hatte Marcel,
Politische Orientierung: finanziert liberale Politiker und Thinktanks
Gesundheitszustand: bedenklich
Ethnie: pink
IQ : stiehlt geistiges Eigentum, kein Genie – normal
Familienzusammenhang: schämt sich seiner Herkunft: Sagt, seine Eltern seien tot. Hilft aber nichts. Ein Mangel wird ihm immer bleiben.
wenn er sein Haus auf Gozo betrachtete und den Blick über gerahmte NFT s, den Buddhakopf aus massivem Gold bis hin zur Weite führte.
Ein unattraktiveres Meer war ihm nicht bekannt.
Ein dämlicherer Buddhakopf – dito.
Marcel hatte sich die Immobilie wegen der strategischen Nähe zum organisierten Verbrechen zugelegt.
Wer auch immer ein gutes Geschäft machen wollte und keine Lust hatte, in Gebiete zu reisen, die mit -stan endeten, oder in die Karibik, oder nach Südamerika, oder nach Holland, oder in die Schweiz – landete hier.
Malta. Der Wilde Westen Europas, in dem alles möglich war. Und wenn aus Versehen jemand so albern war, eine, sagen wir – Transaktion – untersuchen zu wollen, wurde das Unterfangen durch Mord beendet.
Marcel verbrachte einige Wochen des Jahres hier. In Gozo am Meer, mit schnellem Netz und dem kompletten Desinteresse der Einheimischen an allem Fremden. Menschen mitgemeint. Besonders wenn die aussahen wie Marcel, der ein sehr großer, sehr unproportionierter Mann war, mit irgendeinem Gesicht, das man sofort wieder vergaß.
Marcel nahm nun, bei der hereinbrechenden Dämmerung, die Pose eines Mannes ein, der sein Leben zu genießen verstand. Er saß mit einem Buch in seiner Bibliothek neben dem imaginären Kamin.
Alles, was Marcel wusste, hatte er von Marx und Baron Rees-Mogg gelernt.
Die Welt hatte eine Ordnung, und die hieß: Es gab die Reichen und den Rest, der sich verkaufen muss, um die Produkte jener mit Kapital genießen zu können. Nur wann. Wann konnte jemand schon so richtig genießen in einem Leben, wie Marcels Eltern es in Duisburg geführt hatten, ehe sie leider früh verstorben waren, nachdem sie sich an die Regeln gehalten hatten. Gearbeitet, gespart, einmal im Jahr Urlaub, das hieß – mit anderen zu Tode Frustrierten auf einem Campingplatz gelegen und geschlafen zu haben. Am Ende waren sie enteignet worden. Eine Autobahn wurde durch ihr Reihenhaus geleitet, um die Mobilität der Menschen und so weiter.
Marcel sah in seinem Endgerät schnell nach, was die Konkurrenz machte. Microsoft hatte im letzten Jahr in Irland für dreihundertfünfzehn Milliarden Gewinn null Unternehmenssteuer gezahlt.
Marcel wurde kurz heiß vor Neid. Immer gewann Microsoft. Marcels Unternehmen hatten nur zweihundertneunundneunzig Milliarden umgesetzt.
Marcel sah sein kurz hasserfülltes Gesicht in der spiegelnden Terrassentür. Meine Güte. Von Rees-Mogg hatte er die Zeilen »Die Hässlichen, Dicken, Alten und Behinderten werden zu gleichen Bedingungen mit den Jungen und Schönen konkurrieren in der absolut farbenblinden Anonymität im neuen Grenzgebiet des Cyberspace.«
Fast so seherisch wie der Satz: »Der Cyberspace ist die ultimative Offshore-Gerichtsbarkeit. Eine Ökonomie ohne Steuern. Bermuda in the sky with diamonds.«
Marcel hasste die Kapitalisten. Genauer
die alte Mannschaft der Oligarchen. Kriegsgewinnler, Banker, Stahlbarone, Waffenhersteller und ihren Dynastien, denen die Welt noch immer vollkommen gehören würde, wäre nicht das verdammte Internet erfunden worden. Plötzlich konnten Menschen mit einer großen Aggressivität, wenig Moral und einem schlechten Stammbaum mehr Vermögen anhäufen als die alten Dynastien.
Marcel hatte den Grundstein seiner Karriere mit dem Hacken von Rechnern in der Nachbarschaft, dem Zugriff auf Kameras und Mikrofone, gelegt. Dazu hatte er nicht einmal onaniert.
Er hatte seine Lehrer, besonders die Lehrerinnen, beobachtet und mit kleinen Erpressungen begonnen. Mit achtzehn fing er an, seine Dienste auf einer Handelsplattform über Tor anzubieten. Dort lernte er ein paar hochbegabte ProgrammiererInnen kennen.
Und dann folgte die große wunderbare Erfolgsgeschichte, die er mit vielen der aktuellen Plattformmilliardären teilte.
Von Jobs und Gates lernen heißt, die Kunst der Aneignung durchdringen.
Er hatte den Code zweier Frauen, die den ersten massenkompatibel einsatzfähigen Trojaner entwickelt hatten, der sich ohne physischen Kontakt mit den Endgeräten der Zielpersonen einsetzen ließ –
verfeinert und
monetarisiert.
Die
zwei Frauen
Gesundheitszustand: unter 200 Schritte täglich
Sexualverhalten: keine Fortpflanzung geplant
Ökobilanz: Stromverbrauch über der zugelassenen Höchstmarke
Beruf: IT -Sicherheit
Geschlecht: unklar
saßen zur gleichen Zeit in einem Container in Bayern. Im Wald. Mit Rehkitzen. Die beiden ähnelten sich, das lag eventuell daran, dass sie seit über zwanzig Jahren zusammen waren. Sie schienen aus einem Steampunk-Comic gefallen zu sein und waren die Backup-Brigade für Liechtenstein, die Schweiz und Teile Süddeutschlands. Die Einheit, die andere Einheiten überprüfen würde.
Sie kontrollierten eine Reihe von neu angelegten Bitcoin-Accounts und waren kurz auf einer realen Plattform von Bitcoin-Spinnern hängen geblieben, die von einem Thinktank betrieben wurde, der für die Abschaffung des Bargelds tätig war.
Junge, liberale Kurzhaarträger in Bundfaltenhosen, die zum Zeichen ihres Enddurchblicks Laserstrahlen in ihre Profilbilder eingefügt hatten. Endlich Geld selber herstellen. Erektion, Gottgleichheit, Bluthochdruck. Abgang.
Seit Marcel vor einigen Jahren ihren Code, den man kurz Trojaner-Software nennen konnte, gestohlen und damit zum Milliardär geworden war, beobachteten sie ihn. Und dank der Sicherheitslücken, die sie in ihren Codes versteckt hatten, auch Bankbewegungen, Geheimdienste, Militärs, Politiker, Konzerne, weltweit.
Sie ahnten Marcels Verzweiflung, wenn er nachts Live-Cam-SexarbeiterInnen betrachtete und versuchte, Freundschaften zu ihnen aufzubauen.
Die beiden Frauen hatten Marcel damals im Hackerspace kennengelernt. Er war nicht sehr beliebt gewesen, denn er war ein schlechter Programmierer, ein lausiger Aktivist und ein Angeber. Es war allen klar, dass er irgendwann beim Staatsschutz oder bei Google enden würde. Die beiden Frauen hatten sich aus Mitleid um ihn gekümmert. Sie waren nicht erstaunt gewesen, als Marcel irgendwann nicht mehr auftauchte und seine Firma später auf dem Fundament ihrer Entwicklung errichtete.
Apropos.
Marcel liebte das Wort Monetarisierung, er hatte es sich von Gerhard Richter malen lassen. Zweimal. Die Bilder hingen hier in Gozo und in seinem Office in München. Während Marcel die Kunstwerke betrachtete,
ließ er sein »Leben Revue passieren«. Marcel sagte oft schrullige Sätze – wie diesen oder auch: »Ich gehe in medias res.« Oder: »Ich werde mit der Seele baumeln.«
Er meinte das ironisch. Merkte aber niemand.
Als die türkische Regierung die Lizenz für seine Trojaner gekauft hatte und fast alle europäischen Regierungen folgten, hatte sein Aufstieg begonnen. Von der ersten Milliarde kaufte er Anteile an Firmen, in die Peter Thiel investiert hatte. Das Nanotech-Unternehmen MagForce und das Health-Start-up Compass Pathways. Marcel sah die Zukunft des Investments in der Aneignung von Körpern und machte mit wachsendem Erfolg, was Kapitalisten eben machen. Konkurrenz aufkaufen, Angestellte ausbeuten, Steuern anpassen, optimieren, Stiftung gründen. Für die Opfer von politischer Folter. Prost.
Marcel stand noch ganz am Anfang. Er war in der Forbes-Liste nur auf Platz elf. Er hätte sich Bezos oder Bernard Arnault zum Vorbild nehmen können, doch –
er wollte sein wie Bill Gates: Fast das ganze Vermögen verschenken, immer noch hundertvierundzwanzig Milliarden übrig haben. Geben statt nehmen. Marcel wusste einfach alles über den smarten Weltretter.
Bills Anlagefirma investierte in Ackerland, und das hatte ihn zum größten landwirtschaftlichen Grundbesitzer in den USA werden lassen. Mehr als eine Million Morgen – teils von enteigneten indigenen Bevölkerungsgruppen –, alles seins. Genug, um die gesamte amerikanische Bevölkerung verhungern zu lassen, aber wer sollte so etwas tun.
Die Farmer pachten das Land von dessen Besitzer, und dann musste es Rendite bringen. Rendite und ökologischer nachhaltiger Anbau vertragen sich mäßig. Marcel wurde nervös, wie immer, wenn er zu lange an sein großes Vorbild dachte.
Er bewunderte »Bill«, wie er ihn vertraulich nannte, seit seiner Adoleszenz. Damals hatte er im Keller des grässlichen Spießerhauses seiner Eltern einen Rechner stehen, auf dem er alles las, was er über den Philanthropen fand. Er ließ das Licht ausgeschaltet, der Schein des Atari 5201040 St Ste Mega Computer SM 125, den er mit dem SIO2PC -Universal-Interface von AtariMax mit dem Netz verbunden hatte,
tauchte den Kellerraum in blaue Schlüpfrigkeit, und manchmal zog Marcel sich seine Hosen herunter und saß mit entblößtem Unterleib auf dem alten Korbstuhl. Der Schmerz an seinen Genitalien im Kontext mit der Betrachtung von Bill Gates würde sein Sexualverhalten für immer prägen.
Wenn Bill Gates sich durch etwas auszeichnete, dann durch eine PR , als sei Edward Bernays für ihn wieder lebendig geworden. Wie aus dem Sohn des Anwaltskanzlei-Inhabers von Preston Gates & Ellis, mit Filialen in den USA , China and Taiwan –
eines sehr reichen Mannes, wie also aus dem Rich Kid und Copy-Paster fremder Ideen der vertrottelt genial liebenswerte Garagen-Nerd wurde, das ist nur mit Hochachtung zu bedenken. Fachleute raunten, dass nichts von all den Produkten, die Gates reich gemacht hätten, aus seiner Garage – geschweige aus seinem Hirn stammte. So soll er die Programmiersprache BASIC nachimplementiert und verkauft haben. Als Nächstes kaufte er Entwickler Tim Patterson dessen SCP -DOS ab und verkaufte es mit Gewinn als IBM PC -DOS an die IBM – und brachte seine eigene Kopie davon als MS -DOS heraus. Microsoft Windows, für die große Vision von Rechnern mit grafischer Benutzeroberfläche, kopierten Microsoft und Apple vom Nachfolger des Xerox Alto, dem Xerox Star.
Das wenige Geld, das nach der Rettung der Welt und Abzug keiner Steuern noch übrig war, befand sich in der von »Bill« gegründeten Investmentgesellschaft Cascade Investment. Ein intelligent undurchdringliches Netzwerk von etwa zweiundzwanzig Finanzunternehmen.
Cascade investierte in ein breit gestreutes Portfolio von US -amerikanischen Aktienpaketen – unter anderem Anteile an gesunder Coca-Cola, dem Angestelltenparadies Walmart, praktischen Pharma- und Agrarfirmen, Amazon, Apple und Google. Und in Terra Power. Den fast grünen, ökologischen Atomkraftwerken.
Marcel hatte sich schon gewundert, warum sein Idol seit einiger Zeit vor der Verbannung von Atomkraft warnte, vor Blackouts und der Unmöglichkeit, die Welt nur mit nachwachsenden Ressourcen mit Strom zu versorgen.
Sobald er in der Lage dazu war, hatte Marcel sofort Terra-Power-Aktien geshoppt.
Bald schon würde Gates um ein Investment in Marcels Firmen betteln – denn er war die Zukunft. Und das war doch großartig, dass für jeden Macher, so egoistisch, manisch, menschenverachtend, technokratisch er auch war, bei seinem Ableben bereits Tausende Nachfolger bereitstanden, um ihn zu ersetzen.
Für Marcel arbeiteten tausendfünfhundertsechsundsiebzig Freelancer. Meistens ProgrammiererInnen im Home office. In seinen haptischen Firmengebäuden, in denen die Verwaltenden saßen und wo mehrfach wöchentlich ein Get-together stattfand, das von Marcel kontrolliert die Motivation befeuerte, gab es keine veganen Buffets mehr. Es gab überhaupt nichts mehr zu essen, wann sollten die Leute auch Zeit dazu haben.
Die MitarbeiterInnen – Marcel genderte und legte großen Wert auf die Diversität seiner Leute – arbeiteten dank des ständigen Monitorings sehr ambitioniert.
Marcel hatte das Microsoft-Homeoffice-Tool gründlich überarbeitet. Mit Irismessung, Puls- und Hirnfrequenzkontrolle, Totalüberwachung der Wohnung.
Anderes Thema –
Marcel hatte Black Cube und NSO gekauft, seit gestern besaß er die Firma, die Smartmeter produzierte. Gerade bewegten sich die Aktiennotierungen für One, wie Marcel sein neues Unternehmensdach genannt hatte, in einen sehr erfreulichen Bereich. Die Idee für One stammte von Jack Ma, der für jeden Bereich des kleinbürgerlichen Lebens passende Dienstleistungen mit nur einem Login anbot – und war inspiriert von Googles Project Nightingale, das über eine Milliarde nicht verschlüsselte Patientendossiers – verwaltet hatte.
Verbunden mit einer guten AI , wie den Techniken von DeepMind, bedeutet das Ganze Zugriff auf fast jeden. Hundert Millionen potenziell erpressbare Menschen. Großartig. HIV , Geschlechtskrankheiten, Flaschen im Anus, Abtreibungen, Geschlechtsumwandlungen, Krebserkrankungen, psychische Erkrankungen – rückwirkend auf Jahre.
Auf One checkte der Kunde mit seinem guten Gesicht in die Welt der umfassenden Lebensgestaltung ein.
Vom Haus über Unterhosen bis zu Keksen konnte man alles kaufen. Tickets buchen, chatten, Kredite und Hypotheken aufnehmen, billiger als bei jeder Bank, Versicherungen und Liebe finden und die Krankenkassenbeiträge zahlen, die bei One billiger als bei sämtlichen Konkurrenzunternehmen waren.
Marcel hatte ein Online-Consulting-System entwickelt. Die AI beriet PatientInnen auf Basis ihrer Leiden und ihrer Daten, sprich: ihrer finanziellen Situation. Der Dienst bot neben dem Gesundheitssystem mit Onlineuntersuchung auch Medikamentenzustellung und Hilfestellung bei einfachen Eigeneingriffen für Beherzte. Marcel hatte sich das einmal angesehen, um zu wissen, wie seine Produkte ankamen. Er hatte durch die Rechnerkameras, die bei Onlinekonsultationen eingeschaltet waren, an einer Behandlung teilgenommen, die ein beherzter Mensch an sich vorgenommen hatte.
Dem
beherzten Mann
Intelligenz: mittel
Kaufkraft: kaum vorhanden
Eigentum: dito
Politische Vorlieben: konservativ
Literarische Vorlieben: Kalender
wurden innerhalb einer Stunde nach der Konsultation mit einem Kurierfahrer, der günstiger im Unterhalt und Betrieb war als eine Drohne – ein steriles OP -Besteck, lokale Betäubungsspritzen, bereits aufgezogen, steriles Nähzeug, Verbandmaterial, ein Kunststoffnetz in seine Wohnung nach Antwerpen geliefert.
Er hatte seine Schreibtischlampe vor einem Spiegel platziert, eine starke Birne eingeschraubt und folgte dem Anleitungsvideo. Zuerst sedierte er seine Leistengegend mit vier Spritzen Lidocain und wartete zehn Minuten, dann setzte er nach Anleitung mit dem Skalpell einen ca. fünf Zentimeter langen Schnitt. Er stopfte den herausquellenden Bruch zurück ins Körperinnere und platzierte das Kunststoffnetz, das er nun an der Bauchwand annähen sollte. Langsam setzten Schmerzen ein, und der Plastikbeutel glitt ihm aus seinen etwas zitternden Händen. Der Bot in Menschengestalt, mit dem er chattete, wiederholte immer nur einen Satz: »Und nun nehmen Sie den Wundverschluss vor.«
Irgendwann wurde der beherzte Mann panisch und nähte den ganzen Scheiß in groben Stichen zu.
Neben der vereiterten Wunde, die sich nicht schloss in den kommenden Tagen, hatten sich Aneurysmen gebildet. Einige hatten sich aus der Leiste gelöst und zu einer Embolie geführt, wie der digitale Arzt (männlich, immer) bedauernd festgestellt hatte.
Am nächsten Tag wurde eine Säge zur Eigenamputation geliefert.
Hervorragend,
hatte Marcel gedacht.
Aber zurück zum Thema –
seine nächsten Schritte würden eine Beantragung der Banklizenz und die Schöpfung von One-Kryptogeld sein. Hast du die Übersicht über alle Geldtransaktionsdaten, bist du der König. Sage mir, wofür du wie viel ausgibst, und ich erstelle dir zusammen mit deinen Gesundheitsdaten ein Persönlichkeitsprofil für deinen Avatar, das 99 Prozent genau ist.
Marcel ging von der 100 Quadratmeter großen Terrasse, von der er ratlos in die Nacht und Meer geblickt hatte,
ins Wohnungsinnere. Da war es auch nicht besser. Da standen einige Wegner-Chairs herum, auf denen Marcel nie saß. Sein konturloser Körper wirkte im Kontrast zu der nordischen Ästhetik zu –
egal.
Marcel hatte sich die Latifundie nach der Zusicherung von EU -Subventionen gegönnt. Ein fairer Deal. Er bekam Hunderte Millionen, die er zum Teil in die Entwicklung investierte. Hauptsächlich aber in seiner Stiftung vergrub. Die europäischen Regierungen bekamen (fast) alle Daten ihrer Bevölkerungen. Marcel machte das, weil es möglich war. Er interessierte sich nicht für Menschen oder deren Leben. Eigentlich interessierte er sich für nichts. Manchmal lag er nachts wach und war so unglücklich, dass er kaum mehr atmen konnte. Nichts, nichts erregte ihn, erfreute ihn, machte ihn glücklich.
Marcel war sich sicher, dass er ein Opfer seiner freudlosen Kindheit war, dass die Gesellschaft ihn gebrochen hatte und so weiter.
Er wünschte sich in solchen Nächten, dass er einen Menschen finden würde, den er so lieben konnte wie Bill Gates.
Am nächsten Tag würde er in die Schweiz reisen, wo wieder irgendein Treffen von irgendwem anstand. G 5 – oder G 8, UN , NATO , Weltwirtschaftsgipfel, Bridgeabend –
Marcel hatte den Überblick verloren.
All diese Treffen flossen zusammen zu einem Brei aus öden Hotelsuiten, Fingerfood und weißen Männern.
Aber im Moment
wurden von seinem Stiftungsguthaben 3,5 Millionen Dollar auf das Konto einer neuen Aktiengesellschaft seiner Firma in München umgebucht, zehn Dollar würden fehlen.
Und nie gefunden werden.
Das machte eine gute Laune.
Mit der zur gleichen Zeit
die Geheimdienstmitarbeiterin
in Den Haag den Ordner mit ihren Vorträgen öffnete. Morgen würde sie wieder an der Polizeiakademie lehren.
Sie las sich den Text zur Geschichte der Polizei noch mal durch.
Vom 15. bis ins 18. Jahrhundert wurde weltweit, oder sagen wir mal – europaweit – Gemeinschaftsland privatisiert, und zwar – fast alles. Damit konnten Millionen Menschen nicht mehr überleben. Es sei denn, sie verdingten sich. Oder wanderten in Städte. Stahlen, prostituierten sich, bettelten oder wurden Gaukler, Diebe, Geschichtenerzähler, Quacksalber. Aber
Menschen, die vagabundierten und stahlen, und Frauen, die ihr eigenes Geld anschafften, brachten Unruhe in das schwierige und gleichsam – bedrohte Leben der Oberschicht. Darum führten die Adligen und Rechtsgelehrten im 16. Jahrhundert die »Policeywissenschaft« ein.
Für den Erhalt des Friedens, der Ruhe und Einigkeit für die Bevölkerung. Zu Feinden von Ruhe und Frieden wurden »Vagabunden, Räuber, Prostituierte, Juden, Fahrende, Hexen und Bettler« erklärt. Fast jede Möglichkeit, einen Lebensunterhalt nicht durch Lohnarbeit zu bestreiten, wurde kriminalisiert. Und als Zugabe noch die Sexualität außerhalb der Ehe. Die Kirche mochte das.
In England entstanden die Poor Laws, die tragische – also kranke oder behinderte – Menschen ohne Arbeit von faulen Subjekten trennten.
Menschen, die sich nicht an die ORDNUNG hielten, wurden als Subjekte bezeichnet und konnten in die Sklaverei geleitet werden. Im 18. Jahrhundert gab es in Frankreich und England eine überwachende Polizei, deren Kontrollfreude sich auch auf die Wirtschaft erstreckte und die darum energisch abgelehnt wurde. Von der Bevölkerung, die sich an das kapitalistische System gewöhnt hatte und glaubte, dass ein Mensch Lohnarbeit brauchte, um zu sein.
Alle anderen Formen der Erwerbstätigkeit – Künstler zum Beispiel – waren der Gemeinschaft suspekt. Irgendwann brauchte man keine Gewalt mehr, um Menschen zum Verkauf ihrer Lebenszeit zu zwingen. Sie taten es freiwillig, gerne, denn sie konnten sehen, wie sich durch Fleiß ihre Situation verbesserte. Es gab für die fleißigen Menschen Küchengeräte, Kredite. Und Freiheit.
Das Konzept von Recht funktionierte so gut, dass die
Polizei sich der prophylaktischen Verbrechensbekämpfung zuwenden konnte. Es entstand die Idee der kriminellen Klasse, also Verbrecher per Geburt.
Ab dem 19. Jahrhundert arbeitete die Polizei vornehmlich in den Vierteln der Armen und sorgte bei Streiks für Ordnung und beschwichtigte Unruhen mit Gewalt. Sie observierte. War präventiv tätig. »Und bis heute hat sich daran nicht viel geändert«, schloss sie ihre Ausführungen mit einer aktualisierenden Pointe. »Heute erleichtert das Netz die Arbeit der Ordnungskräfte. Die Gotham Software des großen Gründers Peter Thiel oder biogeografische DNA -Tests und Datenbanken helfen uns, ein sicheres Leben zu führen. Danke.« Die Geheimdienstmitarbeiterin lauschte ihrem kurzen Vortrag nach. Sie liebte ihren Beruf in diesem Moment,
und draußen ging die Sonne unter.
Ein einzigartiges Schauspiel, das
Leo
Sexualität: straight homosexuell
Familienstand: verheiratet mit Freia
Hobbys: stöbert gerne auf Kunstauktionen
Vermögen: nicht in der Forbes-Liste
Schwachstelle: weint bei Ölbildern der Mutter Maria
entspannt im Luftraum zwischen Italien und der Schweiz beobachtete. Der Firmenjet lag ruhig, neben ihm schlief sein Liebespartner Hagen. Die beiden Entscheider waren
auf dem Weg in die Schweiz zum Gipfel. Irgendeinem Gipfel, vollkommen egal. Die beiden Männer waren gekleidet wie britische Oxfordprofessoren für Altgriechisch – in Cord und Seide. Ein romantischer Duft von teurem Parfüm und Vergänglichkeit, überlagert von einer Kopfnote, die Macht verströmte, umwehte sie –
Vielleicht lag es an der Selbstverständlichkeit, mit der sie davon ausgingen, dass die Welt sich ihnen unterzuordnen hatte, kombiniert mit der teuren Pflege, die jeder Zentimeter ihres Körpers atmete – vom Brillengestell über die Silberspülung der weichen Haare verkörperten sie Ästhetik, Kultur und Klasse, sowie die jahrhundertealte Tradition Europas, durch Landraub, Versklavung und Mord, Gewinn zu machen.
Leo, der seine Beine, die im Luftraum vor sich hin wippten – nicht wieder einzufangen vermochte, »Sorry,
ich kann einfach nicht still sitzen«, würde er sagen, wenn wer fragen würde, und dann würde er vom Restless-Legs-Syndrom reden, einer Erkrankung der Hyperaktiven, der Macher. Leo war Marathonläufer. Die meisten auf seinem beruflichen Level – Verwalter der wenigen Superreichen – waren früher Leistungssportler gewesen. Der gesteigerte Drang zum Sieg, und so weiter.
Aber – Disziplin zahlte sich aus, Leo war Ende fünfzig und hatte kein Gramm Fett am sehnigen Körper, er sah wunderbar aus, nur manchmal, bei schlechtem Licht, glich er gegrilltem Geflügel. In solchen Momenten stand er mithin neben Hagen am Paar-Waschbecken, dem Inbegriff von spießiger Lebensmüdigkeit, und fragte sich, was noch kommen sollte. Leo war momentan der einflussreichste Mensch der Welt, na ja, oder der Finanzwelt oder – egal – halt wichtig. Innerhalb weniger Jahre hatte er alle überholt oder vernichtet, die ihn früher verachtet hatten.
In jenem früher, als er als junger Trader aus Versehen hundert Millionen verloren hatte. Wobei »verloren«
– auf jeden Fall hatte er einige Kunden ruiniert, und
da war ein kleiner Makel geblieben, darum wandte sich Leo von den Fonds ab und gründete eine eigene Bank, die er Investmentfirma nannte. Seiner Mutter sagte er damals: Mama, seit ich ein Kind bin, wollte ich immer eine eigene Bank. Ich habe in meinem Puppenhaus Bankschalter gespielt.
Der Rest war Legende.
Leo war Herrscher über das beste maschinell lernende Analysesystem der Welt. Dessen Architektur er sich von seinem Erfinder
geliehen hatte –
das Programm war effektiver, genauer und umfassender als Bloombergs Konkurrenzprodukt. In jeder Sekunde wurden weltweit Ereignisse, Erdbeben, Ladungen von Schiffscontainern, Unruhen, Wahlen, Katastrophen, Einkommen der Bevölkerung, Seuchen, die Bewertung von Stadtteilen, kurz – jede Zuckung menschlichen und klimatischen Seins in Anlagetipps umgewandelt.
Der beste Anlagetipp war: Immobilien, Grund, Beteiligungen an allem, was Zeug produziert, Leistungen generiert. Arztpraxen, die zu Praxisgemeinschaften in Firmen umgewandelt wurden. Oder der Trick, den Mars und Nestlé erfunden hatten: Tierarztpraxen aufkaufen, einer Firma einverleiben, Kosten für die traurigen Tierhalter anheben, Leistungen runterfahren. Denn – wer die Welt haptisch besaß, besaß sozusagen die Welt. Ohne Menschen. In Beton. In Landflächen, in Fabriken und Autobahnen. Leo konnte von sich behaupten, dass er die Antriebskraft der Betonisierung der Welt war. Künstliche Inseln und Staaten, Verdichtungen, Umwandlung von Sozialwohnungen in Eigentum, private Städte bauen, smarte Städte für Maschinen,
Schnauze.
Leo stieß seinen schnarchenden Freund in den Bauch.
Das ist Hagen. Auch ein Läufer. Auch sehnig und braun gebrannt wie ein verdammtes Huhn.
Hagen war Chef einer Anwaltskanzlei und Erfinder. Er war der Kopf hinter dem angeblichen und unterdessen angeklagten Gründer der Cum-ex-Strategie also – der Entdeckung einer Gesetzeslücke, die seinen Klienten, Banken und Investmentfonds einen ungemeinen Gewinn bescherte. Sie erhielten vom Staat Steuern zurück, die sie nie bezahlt hatten. Oder einfach: Zwei Parteien erhielten Steuern zurück, die nur eine Partei gezahlt hatte, noch kürzer gesagt – allein in Deutschland für seine Klienten rund fünfundfünfzig Milliarden.
Für ausländische Kunden erfand Hagen dann noch den Cum-Cum-ex-Trick: Ausländische Aktienbesitzer, Fonds und Banken, die im Besitz deutscher Aktien waren – verliehen ihre Aktien vor dem Dividendentag an deutsche Partner, denn in Deutschland wird die Steuer auf Dividenden erstattet. Klingt langweilig, war aber effektiv.
Hagen wurde kurz darauf zum Verfassungsrichter in Deutschland ernannt. Den Job hatte er einige Jahre aus Prestigegründen innegehabt. Nun war er in die Privatwirtschaft zurückgekehrt. Der Wirtschaftsanwalt, der gegen die Cum-ex-Strategie ermittelt hatte, stand seit Jahren wegen Wirtschaftsspionage vor einem Schweizer Gericht.
Die Gesetzeslücke wurde nie geschlossen. Die Journalistin, die zugleich eine Leakingplattform betrieb, auf der alle Cum- und Cum-ex-Beweise öffentlich gemacht worden waren, saß seit fünf Jahren wegen Verstoßes gegen Artikel 47 des Bankgesetzes der Schweiz in Einzelhaft.
Während die beiden Männer, die sich beim New-York-Marathon kennengelernt hatten, in ihrem Privatflugzeug saßen. Augen auf bei der Berufswahl.
Sie glitten durch einen fast leeren Luftraum, denn Fliegen war so unökologisch. Es war nachhaltiger, den Flugverkehr auf Privat- und Chartermaschinen zu begrenzen. Die sogenannte Allgemeinheit konnte sich Flugreisen sowieso kaum mehr leisten. Sie war dermaßen am Ende, dass es nicht mehr nötig schien, ihnen Urlaub als Belohnung für ein ausgebeutetes Leben in Aussicht zu stellen. Die meisten hatten keine Arbeit mehr. Sie hatten Beschäftigungen. Während die beiden Männer, die aussahen wie fast alle Männer des Westens, die über Macht und Geld verfügten, den Himmel in Richtung Schweiz gleichsam durchpflügten, sich an den Händen haltend und auf das leichte Diner wartend, wurden von Hagens Konten minimale Fehlbeträge von zehn Dollar abgebucht. Die dann auf einem Konto auf den Seychellen landeten.
Unter ihnen lag Bellaggio.
Und
der Literaturwissenschaftler
Hobby: W.G. Sebald (hat seine Wohnung mit Postern »des Meisters« und einigen seiner Knochen dekoriert)
Familienstand: gerne alleine mit der Literatur
Werte: Sebald-Erstausgaben
Gesundheitszustand: Leberzirrhose
sah am Himmel ein kleines Flugzeug. Ein seltener Anblick.
Der Literaturwissenschaftler war nach Bellaggio eingeladen worden. Er war durch die Gassen gestromert – an der Promenade hin und her, und es gab keine Läden, die irgendetwas Normales verkauften, Käse und Feuchttücher, Strickjacken oder Tretroller. Es gab nur Shops, die Tagestouristen Schlüsselanhänger und in Kunstharz gegossene kleine Boote anboten. Restaurants, die lieblose Nudelgerichte servierten. Später checkte er in sein reizendes Hotel ein, um sich im Konferenzraum mit seinem Finanzier zu treffen. Ein Herr der Stabsführung des deutschen Heeres.
Die beiden Männer saßen in Ledersesseln, den Blick nicht zum See gewandt, sondern auf ihre Rechner. Die beiden arbeiteten am Projekt Cassandra. Was ein guter, bildungsbürgerlich-vertrauensfördernder, zugleich auch raunender Name war.
Im Cassandra-Team wurden seit einiger Zeit weltweit Romane nach Hinweisen auf Anzeichen bevorstehenden Unheils durchsucht und die Ergebnisse an die Exekutive weitergeleitet.
Oft verdichtet sich in Romanen die nahe Zukunft auf engem, AI -getrieben-durchforschbarem Raum. Waren Konflikte, Hungersnöte, Blackouts, Bürgerkriege oder Zeichen einer Revolution ablesbar –
konnte das Militär des Westens oder ihrer Freundesländer präventiv eingesetzt werden. Genial.
Der Literaturwissenschaftler kam durch seine Vorliebe für Literatur aus den Weiten der afrikanischen Länder darauf, dass sich seherische Vorgänge in Romanen oft wenig später in der Realität wiederfanden, und weil er, wie fast alle Geisteswissenschaftler, forschungsgeldtechnisch immer unterausgestattet war, wandte er sich mit seiner Start-up-Idee an das Verteidigungsministerium. Afrika, Bodenschätze, Konflikte waren ein überzeugendes Trio. Gelder wurden bewilligt, und so konnte ein gut qualifiziertes Team wissensdurstiger WissenschaftlerInnen eine Conflict- und Emotion-Map der Welt erstellen, die auf purer Fiktion basierte. Gerade diese verflixten Emotionen galt es auf allen Ebenen zu beobachten, zu kontrollieren und präventiv zu unterbinden.
Die ungeahnten Möglichkeiten der neu definierten Literaturwissenschaft hatten erheblich zum Erhalt der Literatur beigetragen. Die Wirtschaftsnationen förderten nun weltweit lebensnahe Romane und Erzählbände, gründeten neue Fördereinrichtungen und erwogen Grundeinkommen für Schreibende, die das dankbar, wenn auch befremdet zur Kenntnis nahmen.
Gerade wird ein überschaubarer Betrag vom Projektkonto ab und auf ein Konto in den Bahamas – umgebucht.
»Prost«,
sagte Freia
Familienstand: verheiratet mit Leo, einem Anlageberater; vier in Internate outgesourcte Kinder
Hobbys: Springreiten, Segelregatten
Vermögen: zehn Milliarden
Stiftung: logisch
Gesundheitsstatus: topfit dank diverser sie umgebender Ärztinnen
auf ihrer Jacht in Menton zu sich. Freia, die vermutlich anders hieß, aber der Name passte zu ihrem inneren Adelstitel, den sie sich gerne verlieh. Ein Adelstitel klang nach Gestüten. Und Freia ritt gerne. Na ja. Eigentlich hasste sie Pferde, aber Reiten gehörte nun mal dazu. Ein Gestüt und ein Adelstitel erzeugten bei vielen Europäern immer noch: Angst. Denn die meisten Menschen waren Untertanen. Und das gerne.
Freia fühlte sich, ihrem fehlenden Titel geschuldet, stets von einem Gefühl des Mangels begleitet. Irgendwann hatte sie sich sogar gefragt, ob ihre Familiengeschichte etwas wäre, wofür sie sich schämen müsste, denn ihr dynastischer Reichtum begann mit der Waffen- und Textil-Produktion im Ersten Weltkrieg. Damals waren sie eine der Herrscherfamilien des Landes, ein Umstand, der im darauf folgenden Krieg und dem fast freundschaftlich zu nennenden Umgang mit dem Führer der damaligen Regierung stark ausgebaut wurde.
In jenen Jahren waren die Arbeitskräfte so günstig, und Freias Großvater, ein Kunstkenner, konnte ein beeindruckendes Immobilienportfolio und eine atemberaubende Kunstsammlung aufbauen.
Freia machte einige dem Volk zugänglich, in Museen, die vom Zehnt eigens für ihre Sammlung gebaut worden waren.
Das nur am Rande. Damals, nach dem furchtbaren Krieg, wurde es kurz ruhig um Freias Familie, die Nürnberger Prozesse fanden ohne sie statt, denn irgendjemand, so beschieden die freundschaftlichen Besatzungskräfte, musste das Land wieder aufbauen.
Die Produktion lief wieder an, das Vermögen wurde aufgetaut und die Familie verdiente sagenhaft am Wiederaufbau der goldenen Fünfzigerjahre. Dankbar, an Ursache und Lösung verdient zu haben, leisteten sie ihren Beitrag für den Aufbau der Demokratie. Zahlten immense Parteispenden. Zum Beispiel.
Die Geschichte ihrer Familie erschien Freia als einzig mögliche, denn die meisten, mit denen sie seit ihrer Internatszeit verkehrte, kamen aus ähnlichen Familienzusammenhängen. Nur eben mit Adelstitel.
Freia schüttelte sich. Und reckte ihre ohnehin sehr aufgerichtete Wirbelsäule. Es gab vieles, auf das sie stolz sein konnte, 186 Prozent Gewinnsteigerung in den letzten zehn Jahren, nur um mal eine Hausnummer zu sagen. Freia war Vorsitzende des Stiftungsrates der Firma, sprich: Family-Office, sprich, irgendwas mit Arbeitsplätzen in Afrika schaffen, dem Land, aus dem einige ihrer Firmen Rohstoffe, nun, fast möchte man sagen –
abtransportierten.
Prost.
Freias Jacht – größer als die von Heidi Horten, wie Freia oft schmunzelnd dachte – wackelte leise im Mittelmeer.
Sie mochte Boote ebenso wenig wie Pferde, diese Pseudotiere,
aber die schwimmenden Wohnmobile waren die einzige Möglichkeit, nicht mit normalen Menschen verkehren zu müssen. Freia konnte sich in Hotels und in der Öffentlichkeit nicht ohne ihre Leibwächter bewegen, und bitte – wie viel Spaß soll das denn machen? Freia hatte den Ruf, eine dezente, fast schüchterne Person zu sein. Sie sah so durchschnittlich deutsch oder auch belgisch oder einfach europäisch aus, dass sie in unterschichtsentsprechender Kleidung an keiner Supermarktkasse aufgefallen wäre. Als es noch Kassiererinnen gab.
Freia kannte nur Menschen wie sie. Erzogen in Bildungseinrichtungen, die genauso unangenehm waren wie das Zuhause der Kinder in dynastischen Familienzusammenhängen. Das Wohnhaus der Familie auf 770 Quadratmetern in drei Etagen über den Geschäftsräumen der Stiftung war seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts nicht neu dekoriert worden. Teppichboden, Messing, Kirschholz. Freia erlebte ihre frühe Jugend auf einer eigenen Etage mit ihrer Kinderfrau. Die entlassen wurde, bevor sie in ihre Sechziger kam, um ihr keine Rente zahlen zu müssen. Ihre Eltern sah sie bei Tisch. Es wurde geschwiegen. Wenn nicht geschwiegen wurde, hielt man sie zur Sparsamkeit an. Seifenreste kamen in einen Beutel, bis sie den Abrieb pulverisiert hatte, um mal so eine Sache zu nennen. Das hatte sich bis heute bewährt in ihrem Leben.
Diese Sparsamkeit.
Freia hatte ihre Mutter mithin beim Zählen der Vorräte und Dosen, die sie auf den Angebotsseiten der Supermärkte jagte, beobachtet und spürte immer das Bedürfnis, Mutters Gesicht mit einer Dose zu zertrümmern.
Das Familienunternehmen hatte seit drei Generationen nie Verluste gemacht – beziehungsweise in Krisenzeiten durch Staatsfinanzierungen einen doppelten bis dreifachen Gewinn verzeichnet.
Freia trank etwas Champagner, rückte ihre Brille zurecht
und im gleichen Moment wurden bei dem Transfer von einer Summe von 1,6 Millionen Dollar nach Liechtenstein zehn Dollar zu viel abgebucht und auf ein Konto in Belize verbracht.
Das ist erstaunlich,
dachte
der Immobilienentwickler
Bedeutung: Man muss sich diese Person nicht merken.
Hobbys: Golf, Jacht, Polo, all die öden Events, die nur dazu dienten, andere Personen zu treffen, die man sich nicht merken muss
Gesundheitszustand: harmlos wirkender Hautkrebs
Politische Ausrichtung: libertär, wie alle Macher