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Sie hatten fast fünf Minuten geschwiegen, was zwischen ihnen eine lange Zeitspanne darstelle, bis Barry schließlich aufs Lenkrad schlug und den Wagen leicht verriss und korrigieren musste.
„Wie kann das sein?“ fragte er eher rhetorisch, nachdem er das Auto wieder auf der richtigen Spur hatte. „Was hat Daggy mit dem verfluchten Gunnar Fransson zu tun?“
„Keine Ahnung – aber sieh es mal positiv: Er kann ihr nichts mehr tun… Jetzt kann er ihr nichts mehr tun.“
„Dann hat sich der Scheiß ja schon gelohnt,“ erklärte Barry mit Nachdruck und einer ziemlichen Vehemenz in der Stimme. Wenn Morten ehrlich war, hatte er schon seit einiger Zeit den leisen Verdacht, dass sich ausgerechnet zwischen seinem besten Freund und der Schwester seiner heimlichen Geliebten eine besondere Beziehung entwickelt hatte. Obwohl Daggy gerade erst 15 geworden war und Barry auf die 20 zuging. Das mochte irgendwie schräg sein. Dennoch. Morten hatte in einem versteckten Winkel seines Gehirns für einen kurzen Moment schon einmal eine Vision des Jahres 1992 gehabt, in dem die vier Freude auf einem großen falunroten Hof gewohnt hatten, einen gemeinsamen Innenhof hatten und dort unter ihren neuen Identitäten lebten, die niemand mit dem sozialen Makel von Forsdalen in Verbindung brachten.
In solchen Tagträumen fragte er sich nie, wie man so etwas wohl finanzierte und was sie arbeiten würden. Als Morten einen Abschluss am Gymnasium machen wollte, hatte sein Vater ihm damals klar zu verstehen gegeben, dass er nicht willens war, solche „dekadenten Hirngespinste“ zu finanzieren. Es war schnell klar gewesen, dass Morten in dem Punkt nicht an ihm vorbeikommen würde. Dabei war Morten ein guter Schüler gewesen. Als er nach der 10. Klasse die Schule verlassen hatte, hatte sein Klassenlehrer seinen Vater angerufen, ohne Morten davon in Kenntnis zu setzen. Ein Sargnagel mehr.
An diesem Abend hatte Morten erstmals konkretisiert, wie er seinen Vater töten könnte. Schon das Wort „Töten“ hatte einen attraktiven Klang in seinem Kopf gehabt. Er hatte nicht das Wort „Ermorden“ gedacht, das so mechanisch klang oder „Umbringen“. Er hatte „Töten“ durch seine Hirnwindungen getrieben und hatte sich bei einem miesen Lächeln erwischt. Das klang endgültig, unumstößlich, final. Wie konnte dieser Mensch nur sein Vater sein?
„Wir müssen mit Daggy sprechen,“ erklärte Barry. „Sie darf sich nicht mehr mit Gunnar
abgeben.“
„Sie… Barry… Gunnar ist tot…“
„Eben! Aber das wissen wir doch nicht.“ Er wandte kurz den Kopf um und grinste. „Wir beide wissen das nicht, also ist es sogar besser für uns, ein solches Zeichen zu setzen und ihr den Umgang mit dem Kerl zu verbieten.“
„Du willst Daggy den Umgang mit ihm verbieten
? Hast Du da neuerdings Rechte in ihrer Erziehung, von denen ich wissen sollte?“ grinste nun auch Morten.
„Ach komm! So meinte ich das doch nicht. Wir sollten mit ihr nur über ihn reden und ihr erklären, dass sie zukünftig die Finger von ihm lassen soll. Ganz so, als würde es ihn noch geben.“
„Ah… Okay… das gibt Sinn.“ Dann schüttelte Morten den Kopf. „Daggy hat doch eigentlich keinerlei Einkommen. Was kann die mit ihm wohl für Geschäfte machen?“
„…“ Plötzlich blickte Barry zu Morten herüber und ein hässlicher Gedanke setzte sich plötzlich gleichzeitig in ihren beiden Köpfen fest. Womit könnte ein junges hübsches Mädchen ohne Geld einen Typen, der über 20…. Um Gottes Willen
, ging es Morten durch den Kopf. Das konnte nichts Gutes heißen. Eine ganze Zeit lang stellten sie das Reden vollständig ein. Dann setzte Barry plötzlich den Blinker und sie verließen die E16. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu dem Wald, in dem sie ihre Ausweise sauber versteckt hatten. Die Zeit, die zwischen diesem letzten Besuch und ihrem jetzigen lag, erschien Morten mit einem Mal irre lang und er konnte kaum glauben, dass wirklich nur Stunden dazwischen gelegen hatten. Barry steuerte den großen Wagen konzentriert und ruhig und doch konnte sein ältester Freund neben ihm sehen, wie kleine Funken unter seiner Haut zuckten. Das Kreuz in Gunnar Franssons Kalender, das Kreuz hinter dem Namen der 15jährigen, machte ihn so wütend, dass er ihn am liebsten noch einmal getötet hätte.
Sie tasteten sich vorsichtig an den Wald heran, waren in die fast unsichtbare Einfahrt eingebogen und holperten nun leise über den Waldweg, falls man den überhaupt so bezeichnen wollte. Ein echter Wanderweg war das nicht, eher eine Schneise zwischen großen Bäumen, gespickt mit jeder Menge Schlaglöcher in beliebigen Größen. Es war mittlerweile stockdunkel. Duster
, wie seine Mutter gerne sagte. Sie schwiegen und Barry lenkte ruhig und aufmerksam, bevor er völlig unerwartet sagte „Dieser Wichser, dieser verfluchte Drecksack… Ist sein verdammter Bruder nicht mittlerweile sogar Bulle?“
„Urs?“
„Ole, oder?“ mutmaßte Barry.
„Ja… wahrscheinlich hast Du recht. Ole – ja, der ist Bulle. Hat mich neulich mal in einer Verkehrskontrolle angehalten und vor seinen Kollegen so getan, als würde er mich nicht kennen.“
„Der Wichser.“
„Allerdings… willst Du bis ganz vorne fahren?“
„Wir müssen den verdammten Fettsack von Harry ja schleppen. Je kürzer, desto besser, oder?“
„Schon, ja… Ich dachte eher daran, wie wir abhauen wollen, falls hier etwas schiefgeht. Wird schwer, wenn man mit dem Wagen praktisch direkt neben der Leiche steht, oder?“
„Hm…“ Er stieß die Luft aus, wirkte angefressen, „Ja – da hast Du recht…“ Erneut ließ Barry seine flache Hand auf das billige wirkende Kunststoff-Lenkrad sausen. „Bis nach seinem Tod macht der Dreckskerl Stress… Weisst Du, was ich mich gerade gefragt habe?“ Er lenkte nach Links und fuhr langsam, gewagt aber begnadet einen Hang hinunter, der vom Beifahrersitz aus auf Morten sandig und rutschig wirkte. „Müssten wir dem Bullen-Bruder nicht einfach mal das Buch zugänglich machen? Ihm zeigen, was Gunnar für ein Drecksack war?“
„Spitzen-Idee, Barry – damit er unsere beiden Namen da drin findet?“
„Grmpf… Ich hasse es, wenn Du das machst… Eben erschien mir das noch eine unglaublich gute Idee…“
Eine gute Stunde später waren die beiden Freunde verschwitzt und dreckig, aber sie fühlten sich für den ersten Schritt besser. Als hätten sie einen Berg erklommen. Gunnar Fransson war unter dem Bunker im Wald begraben, unter dem sie zuvor auch ihre Pässe versteckt hatten. Als sie nach Schaufeln und Material im Lieferwagen gesucht hatten, waren sie auf eine zweite Pistole gestoßen – das gleiche Modell, das Barry bei sich trug und das er gottseidank Gunnar Fransson abgenommen hatte. Sie hatten die beiden Waffen irgendwann in eine Karstadt-Tüte gewickelt und mit dem silbernen Weltraum-Klebeband fixiert, das in der seitlichen Ablage des Ford Transit über dem Hinterrad zu gewesen finden war. Seitdem fühlten sie sich erleichtert. Es war nicht gut, Schusswaffen bei sich zu haben.
Morten war mit den Knöcheln gegen den Innenausbau des Lieferwagens gestoßen und hatte ein eigenartiges Geräusch vernommen. Während sie ausspannten und Barry sich eine Zigarette gönnte und angestrengt ausatmete, klopfte Morten noch einmal gegen das Holzbrett an der Seite des Wagens. Er tickte mit den Knöcheln dagegen, drückte gegen das weiche Holz, presste etwas fester und konnte es schließlich neugierig hochdrücken, jedoch nicht hoch genug, um es wirklich zu bewegen.
„Was machst Du da?“
„Ich frage mich gerade, was das ist. Das fühlt sich an, als hätten die Typen dahinter noch mehr Papiere versteckt. Da ist etwas.“
„Vermutlich die Playboy-Jahresausgabe von 1978, die keiner sehen soll…“ grinste Barry und schaute rauchend in den Wald hinein. „Ich frage mich eh, woher die so irre viele Papiere jeder Art haben können. Hätte ich Gunnar nicht zugetraut.“ Er überlegte einen Moment und setzte dann nach „Und Harry schon mal gar nicht.“ Barry schüttelte den Kopf und zog an seiner Zigarette. „Den Fettsack müssen wir auch noch verbuddeln.“
In dem Moment hörte er aus dem Wagen ein knirschendes Geräusch und wandte sich um. „Morten? Was zur Hölle…? Fuck! Was ist das denn??“
„Das… Ich weiß… Um Himmels… Fuck!! Das sind doch sicher gut und gerne… 300.000 Kronen, vielleicht mehr! Wie können die Spinner denn… Ach du Scheiße!“ Er presste die Hände an den Kopf und hatte für einen kurzen Moment das starke Gefühl, zu zerplatzen.
„Ja, jetzt komm mal runter!“ zischte Barry und kletterte auf die Ladefläche des Ford Transit, setzte seinen Fuß über den verpackten Harry weg und schaute auf Mortens Fund. In seinem ganzen Leben hatte er nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Jede Menge Scheine, die diesen Kerl mit dem eigenartig weisen Gesichtsausdruck zeigten. Er schüttelte den Kopf, war einen ganzen Moment lang wie gefangen, wie gelähmt in einem einzelnen Gedankengang, der keinen Anschluss an den nächsten finden wollte.
„Das ändert irgendwie… Ich meine…“
„Du meinst: Damit könnte man alles machen? Abhauen und neu anfangen?“
„Mart…“ es verschlug ihm die Sprache, als hätte jemand den Staub einer kompletten Wüste an seinen Mandeln entlang gepustet. Er konnte nicht sprechen, schluckte, hustete. „Verrdammmt… Dieses Geld – Morten, das muss doch irgendwo herkommen, oder? Du hast nicht einfach ein paar hunderttausend Kronen. Das Geld fehlt jemandem. Da ist jemand sauer deswegen!“
„Ja…“ Morten robbte mit dem Kopf voran noch näher an die Seitenwand des Transit. Er blickte von dort aus zum Boden neben dem Radkasten. „Barry… Hier – ist – noch – mehr - Geld… Ich meine: Richtig
viel…“
„Warte! Verdammt!“
„Nein, Barry… ich me…“
„PSSCCHHTTT!!!“
Morten wandte sich um und dann hörte Morten es auch. Da war ein Auto. Sie konnten einen Wagen hören. Einen Wagen, der näher kam. Ein Auto, das sich ihnen durch den Wald näherte.
„Dreck, verdammter!“ zischte Barry, sprang nach hinten von der Ladefläche, sprang hoch und warf die Klappe zu, während Morten innen durch den Wagen geklettert war und den Zündschlüssel drehte, bevor er richtig saß. Zwei Sekunden später sprang Barry neben ihn auf den Beifahrersitz und Morten ließ die Kupplung langsam kommen und kurbelte das Fenster herunter. Ja… Dort oben, wo sie selbst zuvor hergekommen waren, näherte sich ein Fahrzeug. Langsam, suchend. Morten fuhr mit Standgas knapp 15 Meter vor, rollte praktisch nur, bis sie sich hinter einem größeren Findling befanden und ließ dann den Motor vorsichtig absterben. Dieser Stein würde sie nicht verbergen können, aber es fühlte sich sicherer an. Sie lauschten konzentriert durch die heruntergekurbelte Scheibe in die Nacht. Der Wagen kam näher. Noch näher. Langsam, aber mit einem klaren Ziel. Anspannung - Wer würde um diese Zeit durch den Wald fahren? Es war stockdunkel.
„Wieso stoppst Du?“
„Wenn die ihre Fenster unten haben, hören sie uns, wenn wir fahren – aber sehen können sie uns hier nicht.“ Er schluckte konzentriert. „Hoffe ich zumindest.“
„Wenn sie uns entdecken, gibst du Gas!“ stellte Barry klar.
„Was?“
„Wir lassen uns doch nicht mit 500.000 Kronen und einer Leiche im Kofferraum erwischen…“
„Das… äh… hm…“ Morten überlegte fieberhaft. Diese Situation würde er niemandem erklären können. Wenn sein Vater das herausbekommen sollte, musste er froh sein, im Knast zu sein – das war allemal sicherer, als seinem verdammten Vater zu begegnen.
„Psssst
!!“
Mortens Augen, die sich an die Dunkelheit einigermaßen gewöhnt hatten, erkannten das Auto auf dem oberen Waldweg. Der Wagen schob sich langsam und leise an dem ersten Bunkergebäude vorbei, hielt auf das zweite zu, passierte es langsam. Die zweifarbige Lackierung des VW Bullis sprach eine deutliche Sprache: Hier handelte es sich um einen Einsatzwagen der Polizei. Mindestens drei Beamte konnte man erkennen.
Mindestens.
Was Morten spontan beruhigte: Sollten sie fliehen müssen, hatten sie ganz entschieden den schnelleren Wagen. Ebenso hatten sie die bessere Startposition: Sie mussten einfach
geradeaus fahren, während die Polizisten in jedem Falle noch wenden mussten, was oben auf dem schmalen Weg praktisch unmöglich war. Sie passierten den dritten Bunker – und somit den, unter dem sowohl die Waffen als auch die Leiche von Gunnar Fransson zu finden waren. Der Wagen rollte vorbei, rollte weiter… Und Barry und Morten atmeten hörbar aus. Sie hatten sie offensichtlich nicht gesehen.
Und doch blieb die Frage: Was wollten die hier? Das war doch keine Patrouillen-Strecke für einen normale Nacht. Eine Verbindung dieses Ortes und des Mordes in der Werkstatt gab es ebenfalls nicht. Wieso sollten also….
„Verdammte Scheiße! Sie haben angehalten!“ schrie Barry jetzt ungehemmt und brüllte mit demselben Atem „Gib Gas!!!“
Morten handelte mechanisch. Er startete, legte den Gang ein und hatte noch genügend Ruhe, die Kupplung vorsichtig genug kommen zu lassen, um mit dem dicken Sechszylinder des Ford Transit nicht auf dem Waldboden weg zu schliddern, dann gab er Gas. Bis zum Bodenblech. Vollgas, bis die ersten Bäume auf sie zu rauschten. Morten lenkte links und der Wagen driftete erheblicher, als er erwartet hatte. Er lenkte gegen, fing den großen Wagen wieder, donnerte dabei jedoch kräftig in ein Schlagloch, bevor er wieder auf Kurs war.
Er fuhr zu schnell. Er wusste, dass er zu schnell fuhr. Vor allem mit diesem großen und unbekannten Auto, das sich alles andere als sportlich fuhr. Er hatte keine Erfahrung mit solchen Wagen. Es wäre besser gewesen, Barry am Steuer zu haben. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie das Ende des Waldes und Barry rief „Zur Grenze!“
„Was? Doch nicht zur Grenze!“
„Fahr!! Die Bullen dürfen uns nicht über die Grenze folgen – das ist nicht ihr Einsatzgebiet. MORTEN! Mach schon!“
Morten lenkte nach links, dann wieder rasch nach rechts und nach wenigen hundert Metern auf die große Straße, die in Richtung der Grenze führen sollte. „Wenn wir dort kontrolliert werden, sind wir im Arsch, Barry. Das Risiko ist viel zu hoch.“
„Die werden uns auf der E16 suchen, ganz sicher. Wir nehmen die kleinere Straße – damit rechnen sie nicht. Gib Gas, um Himmels willen!“
Sie schwiegen die nächsten Minuten. Im Laderaum waren Dinge umgefallen, sie hörten, dass etwas tropfte, aber keiner von ihnen wollte das wissen. Dann starrte Morten Barry an. „Leg etwas über Harry und leg was über das Geld.“
„Achte auf die Straße!!“
Morten hatte Barry so lange angesehen, dass er verdächtig nahe in Richtung Graben
gekommen war. Er zog den Transit gerade, als Barry nach hinten taumelte und alles, was er fand, neu sortierte. Morten konnte hören, wie er den schweren Toten in einem Kraftakt näher an sie heranschob. Er legte irgendwelche Dinge auf ihn und andere Gegenstände nach hinten in den Kofferraum. Nun sah man ihn nicht direkt, wenn die Grenzer den Kofferraum öffnen würden. Dann verstaute er Scheine, fluchte, stellte etwas um und das tropfende Geräusch war beendet. Er murmelte etwas wie „welcher verdammte Vollidiot…?“ und schob dann etwas Schweres, hölzernes über den Laderaumboden. Schließlich wischte er sich die Hände an etwas ab und kam durch die Sitze wieder nach vorn. Er schwieg einen Moment, bis Morten sagte „Gurt! Du willst doch nicht ohne Gurt über die Grenze.“
Zehn Minuten später wurde ihnen klar, dass sie etwas falsch gemacht hatten in der Hektik, der Schlaflosigkeit und der Dunkelheit. Morten war offensichtlich zwar auf Nebenstraßen gefahren, hatte sich jedoch nicht der Grenze genähert, sondern war vielmehr auf einer Straße gefahren, die parallel zur Grenze verlief.
Er blickte zu Barry hinüber und erklärte „Gottesentscheid, oder?“