Irgendwann

Später.

Liegt da ein Mann in seiner zu kalten Wohnung.

Na ja, Wohnung.

Also.

Da liegt er, in einem Bärchen-Pyjama, unter einer Gewichtsdecke – die ist, neben Psychopharmaka, Singleplattformen und Alkohol, ein weiterer geldwerter Vorteil der codegesponserten Massenvereinsamung, statt eines Menschen oder Hundes decken die Leute sich mit kiloschweren Textilien zu.

Sie nennen es Kuscheln.

Der Mann in seiner zwangsbelüfteten, ökologisch-grünen Unterkunft steht kurz vor dem Erwachens-Impuls, den Nanobots dem betreffenden Gehirnareal geben werden. Sie sind noch nicht so genau, die kleinen Biester, ab und an läuft etwas schief, aber –

der Moment des Halbschlafs ist stets ein somnambules Fest, wie das Leben, das wir feiern sollten.

Mitten im nebligen Raum zwischen Traum und Realität vermeint der Mann eine Stimme zu hören:

»Geht es dir gut, an diesem Morgen?« Sagt sie. Und

»Es ist ein wunderbarer Tag. Es regnet.«

»Das magst du, dann kannst du dein Homeoffice genießen. Solange es noch da ist, solange du noch ein inneres Office hast, denn dein Beruf als – egal – wird gerade ausgelagert.

Du wirst

heute vermutlich wütend werden«, sagt die Stimme »Es wird fast jeder wütend im Moment. Wegen der unglaublichen Zumutungen, die so ein Leben mit sich bringt. Wegen dieser – nennen wir es – Ohnmacht, die dich begleitet bei allen Verrichtungen.

So ein Ärger, wenn sich die Türen der Tram nicht öffnen, einem Fehler des Bezahlsystems geschuldet.

So ein Hass. Wenn das Smartmeter dir ein Stromverschwenden bescheinigt und dir das wöchentliche Duschen mit warmem Wasser verwehrt.

Und wenn dein Tele-Arzt nicht erreichbar ist, weil die Analyse deiner Daten den Schluss zulässt, dass du mit deiner Existenz ein marktwirtschaftliches Desaster performst, ist das wirklich – unerfreulich. Aber

bei der Rettung des Planeten müssen wir alle zusammenhalten.

Solidarisch sein.

Solidarisch sein.

Solidarisch sein.«

Hoppla, ab und zu hängt das Programm.

»Dann

sind wir hilflos – was auch tun, wen

anrufen, wohin eine Mail senden, wo demonstrieren und mit wem? Und außerdem –

wird geäußerter Unwille mit dem Einzug deiner digitalen Vermögenswerte bestraft.

Vermögenswerte. Der war gut.

Du vermagst – nichts.

Außer dein Leben zu feiern.

So ein Leben, das ist schon was, kannst du sagen und tief durchatmen. Die Luft ist so gut, seit alle Rad fahren.

241.364 neue Menschen werden heute die Erde betreten, und im gleichen Moment vergessen sein, aber – sie werden alle Rad fahren, wegen des Klimas, und sie werden es bewusst tun.

Apropos. Du hast dich gut ernährt gestern, dein Magen meldet den Verzehr von etwas, das du für einen Insekten-Burger gehalten hast.

Du hast trainiert.

Mach weiter, sonst wirst du einer der 1.712.325.934 übergewichtigen Menschen auf der Erde oder einer der

786.067.272 Fetten – hoppla, korrekter: der Menschen mit einem unausgewogenen Gewichts-Fett-Anteil,

die keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten mehr haben.

Du wirst an diesem wunderbaren Tag deine

eigenverantwortliche Psychohygiene in den sozialen Netzwerken ausleben, und einige der 518.807.449 Einträge auf der Massenablenkungswaffe Twitter oder sonst wo –

ins Nichts senden.

Wenn du dich solidarisch, solidarisch, solidarisch,

hoppla,

verhältst,

steht dir ein elektronischer Hund zu.

Und nun – geht es los –

Hast du Angst? Viel Angst?«

Willkommen

im

fortgeschrittenen Jahrtausend!

Es würde als »Zeit des Wandels« in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn es später noch Bücher geben würde. Oder eine Geschichte. Oder eine Welt.

Draußen schien alles ruhig.

Die neue Technologie, der Segen der Menschheit, würde der Ausweg aus Gewalt, Hass, Ungerechtigkeit und Klimakatastrophen sein.

Hoffentlich.

Nach zweihundert Jahren Fortschritt, der den Menschen so viel Gutes gebracht hatte – Strom und Wohnung und Konsum gegen Aufstände –, war der Planet am Ende und konnte nur durch die Entfernung der Menschen repariert werden –

(Hier erklingt ein kleiner esoterischer Healing-Song, mit Delfinen.)

Es gab zu viele Leute, die alle etwas wollten.

Leben zum Beispiel.

Doch das Gefühl des Untergangs war immer vorhanden,

so verzweifelt sie auch mit Netzen Plastik aus dem Meer fischten. Sosehr sie versuchten, die Tiere, die auf dem Plastik über die Meere krabbelten und wackelten, um in einem neuen Zuhause einen invasiven Job zu erledigen, zu lynchen.

Sie versuchten, Mauern gegen die, sagen wir,

Natur

zu bauen. Und klonten Tiere, um sie danach beim Aussterben zu beobachten.

Der Himmel erleuchtet von Explosionen im All – da kollidierten chinesische Schallraketen mit den Satelliten, die Milliardäre ins All schossen, um das Internet zu retten, das am Boden zusammenbrach.

Das schöne Internet.

Die Bevölkerung der westlichen Länder teilte sich in die dicke Mehrheit und die fitte Minderheit. Die Dicken, die Adipösen, Diabetiker, herangezüchtet durch all das, was man Nahrung nannte. In Pappkartons lag das Zeug, nicht einmal in Regale mit netter Beleuchtung wurde es geordnet. Der nächste Schritt wäre, den Leuten Zucker, Fett, Hormone und Pestizide einfach in die Venen zu spritzen.

Für Konzerne, also Aktionäre, hatte die Wissenschaft erforscht, wie viel Zucker und Fett und Dreck so ein Körper erträgt, und wie lange es sich für das Wachstum rentiert, den Organismus am Leben zu erhalten. Siebenhundertsechzig Milliarden hatten die Aktionäre mit Insulin verdient.

Das schöne Geld.

All das schöne Geld für die privaten Krankenhausketten, all die armen Leute, die da mit den amputierten Beinen hockten und glaubten, was ihnen von Aufstieg und Glück der kleinen Leute berichtet worden war.

Die Kranken, Langsamen, Dummen, die Alten, die Unnützen, die,

die es anders gekannt hatten, die vom Krieg erzählten und sich doch darin befanden.

Bad News: Sie hatten verloren. Der Feind musste nicht einmal kämpfen. Er war einfach – durchspaziert. Der neue Mensch. Mit Coding und Fremdsprachenkenntnissen, mit virtuellen Brillen liefen sie gegen Laternen und sagten: »Ich unterscheide nicht zwischen Leben im Netz und Real Life.«

Die Fitten, die ihr Humankapital in Form halten,

fanden ihr Leben fantastisch. Sie filmten sich beim Fantastischfinden. Sie hatten nichts zu verbergen. Ihre Vorbilder waren Konzernchefs, Milliardäre, Macher, mutige Männer.

Von denen sie radikalisiert worden waren.

Training und Nahkampf, Diät und Orthorexie.

Die westlichen Kleinbürgerkörper verformt und kurz vor dem Zusammenbruch, der Anspruch, zu einem genormten, energiegeladenen, einheitlich funktionierenden, beschäftigten Konsumkörper zu werden, am Rand des Wahnsinns.

Kaum eines mit einem Gefühl außer ständiger Panik.

Und dem Bewusstsein der eigenen Individualität.

Jedes mit seiner Identität, seiner Nationalität, Regionalität, seiner Religion und seiner Generation, seinen Vorlieben und Abneigungen, gegen den Rest.

Da gehörte keines zu irgendwas.

Außer zur großen Klasse der Betrogenen. Der TagelöhnerInnen, der armen SchluckerInnen, der Arbeiterklasse, die sich aber nicht mehr als Klasse verstand, zu der keiner gehören wollte, zu der fast alle gehörten. Sie strengten sich so an, alles richtig zu machen. Den Planeten zu retten, zu sparen, auf alles zu verzichten, aber – da war kaum noch etwas, was verzichtbar wäre, außer – man stürbe ökologisch.

Mit den Resten ihrer Wut, ihrer Verzweiflung angesichts Lebens, das doch nicht einmal mehr ein bisschen Spaß machte, gab es an allen Orten, in allen Ländern, immer wieder Aufstände, Demonstrationen, Unruhen, die erfolgreich und mit zunehmender Brutalität niedergeschlagen wurden.

Wir nennen es: »Die Schraube anziehen.«

Einen Halt gab es nicht mehr für die Leute am Rand der sich öffnenden Böden. Sie taumelten, strauchelten, schrien Befehle in ihre smarten Geräte, wenigstens jemandem etwas befehlen. »Hauptsache: Arbeit«, stöhnten sie und schleppten sich in Großraumbüros, in denen sie beschäftigt wurden, mit der Programmierung dessen, was sie unnütz machen würde. Sie digitalisierten bis in den letzten Winkel jeden Bereich des Lebens, vergessend, was wohl passierte, wenn der Strom ausblieb.

Oder die AI wirklich den Verstand aller Menschen übertreffen wollte. »AI – gestalte eine nachhaltige Welt.« Und ENTER .

Aber bis es so weit war, lieferten

die Verlierer den neuen, programmierenden Berufstätigen das ausgewogene Essen, das von anderen Verlierern zubereitet worden war.

Die neuen schlanken Menschen hatten geschädigte Nerven – sollten sie nun dauernd Angst haben oder mutig vorangehen? Sollten sie empfindsam ökologisch sein oder wachsam?

Man bräuchte einen Neustart. Aber wer sollte das tun? Und was sollte danach kommen? Wogegen sollte man sein und kämpfen und anschreien?

Und war nicht jede Zeit den Menschen als die schrecklichste erschienen? War es nicht immer weitergegangen? Dank der Innovationskraft, der Technologien, des Weltraumes und des Gottes –

Immerhin konnten sie noch wählen, die Leute.

Zwischen Produkten oder Parteien, die sie mehr oder ein bisschen weniger verwalteten. Sie hatten das Recht, Steuern zu zahlen, und sie durften sagen, was sie dachten und. Verdammter Mist! Es wusste doch keiner mehr, was er denken sollte, es war alles – zu viel. Zu viel Netz und Hormone, Panik, Adrenalin und Mitteilungen. Dauernd gab es Mitteilungen. Und überall waren es dieselben.

Es war die Zeit nach dem Kapitalismus.

Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand, Urlaubsreisen, die runde Welt, das friedliche Ende, die glückliche Familie, hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit.

Doch nun – glaubte keiner mehr irgendwas.

Die unfassbare Menge an realen und gefälschten Informationen, an Schwachsinn, Brutalität, und die Geschwindigkeit, mit der die alten Gesellschaftsordnungen verschwanden und durch irgendwas ausgetauscht wurden, versetzten die Bevölkerungen und ihre Organe in permanente Erregung.

Der Darm. Ein großes Thema.

Gereizt waren sie, die meisten Menschen, durch den Brand in der Amygdala. Das Leben war zu einem Schlachtfeld der Mikroaggressionen geworden, ein Krieg, ausgetragen mit sturmeinsatzfähigen Automobilen, Bikes, Helmen, Masken, Muskeln.

Sie handelten kollektiv gegen alles, was ihnen ein Wohlbefinden bereiten könnte – gegen Ruhe, Entspannung und Müßiggang.

Sie hatten die Parolen ihrer Geiselnehmer verinnerlicht:

»Der Wettbewerb, ich will den Wettbewerb«, röchelten sie auf den letzten Metern zum Ziel.

Fast jeder unter einer Milliarde Vermögen ahnte, dass es nicht gut enden würde. Mit den Menschen der Welt, dem ganzen Zeug, aber –

einen Ausweg wusste keiner.

Apropos. In jeder Sekunde multiplizierte sich die Zahl der Bereiche, die digitalisiert wurden.

Alle Bereiche des Lebens würden schon bald darauf warten, mit ein paar gut ausgeführten Remote Code Executions übernommen zu werden.

So weit zur Theorie.

Jetzt geht es richtig los. Also fast.