|| sextiofem ||
||     Der dritte Taucher kam wieder nach oben und zeigte an, nichts gefunden zu haben. Halvar schüttelte den Kopf und tippte eine SMS, die er sowohl an Henrik als auch an Stina schickte, die ihrerseits an anderen Stauseen standen. Stina hatte sich an der Vorsperre stationiert, die aus ihrer Sicht die höchste Wahrscheinlichkeit versprach: Die Talsperre, die das Forsdalen in den vergangenen Jahren so verändert hatte. Stina war klar, dass das dramaturgisch zu Barry Wrigger passen würde – er wollte dort begraben sein, wo er den vielleicht wichtigsten Teil seines Lebens verbracht hatte. Das war irgendwie symbolisch, das entsprach der Gefühlswelt eines Teenagers. Und wenn sie Kåren glaubte – und das tat sie – dann war Barry Wrigger in den vergangenen Tagen in sein jüngeres Ich zurückgereist. Er hatte gegenüber Kåren ein vollständiges Geständnis abgelegt, das viele Dinge klar gemacht hatte, die sie nie und nimmer so hätten ermitteln können. Es war klar geworden, dass Barry Wrigger Mortens Vater getötet hatte, was in der Tat noch offen geblieben war in der gesamten Ermittlung. Dann hatte er die Pistolen zusammen mit Morten Hanson bei den Bunkern an der norwegischen Grenze versteckt. Sie hatten nie wieder einen Fuß ins Forsdalen setzen wollen – und ausgerechnet auf der Flucht hatten Wrigger Helena angefahren. Das hatten sie schon geahnt – auch, dass sie dabei den frisch lackierten Ford Transit verwendet hatten.
Helena und Daggy wussten nichts davon, was auch einiges klar machte. Als Morten und Barry klar geworden war, dass die Polizei ihnen auf die Schliche gekommen war, als sich die Schlinge immer mehr zugezogen hatte, da hatten beide beschlossen, dass sie diejenigen sein wollten, die den beiden Schwestern sagten, wie die Nacht damals verlaufen war. Dabei war klar geworden, dass die beiden im ersten Moment keine echte Schuld auf sich geladen hatten. In einem Moment, in dem Gunnar und Harry sich überworfen hatten, hatte Gunnar Fransson sich in Harry verkeilt und sie waren gemeinsam die Treppe hinuntergefallen und Fransson war mehr oder weniger zerquetscht worden. Dass die beiden sie vergraben wollten, war der Angst geschuldet gewesen. Und dennoch hatte Wrigger erkannt, dass er über all die Jahre ausreichend Schuld auf sich geladen hatte.
Morten Hanson war aus Solidarität in die Sache hineingeraten und sie ging davon aus, dass er sich für den Moment so versteckt hielt, dass ihn so schnell keiner finden würde. Dass sein Teenager-Freund Wrigger sich umgebracht hatte, würde alles ändern für ihn.
Kåren bedauerte unter Tränen, dass sie eine Mitschuld trug. Es war ihr klar geworden, wen sie da geheiratet hatte. Dann jedoch hatte sie ihren Mann das auch spüren lassen. Sie hatte nicht zu ihm gehalten nach seinem Geständnis, das er ihr gegenüber im Wald hinter dem Forsdalen abgelegt hatte. Sie hatte ihm klar gemacht, dass sie nicht mit einem Mörder leben könnte und sich von ihm getäuscht fühlte. Und das über viele Jahre hinweg.
Schließlich war Barry wie ein Teenager weggelaufen und hatte sie im Wald stehen lassen – völlig unerwartet für Kåren. Als sie Stunden später zuhause eingetroffen war, hatte sie den Abschiedsbrief gefunden. Sie hatte geahnt, dass es soweit kommen würde und Stina hatte sie einen ganzen Moment lang trösten müssen, während sie das alles erzählte. Am Ende war sie auf die Polizeistation gefahren, weil ihr klar war, dass ihr Mann ins Wasser gegangen war – sie aber nicht sagen konnte, wo genau, da es insgesamt drei Stauseen gab, die dafür aus ihrer Sicht in Frage kamen. Nur zwei davon lagen im Verantwortungsbereich von Stina, Halvar und Henrik. Dennoch waren sie sich alle schnell einig, dass es am ehesten der Stausee sein würde, der ans Forsdalen grenzte.
Hier hatte alles stattgefunden, was sie jetzt aufarbeiten konnten.
Alles.
Und Wrigger hatte erkannt, dass er dieses Leben nicht weiterführen konnte, dass seine Lügen nun nicht mehr tragfähig waren. Gemessen daran würden sie Morten Hanson oder Mikael Katbjörk, wie er sich heute ja nannte, nur ein paar Akte der Dokumentenfälschung nachweisen können. Verglichen mit Wrigger war er alles in allem ein kleiner Fisch, dessen Vergehen zudem teilweise verjährt waren. Sein größtes Problem würde ein Privates sein: Wie erklärte er das alles seiner Frau? Aber das war ein Problem, das Stina nicht zu kümmern hatte.
Sie hatten insgesamt 16 Fahrzeuge im Einsatz, die Wrigger suchten. Stina saß in einem Kombi am Stausee an Forsdalen. In unregelmäßigen Abständen waren hier Taucher unterwegs, die den tiefen und dunklen See absuchten – bisher ohne Erfolg. Sie blickte auf eine Kopie von Wriggers Abschiedsbrief, den sie in einer Klarsichthülle vor sich hatte. Diese Komponente des Menschlichen hatte sie nicht bedacht. Sie hatte ein Puzzle lösen wollen, hatte die richtigen Teile in die richtige Reihenfolge gebracht. Das sah sie als ihren Job an.
Dass es dabei am Ende des Tages auch um Menschen ging, die nicht nur zur Verantwortung gezogen werden sollten, sondern auch ganz normale menschliche Probleme und Ängste hatten, hatte sie in den vergangenen Wochen vollkommen ausgeblendet. Dieses Schreiben, diese sichtbare Komponente des Menschen Barry Wrigger, hatte sie verdrängt. In ihrer inneren Landkarte des Falles kam diese Facette des Mannes, den sie als Mörder und Betrüger gejagt hatte, nicht vor, hatte keine Rolle gespielt, war ihr gar nicht erst in den Sinn gekommen. In ihrem Hinterkopf regte sich noch ein kleiner Widerstand. Teile der Geschichte, die Kåren ihr erzählt hatte, stimmten nicht mit einigen der objektiven Ermittlungsergebnisse überein. Hatte Wrigger sie im letzten Moment noch belogen? Oder hatte er -
Sie wurde unterbrochen. Mit einem Mal kam einer der Taucher an die Oberfläche und signalisierte einen Fund. Das Zeichen dafür kannte sogar Stina.
Sie stand nicht einfach auf, sie sprang von der Ladefläche des Kombis, in dem sie gesessen hatte und gab sich Mühe, nicht zu rennen. Es gelang ihr jedoch kaum, diesen Impuls zu überwinden. Noch während sich die anderen Taucher formierten, sandte sie eine SMS an ihre beiden Kollegen und teilte ihnen mit, dass es einen Fund gab. Es dauerte eine quälende halbe Stunde, bis die Polizeitaucher mit vereinten Kräften und Gerätschaften der Feuerwehr den Körper von zwei Booten aus an die Wasserfläche beförderten. Es brauchte weitere 15 Minuten, bis der tote menschliche Körper auf der Staumauer lag. Stina gelang es nicht sofort, sich zwischen den breitschultrigen Männern nach vorne zu schieben. Sie musste mehrfach auf sich aufmerksam machen, fand jedoch kein Gehör, bis sie schließlich einmal laut in die Hände klatschte. Sie kam sich wie ein kleines Schulmädchen mit Zöpfen vor – aber es wirkte. Mit eine gewissen Respekt ließ einer der breiten Männer sie durch zu der Leiche, zu ihrer Leiche, die einen nassen Fleck auf dem Betonboden gezeichnet hatte, der sich immer noch ausbreitete. Feuchte Fußabdrücke umgaben den Toten und verliefen zu Pfützen. Ein Mann, den sie bislang noch nicht wahrgenommen hatte, öffnete der Leiche ein Auge. Die Leiche war offensichtlich frisch – es gab noch keine Spuren von Leichenfraß oder die typischen Anzeichen von der speziellen Verwesung, die unter Wasser stattfand.
Stina senkte den Blick und kniete sich neben die frische dunkelhaarige Leiche und atmete schwer aus.