade meinst. Ich muss gestehen: Ich habe davon 1996 nichts mitbekommen. Wir müssen mal noch mit anderen darüber sprechen. Aber Ole muss das gewusst haben, das steht außer Frage. Ich denke, dass einige Beamte da einen gewissen vorauseilenden Gehorsam pflegen, weisst du? Ole war 1996 immerhin schon der Chef. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass er seiner Mutter das vielleicht ersparen wollte.“
„Hm… möglich.“ Stina hing ein paar wirren Gedanken nach.
„Aber klar – diesem Fall hing immer irgendwie der Makel an, dass da ein Fransson im Fall eines Franssons ermittelt hat und den Fall nicht gelöst hat. Konnte der den Fall nicht lösen? Wollte er den Fall nicht lösen? Wusste der was, was den Fall geändert hätte? Es gab hier ein oder zwei Polizisten, an die ich mich erinnere, die waren der Ansicht, dass Oles Bruder damals einfach untertauchen musste. So völlig irre ist die Theorie nicht, wenn du mich fragst.“
Sie gingen langsam in Richtung Forsdalen, während Stina diesen Gedanken zu Ende dachte. „Was hätte das sein können – was hat man da damals auf dem Gang erzählt?“
„Ach,“ er machte eine abwinkende Handbewegung. „Vermutlich im Kern Blödsinn. Du weisst doch, wie die ganzen Bullen sind. Und das war 1982 eher schlimmer, glaub mir.“ Er lachte mit einem krächzenden Unterton.
„Wie kann es eigentlich sein, dass ich davon nie etwas gehört habe?“
„Na… da warst du noch auf der Grundschule…“ grinste er.
„So meine ich das nicht. Wieso habe ich hier auf dem Revier noch nie davon gehört?“
„Das… Ja – das wundert mich allerdings, wenn ich ehrlich sein soll.“
„Sollst du…“
„Ich hatte vielleicht angenommen, dass Du das weisst und hab dir deshalb nichts davon erzählt. Vielleicht ist das bei den anderen auch so? Und es ist halt auch 20 Jahre her. War eine andere Generation Bullen. Und dann kommt hinzu: Ein paar wollen sicher auch nicht drüber sprechen. Geh ins Archiv des Lorisborg Nyheter und schau dir die Artikel an. Die haben damals alle ziemlich auf uns rumgehackt. Ich war froh, dass das nicht mein Fall war. Selbst drüben in Rydlund hat die Zeitung eine ganze Zeit lang mal eine regelrechte Kampagne gegen die Polizei hier in Lorisborg gefahren. Normalerweise interessieren die sich dort nicht für uns.“
„Meinst Du, es macht Sinn, mit denen bei der Zeitung noch einmal zu sprechen? Also hier in Lorisborg und in Rydlund?“
„Möglich.“ Er blieb stehen, um nachzudenken. Dann hob er die Hand. „Oh ja… ein Name fällt mir da ein. Herlof… Hab den Nachnamen vergessen… Aber da komme ich drauf. Der arbeitet heute nicht mehr. Aber der hatte damals einen guten Überblick. Der wusste manchmal mehr als wir. War ein guter Typ.“
Sie hatten den Waldweg bis zum Ende begangen und waren in Forsdalen eingetroffen. Stina blieb stehen und schaute sich um. „Meinst du, die Leute hier haben mittlerweile Heringe an der Lampe…?“ grinste sie.
Henrik grinste breit zurück und deutete dann herüber zu den Häusern. „Die Leute, die jetzt da leben – ich sage Dir, das hat nichts mit dem zu tun, wie es hier in den 70ern und 80ern war. Nicht das Geringste. In den Häusern waren jeweils neun Wohnungen auf drei Etagen. Immer zwei größere Außen und eine kleinere in der Mitte. Spottbillige Mieten, die zu den lachhaften Löhnen passten. Wenn Du hier gearbeitet hast, hattest Du zwar ein extrem geringes Gehalt – aber es fühlte sich hier unten eben nicht so an. Wer hier wohnte, der war gestrandet, wenn Du mich fragst. Und das war der Unterschied zu Kolsbäckla.“ Er deutete mit dem Daumen hinter sich. „Die Chemie-Fabrik hat sich weiterentwickelt. Aber hier ging es eigentlich nur bergab. Die haben hier eine Art billig-Falun hergestellt. Also eine Kopie der wichtigsten Farbe Schwedens für die Baumärkte, die damals aufkamen. Und für das Ausland, wo der Name der Farbe nicht geschützt ist. Die haben viel nach Dänemark und Island exportiert. Und es gab einen Chef – eigentlich einen Clan von vier Männern, die hier alles rausgequetscht haben, was ging. Hier wurde kein Weihnachtsgeld gezahlt, hier wurde Samstag ohne Zulagen gearbeitet – manchmal sogar ohne Bezahlung. Die hatten keine Arbeitervertretung hier, nichts. Das war der kapitalistische Alptraum kurz vor seinem Ende. Jetzt wohnen da ein paar lustige Hippies, wenn Du so willst. Obwohl die ja heute nicht mehr so aussehen.“
Er wandte sich um und zeigte auf die Fabrik. „Als das dann hier final den Bach runtergegangen ist, sind die Typen, denen der Laden gehörte, von heute auf morgen verschwunden. Einer ist später in Paraguay festgenommen worden, wenn ich mich richtig erinnere. Jedenfalls irgendwo dort unten. Und die Arbeiter hier hatten zum Teil seit vier oder fünf Monaten keinen Lohn mehr bekommen.“
Stina schüttelte den Kopf. „Puuh – Henrik. Du klingst, als wärst Du im Nebenberuf noch Stadtführer. Woher weisst Du das alles?“
„Kind… Ich bin seit 1970 bei der Polizei.“
Jetzt lächelte er nicht.