5 Jahre vor dem Ereignis

Die Freunde

waren

Ben, Kemal, Maggy, Pavel, Rachel,

Mentale Einschränkung: diverse Zwangsstörungen

Krankheitsbild: Schuppenflechte, Sonnenallergie

Hobbys: schlechte Ernährung, Gamen

Technische Kenntnisse: befriedigend

Abneigungen: Marvel-Hater, Faschisten, die da oben

damals jugendliche Menschen, die sich in Ermangelung von Bekannten im 1.0-Leben »Die Freunde« nannten. Die Freunde hatten Mitgliederstatuten festgelegt und viel geredet und dabei zu Boden gesehen, um ihren Zuschreibungen als Asperger-Nerds gerecht zu werden. Sie hatten sich über Programmiersprachen, ihre Geräte, Server , Racks , Kryptografie und Lötkolben ausgetauscht und waren im Rahmen ihrer Emotionshemmung erfreut gewesen, dass da andere existierten wie sie: Außenseiter, die sich kraft ihres Außenseitertums dazu berufen fühlten, für alle Außenseiter zu kämpfen. Sie hatten eine Aufgabe gefunden, die größer war als sie. Die jungen Leute, die stotterten, die anderen nicht in die Augen sehen konnten, die keinen Kontakt zu Artfremden hatten, weil keiner hier eine Ahnung hatte, worüber die anderen Menschen sich unterhielten. Über die zwanzig Millionen IP -Adressen , die von der Regierung innerhalb der letzten Monate gesperrt worden waren. »WTF ist eine IP -Adresse«, würden sie fragen, die Normalen.

Die Freunde hatten ihren Hackerspace durch eine gezielte Suche gefunden. Ganz wie die Klimamission GRACE , die angeblich die Schwerefelder der Erde vermessen sollte, hauptsächlich aber nach verschwindenden Wasservorräten Ausschau gehalten hatte, damit im Anschluss Armeen der westlichen Welt in die Orte der südlichen Welt gesendet würden und vorsorglich gegen das Fluchtverhalten von Menschen in wasserlosen Gegenden Stellung beziehen könnten. Genauso hatten die Freunde die Cloud der beliebtesten Fitness-Tracking-App nach interessanten Daten durchsucht. Und diese Perle am Stadtrand gefunden. Hier joggte keine Sau. Keine Wärmeballung, keine Funknetze. Das hieß: Hier gab es keine Überwachungskameras. Das hieß: Hier war nichts. Keine Tiere, keine Drohnen. Keine mit Roboterhunden verbundenen Drohnen. Gute Gegend.

Da war

Ben.

Er war bereits achtzehn und versorgte die Gruppe mit Geld. Er prüfte Unternehmens-IT auf Schwachstellen. Und versuchte in der freien Zeit, ein dezentralisiertes Netz zu entwickeln. Was ihm vermutlich in fünfzig Jahren gelingen würde. Na ja. Oder doch nicht, denn er hatte keine zig Millionen zur Verfügung, um ein Rudel Topprogrammierer an die Aufgabe zu setzen. Er hatte keine Millionen zur Verfügung, weil niemand, der Millionen zur Verfügung hatte, an einem neuen Internet interessiert war. Das alte arbeitet hervorragend.

Da war Maggy,

die sehr jung war und mit Menschen Probleme hatte. Also, die Menschen hatten Probleme mit ihr, denn Maggy war zu dick und zu uneindeutig, um den sozialen Verabredungen zu entsprechen, die darüber bestimmten, wie ein junges Mädchen auszusehen hatte.

Rachel,

da in der Ecke mit dem Bärenohren-Plüsch-Overall, war erst vierzehn und redete nicht gerne. Reden langweilte sie. Sie war auch nicht so gut darin. Sie hatte ständig kalte Finger, an denen sie kaute, und starrte ins Netz – da war es warm. Da waren

Kemal und Pavel.

Kinder von irgendwelchen Einwanderern, die in letzter Zeit gehasst wurden, und zwar zu Recht, und zwar, weil sie schuld an der Klimaerwärmung waren. Und der Privatisierung. Und der Steuerhinterziehung durch Konten auf den Cayman Islands.

Das waren:

die Freunde.

Die Wut auf die Gesellschaft hatten und nicht wussten, wen sie damit meinten. Die von Anarchie redeten und nicht wussten, was das sein sollte. Die sich nach Aktionen sehnten und Dinge im Netz meinten. Sie waren die Guten. Was auch immer das bedeuten mochte.

Die Freunde hatten irgendwann an ihren Sieg geglaubt. Daran, dass sie immer mehr würden. Die neue coole Jugendbewegung. Dabei hatten sie nicht bedacht, dass Nerds keine erotische Kleidung tragen und die Masse keine Ahnung von Technik und Politik hatte. Dazu konnte man nicht tanzen. Die Freunde waren weniger geworden statt mehr. Immer öfter verschwanden ihre Leute. In Gefängnissen oder Nervenheilanstalten. Zu viele Informationen waren nicht gut für menschliche Hirne. Sie wussten, dass dieses sogenannte Internet nicht nur ein Ort war, in dem Leute Katzenpornos betrachteten und Reiseschnäppchen suchten. Sie wussten, dass im Netz alles war. Die Stromversorgung, die Verkehrsregelung, die Börse, der Welthandel, die Züge, das Leben. Und dass alles Leben endete, wenn Systeme angegriffen wurden. Oder keine Rohstoffe für den Bau von Rechnern mehr zur Verfügung standen. Sie wussten, dass es Kriege um diese Rohstoffe gab. Dass sie Kriege gegen den Terror hießen. Sie wussten, dass Menschen manipuliert und überwacht wurden in diesem Internet. Dass ihre Stimmen und Körper und Mails gefälscht wurden, dass es zu Anklagen kam und zur Beseitigung von –

Querulanten.

Es war ernst. Das war es immer, aber früher war es nicht lebensbedrohlich gewesen. Und nun?

Saßen sie hier. In dieser scheiß Fabrik. Und wussten nicht weiter.

Es hatte sich kaum einer für ihre Revolution interessiert. Was Menschen nicht begreifen, interessiert sie nicht. Sie interessierten sich für Terror. Darum fanden in regelmäßigen Abständen Angriffe irgendwelcher Fundamentalisten statt. Gerne ließen sich die Leute im Anschluss an solche Aktionen röntgen, nackt ausziehen und filmen, bevor sie ein Flugzeug bestiegen. Keiner hatte doch etwas zu verbergen. Die Freunde

hatten die Massen nicht mobilisiert.

Bis vor einigen Jahren hatte es noch anarchistische Jugendliche gegeben, die demonstrierten oder Grundstücke besetzten, die auszogen, um Faschisten zu jagen, die ihre Gesichter verhüllten und glaubten, sie könnten England zu einer Freistadt Christiania umbauen, einem rechtsfreien Raum, in dem heitere junge Hippies saßen und veganen Brei aßen. Die Aufstockung der Polizei und die Ausstattung mit Maschinengewehren hatten dem ein Ende gesetzt. Danach war Ruhe. Gewesen. Seitdem gab es nur noch ein paar Jugendliche, die sich nicht dem System untergeordnet hatten. Nur noch ein paar, die nicht glaubten, in der besten aller Zeiten zu leben. Die wenigen Querulanten, die noch rappten oder hackten, würden auch bald ihren Platz in der Gemeinschaft finden. Und das war gut für sie. Nur angepasst konnte man schließlich an den Erfolgen einer Gesellschaft teilhaben.

Egal.

Die meisten, die sich hier im Raum aufhielten, waren unbeliebt. Gewesen. Weil sie den Standards der Menschen-Norm nicht genügten. Weil sie zu laut, zu leise, zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn waren. Sich zu schnell oder zu langsam bewegten, zu schwul oder zu nichtsexuell, zu unsportlich oder zu nervös waren. Einsam gewesen waren alle. Waren es immer noch, wenn sie die geschützte Werkstätte verlassen und mit schlechten Augen auf die Umgebung außerhalb des Netzes starrten. Die meisten wollten die Welt retten. Ein paar wollten einfach nur angeben. Und alle ahnten, dass sie nichts erreichen würden. Die Übermacht war zu groß geworden, oder sagen wir: Sie begriffen allmählich, gegen wen sie kämpften –

Geheimdienste, Staaten, Milliardenunternehmen, Rechtsradikale, Nationalisten, Spinner, Verschwörungstheoretiker und Mörder. Wo fing man da an? Kaum hatten sie ein Nazinetzwerk erledigt, wuchsen Tausende von Bots nach. Ein paar Überwachungskameras ausgeschaltet, und schon standen da wie durch ein Wunder neue Laternen mit biometrischen Erkennungssystemen.

Sie hatten gekämpft damals – und irgendwann aufgegeben. Denn die Menschheit war zufrieden in einem vollüberwachten, geregelten System, das eigentlich ohne Menschen auskäme. Sie waren ruhig und satt inmitten der Auflösung. Es war doch alles so wunderbar

smart geworden.

Nun folgt ein verwirrender Zeitsprung. Zurück zu –