|| femtiotre ||
||     Stina war nicht erreichbar und nach dem vierten Anruf war Henrik deswegen wirklich stocksauer. Das war unprofessionell – das war es, was ihn eigentlich aufregte.
Halvar hatte dafür gesorgt, dass sie im E103 nun mit PCs ausgestattet waren, die sowohl auf alle internen Systeme zugreifen konnten als auch auf das Internet. Während Halvar sich um die Frage der Fingerabdrücke kümmerte, warf Henrik einen Blick auf die Website der Raoul Wallenberg Schule und suchte dort nach dem Abschlussjahrgang des Jahres 1982. Tatsächlich gab es dort einen Mikael Katbjörk. Er fragte sich, warum sie so eine Recherche nicht schon deutlich früher angestellt hatten. Er fragte sich, wie sie sich so in diese Idee hatten verrennen können, ohne so etwas zu prüfen. Irgendwie hatte er sich da anstecken lassen.
Oder?
Er starrte eine ganze Zeit an die Wand. Und nun ging ihm eines auf. Sie hatten einen systemischen Fehler begangen. Sie hatten die Verbindungen gesucht. Sie hatten danach gesucht, was den verschwundenen Personen nach 1982 geschehen war. Sollte ihre Theorie aber stimmen, müssten sie vielmehr schauen, was ihnen vor 1982 nicht geschehen war. Wenn die beiden ab 1982 falsche Identitäten haben sollten – wo waren diese Identitäten dann vor 1982 gewesen?
Hatten der heutige Katbjörk und der heutige Erlbakken andere Menschen getötet, um deren Identität annehmen zu können?
„Halvar … bitte kümmere dich um die Fingerabdruck-Geschichte. Ich muss in der Vergangenheit von den beiden Typen stöbern.“
„Das tun wir doch schon die ganze Zeit – was ist der neue Ansatz?“
„Wir haben bislang noch nicht in der Vergangenheit von Katbjörk und Erlbakken gesucht. Wir wissen nichts über die, was vor 1982 passiert ist. Ich mache das diskret und leise. Wenn mich jemand sucht: Ich habe einen Arzttermin, okay?“
„Schlimme Migräne?“
„Genau… So schlimm, dass ich das Telefon kurz abschalten musste und vermutlich irgendwo in einem dunklen Raum liege…“
Die folgenden Stunden gestalteten sich äußerst intensiv. Auf dem Weg zu Raoul Wallenberg Schule, der Henrik eine Stunde kosten sollte, besorgte Henrik die Fax-Nummer des dortigen Sekretariates. Anschließend rief er im Studiensekretariat der Mälardalen Universität in Västerås an. Er wusste, dass Mikael Katbjörk dort studiert hatte. Nach langwierigen Verhandlungen stimmte man zu, die Zugangszeugnisse für Mikael Katbjörk aus den Katakomben zu besorgen und an seine Dienststelle zu faxen, sofern von dort das entsprechende Anliegen schriftlich bestätigt würde, was wenige Minuten später durch Halvar erledigt wurde.
Parallel hatte Halvar herausgefunden, wo Bjarne seinen Schulabschluss gemacht hatte und war dabei, eine ähnliche Ermittlung anzustellen.
Halvar hatte Stina zwei weitere Male angerufen – jedoch ohne Erfolg und Henrik bedankte sich für all das. Eine gute Viertelstunde später parkte er eiskalt im Halteverbot vor der Raoul Wallenberg Schule mit dem Polizeischild hinter der Windschutzscheibe. Er hatte sein Kommen telefonisch angekündigt und beeindruckender Weise kam ihm eine ältere, sehr aufrechte Sekretärin bereits am Haupteingang entgegen. Die Frau musste kurz vor der Rente stehen – im Grunde ideale Bedingungen aus seiner Sicht. Sie begaben sich in einen winzigen Besprechungsraum. Halvar hatte der Frau zwischenzeitlich das Abschlusszeugnis, mit dem Mikael Katbjörk sich in Västerås 1982 eingeschrieben hatte, per Fax zukommen lassen. Die rüstige aufrechte Dame, mit der korrekten grauen Frisur, die sogar erwähnte, dass nach den Sommerferien für sie Schluss sein würde, begutachtete das Zeugnis von Mikael Katbjörk eingehend, nickte hier und da, lächelte einmal kurz und sah dann wieder auf.
„Alles echt,“ erklärte sie mit einem unergründlichen Lächeln, „bis auf die Unterschrift.“
„Hm?“ Henrik blickte auf die Unterschrift. Es handelte sich um die Kopie eines Zeugnisses, das zunächst in sein Amt gefaxt worden war und dann noch einmal hierher gefaxt wurde – entsprechend hatte die Qualität der Unterschrift gelitten. „Wie kannst du da so sicher sein?“
„Das ist…“ sie lächelte, dann musste sie kurz regelrecht kichern, was nicht in ihre distinguierte, ordentliche Art passen wollte. „Das war vielleicht irgendwann mal pikant. Heute kräht da wohl kein Hahn mehr nach – und du sagst, ihr ermittelt in einem Mordfall?“
„Genau…“
„Okay. Damals war Dr. Systyg der Direktor der Schule. Von 1977 bis 1989. 1982 war für mich ein besonderes Jahr innerhalb seiner Amtszeit.“
„Warum?“
„1982 hat meine eigene Tochter hier ihren Abschluss endlich abgelegt. Und das war ein echter Grenzfall, das kann ich dir sagen… ganze 14 Jahre hat sie gebraucht… Als Tochter der direktoralen Sekretärin! Ich schätze, du kannst dir vorstellen, was das für mich bedeutet hat…“
„Ich ahne es…“
„Genau – aber 1982 hat sie es dann doch geschafft. Und in diesem Jahr hat sich Systyg bei den jährlichen Sportwettkämpfen der Schule die Hand gebrochen. Wenige Wochen vor dem Abschluss.“
„Und?“
„Die Unterschrift… In diesem Jahr war das nicht seine. Es war meine. Ich habe die Zeugnisse mit seinem Namen unterschrieben. Eine Fälschung, wenn du so willst. Und das da,“ sie hielt ihm das Fax hin, „glaube mir – das ist nicht meine Unterschrift.“
Henrik musste kurz schmunzeln. Es war nicht leicht zu glauben, wie das Schicksal sich hin und wieder fügte in solchen Fällen. Man konnte nicht alles bedenken, wenn man etwas illegales tat.
„Aber du sagst: Das restliche Zeugnis sieht echt aus?“
„Ganz sicher. Unser damaliges Format. Haben wir auch 1982 das letzte Mal verwendet. Aber dieses Zeugnis hängt mit einem anderen Namen bei uns zuhause an der Wand zwischen Bad und Vorratsraum – ich gehe jeden Tag mehrmals daran vorbei. Das ist unser Zeugnis-Formular.“
„Sind da bei euch hier mal welche weg gekommen? Also: Gestohlen worden?“
„Hm… Ja – das war der Grund, unsere Formulare später zu ändern. Wie gesagt: Ich gehe kommendes Jahr in Rente. Ich hoffe, ihr berücksichtigt das. Ganz ehrlich: Dr. Systyg wollte nicht, dass das irgendwo bekannt wird. Und so haben wir das leise gehandhabt und die Formulare geändert. Unser Briefkopf ist seitdem auch deutlich fälschungssicherer. So ein Zeugnis wie das hier könnte heute jeder Fünftklässler fälschen!“
Henrik musste lächeln. „Sag mal – kannst du dich eigentlich an diesen Schüler erinnern?“
„Ich hatte befürchtet, dass du mich das fragst. Ehrlichgesagt: Jein…“
„Will meinen?“
„Ich erinnere mich, dass es einen Schüler dieses Namens gab. Aber ich erinnere mich an nichts Spezifisches. Die schlimmen Schüler, die kennt man. Die mit den Klassenkonferenzen und ähnlichen Dingen. Oder die Streber, die immer die Klassenbücher holen. Aber Katbjörk… Da klingelt bei mir nichts mehr. Ich hatte eben rasch in den Akten geschaut und wir haben nur Nachweise über seine letzten drei Jahre. Zuvor muss er auf einer anderen Schule gewesen sein.“
„Also vermutlich hierher umgezogen?“
„Oder zuvor auf einer anderen Schule gewesen, ist auch möglich.“
„Aber das steht nicht in deinen Akten?“
„Nicht mehr – wir müssen die Daten nur 10 Jahre aufheben und dann noch 2 Jahre zur Ansicht offenlassen – für den Fall, dass sich jemand beschweren will. So will es das Gesetz in unserem Land. Dass wir diese Akte hier nach 19 Jahren noch haben, liegt einzig daran, dass Dr. Systyg verfügt hat, dass wir unsere Akten 20 Jahre lagern. Nächstes Jahr im Sommer könnte ich dir gar keine Auskünfte mehr zu Katbjörk geben.“
Henrik hatte sich bereits umständlich verabschiedet und blickte gerade nach eingegangen SMS auf seinem Handy, als er auf dem langen Gang festwurzelte. Er machte auf dem Absatz kehrt und stürzte wieder in das Sekretariat. „Deine Tochter – kann die sich wohl an Katbjörk erinnern?“
Kaum 30 Minuten später wurde Henrik Pålsson ins Büro der Verwaltung des größten Shoppingcenters des Ortes geführt. Die Tochter, die ganze 14 Jahre für ihren Gymnasialabschluss gebraucht hatte, hatte offensichtlich etwas daraus gemacht. Sie leitete das Center, betonte noch während des Händeschüttelns, dass sie eigentlich keine Zeit habe, nahm sich dann aber den Moment, Henrik Pålsson einen Platz und einen Kaffee anzubieten und schaute auf die Bilder von Bjarne und Mikael. Sie konzentrierte sich und zeigte dann auf Mikael. „Der… kommt mir vage bekannt vor. Aber das ist so verdammt lange her – und ich war ja nur ein paar Monate in dem Jahrgang.“
„Wieso das?“
„Ich wäre durch die letzten Prüfungen gerasselt und bin dann freiwillig zurückgegangen und habe nur die letzten Monate bis zu den Abschlussprüfungen in der Jahrgangsstufe gemacht. Kann nicht behaupten, dass ich dort übermäßig viele Menschen kannte. Zumindest nicht gut. Ich kenne eher die im Jahrgang drüber.“
„Okay – aber den hier meinst du zu kennen?“
„Nicht sicher, aber vermutlich war er dort… Den anderen kenne ich nicht. Außer vielleicht, wenn er sich sehr verändert hat.“
„Okay… Wenn Sie du an die letzten beiden Jahre an dieser Schule denkst – was war das Spektakulärste, das da passiert ist?“
„Wie meinst du das?“
„Es gibt doch immer mal einen Skandal – etwas Ungewöhnliches, über das alle reden, etwas Unverschämtes, freches, was ein Schüler macht oder den Lehrer, der etwas mit der hübschen Blonden aus dem Mathe-Schwerpunktkurs hat… Was war das bei euch?“
Sie lachte spontan und ohne nachzudenken. „Also das ist wirklich leicht. Christer Hårkord aus meinem Jahrgang. Er hat bei den Bundesjugendspielen den 200 Gramm Schlagball geworfen. Das war ein riesiger Typ, Grobmotoriker. Und er hätte beim Kugelstoßen sein müssen. Die Jungs ab 16 durften nicht mehr mit dem Schlagball werfen.“
„Und?“
„Er hat soooo deeerrrmasssen weit geworfen, dass er unseren Direktor, Dr. Systyg, am Kopf getroffen hat. Und der ist umgefallen, war sofort ohnmächtig und ist dabei so blöd gefallen, dass er sich den Arm gebrochen hat. Niemand wird das je vergessen, das kannst Du mir glauben.“ Sie lachte unwillkürlich, als dieses Bild noch einmal vor ihrem geistigen Auge entstand und Henrik kicherte einen Moment mit, bis ihm noch etwas einfiel.
„Sagen mal – und dann verschwinde ich auch gleich wieder – wenn du Leute in mehreren Jahrgängen kennst, hast du vielleicht ein besseres Bild. Wenn in eurer Schule etwas verschwunden wäre. Sagen wir mal…“
„Die Zeugnisvordrucke?“
Er lächelte entwaffnet. „Die… ja, genau.“
„Ach… Was das anging, waren Systyg und meine Mutter unbelehrbar. Die Zeugnisse waren aus ihrem heiligen Neubau verschwunden.“ Sie rollte die Augen. „Was das angeht, waren sie nicht objektiv. Das war ihr Projekt, darauf waren sie beide stolz. Und dann verschwinden dort diese Dinger. Es musste ein Schüler gewesen sein, da waren sie sich sicher. Aber sie wollten es nicht an die große Glocke hängen.“
„Du glaubst das also nicht?“
„Nein – keinesfalls… erinnerst du dich an Schulen in den 70er Jahren? Meinetwegen auch in den 80ern? Da waren Drogen das ganz große Ding. Jede Schule hatte ein paar Satelliten – so haben wir die zumindest genannt.“
„Dealer meinst du, die im Hinterhof Drogen verkauft haben?“
„Na ja… das ging ja weiter als das!“ Sie hatte die Augen schier aufgerissen und nickte nun mit Nachdruck. „Unser Satellit wusste sogar, wann die großen Schulausflüge und die Abschluss-Fahrten und solche Sachen waren. Da tauchte der dann manchmal irgendwo diskret auf.“
„Ernsthaft? Hammer… Und den hattet ihr auch für die Zeugnisse im Verdacht?“
„Eher jedenfalls als jeden Schüler.“
„Okay… interessant. Du weisst nicht zufällig, wie der hieß?“
„Pfff….“ Sie ließ ihren Blick lange gleiten und zuckte dann die Schultern. „Spitznamen hatte der jede Menge… Der Pusher, Der Rote Baron… Aber der Name… Jansson vielleicht?“
Henrik kniff die Augen zusammen und schlug vorsichtig vor „Fransson…?“
Sie schlug unvermittelt auf den Tisch. „Genau! Fransson - Gunnar Fransson! Das war er.“ Sie lächelte wissend, nickte, den Blick leicht entrückt in die Ferne der Erinnerung gerichtet. „Ich würde gerne mal wissen, was aus dem geworden ist…“
„Ich auch, das kannst du mir glauben… Ich auch…“
Als er wieder im Auto saß, musste er die Dichte des Gespräches abschütteln. Ein Blick auf Sein Handy zeigte, dass Halvar mittlerweile alles zum Thema Fingerabdrücke erledigt hatte und noch mehr, was er nicht per SMS schreiben wollte. Und er war auf dem Weg zu Bjarnes Schule. Stina hatte ihn vor einer Minute angerufen – also dachte er nicht lange nach und drückte den grünen Knopf.
Er holte Luft, um sich aufzuregen, als Stina mit einer zischelnden Stimme dran ging und sagte „Ich kann schlecht reden… Ich schaue gerade bei etwas unglaublichem zu.“
„Was denn?“ flüsterte er intuitiv zurück.
„Du glaubst nicht, was ich hier gerade beobachte. Hier findet gerade ein Treffen statt. Mikael trifft sich gerade mit Helena! Ich hab doch gewusst, dass es da eine Verbindung gibt! Oha – da kommt noch ein Wagen… Ist das etwa…? Das ist… Hammer! Ich lege besser auf. Ich melde mich!“