1 Jahr und achteinhalb Monate vor dem Ereignis,

der neben seinem Kerngeschäft – der Erschließung von Anlageobjekten – eine Software entwickelt hatte – na ja, er hatte das System von seinem jungen, naiven Londoner Erfinder gekauft.

Die Software half bei Entmietungen, Enteignungen, bei feindlichen Übernahmen, weil sie die Ängste der Mietenden oder Besitzenden im Vorweg sehr genau berechnet hatte. Und die Schwächen der Verhandlungsgegner zu kennen, war immer ein geldwerter Vorteil.

Anderes Thema.

Das suchterzeugende Eloxier des Immobilienentwicklers war die Entdeckung. Wie Kolumbus auf seiner rastlosen Suche nach neuen Geldquellen fand er leer stehende oder von irgendwas bewohnte Gebiete in Gegenden, die sich für eine Großüberbauung eigneten. Wie diese hier –

In einem beschaulichen, schwach besiedelten Gebiet in der Schweiz. Subtropisches Klima, Palmen, mediterrane Pflanzen- und Tierwelt, kaum Menschen. Hier plante der Immobilienentwickler eine Jahrtausend-Überbauung mit über neunhundert Wohneinheiten im absolut gehobenen Preissegment, Hubschrauberlandeplatz, Wellnesshotel mit angegliedertem Gesundheitszentrum. Es galt lediglich, ungefähr hundert Trottel zu enteignen. Das war fast zu einfach gewesen, um Spaß zu machen. Die Leute hier waren so verarmt, dass sie schon bei minimalen Beträgen bereit waren, ihre Heimat aufzugeben.

Nun lebten nur mehr ungefähr zehn Menschen in dem Dorf im Tessin.

Einer davon

war Pedro,

Gesundheitszustand: vermutlich noch fünf Jahre

Kaufkraft: lächerlich

politische Ausrichtung: Kommunist

Gefährderstufe: null

der fast alleine in Corcapolo im Tessin lebte.

Die meisten Leute in dem Dorf waren tot oder weggezogen, weil es in der Umgebung keinen Laden mehr gab, keine Jobs, weil die Landwirtschaft hier aus Mini-Tierhaltung und ein paar Hängen bestand, und »biologisch« oder »nachhaltig« geführt wurde, weil man hier weder große Flächen mit Pestiziden bestreuen noch Monokulturen anlegen konnte. Keine Massentierhaltung – kein Geld. Subventionen waren hier nicht vorgesehen, und so machte Pedro sein Ding, das heißt, den ganzen Tag arbeiten, ein paar Sorten Gemüse nach Jahreszeiten wechselnd auf einem kleinen Acker anbauen und Wildblumenheu vom Steilhang einbringen, damit ein paar Ziegen füttern, melken, Käse herstellen und das Zeug dann auf dem Markt verkaufen. Falls das schiefging, hatte er Vorräte für den Winter.

Meine Güte, die Winter. Es regnete oft, und man sah die Sonne von Dezember bis Februar nicht, die Berge waren zu hoch und das Haus feucht und kalt. Dabei –

war es einmal hübsch gewesen hier. Als die anderen noch da waren, als Pedro alle Nachbarn kannte wie in einer netten Hippiekommune. In den letzten zwanzig Jahren hatte einer nach dem anderen sein Haus an einen Immobilienentwickler oder an Leute aus der Stadt verkauft, die dann pittoreske Ferienhäuser daraus gemacht hatten. Mit Lochstickerei-Vorhängen. Und Darkrooms im Keller, in denen sie sich fisten konnten. Dachte Pedro manchmal. Er konnte diese Paare nicht ausstehen, die hier zwei Wochen im Jahr herumstromerten, die Finger immer Grashalme streifend, in Leinenkleidung. Sie machten Fotos von Pedro, weil er so authentisch war. Ab und zu schmierte er Tierkot unter ihre Türklinken. Okay, das war keine wirkliche Revolution. Aber lustig.

Pedro hatte Einschreiben an die Regierung geschickt, also an den Bauernvorstand, der immer wieder betonte, wie wichtig die Landwirtschaft war. Wegen der Selbstversorgung des Landes und der Tradition. Landwirtschaft stand für die Natur und einfache herzensgute Kinder, die Geißen streichelten. Wobei die meisten Lebensmittel in Afrika angebaut und von China besessen und importiert wurden.

Pedro erhielt keine Antwort. Vor drei Jahren hatte er zusammen mit anderen Freaks aus dem Tal gestreikt.

Es wurde nicht einmal in den lokalen Medien darüber berichtet. Ob alte Deppen wie er Honig und Rhabarber auf dem Wochenmarkt an Touristen in ihren Leinenklamotten verkauften, war komplett unwichtig. Das Schweinefleisch kam aus Rumänien oder Deutschland, es kostete einen Franken pro Kilo, der Honig kam aus Brasilien und kostete fünfzig Rappen pro Glas. Und so weiter.

Pedro, der jetzt aussah wie irgendein alter Penner, war noch vor Kurzem jung gewesen.

Er hatte seine Frau beim Agrarwissenschaftsstudium kennengelernt. Sie hatten zusammen dieses Grundstück gefunden, das dazugehörige Haus, einen Kredit aufgenommen und am ersten Abend, nachdem sie das Haus renoviert hatten, auf dem Boden Geschlechtsverkehr gehabt. Das war die Nacht, an die er sich immer erinnerte, wenn er weinen wollte. Dann weinte er. Das Dümmste, was ein einsamer Mensch tun konnte.

Nach dieser Nacht, damals, hatte sich die Sache nicht gut weiterentwickelt. Da gab es keine Romantik, denn die Arbeit war so anstrengend, dass die Leichtigkeit der beiden nach einigen Jahren verschwunden war. Seine Frau sah aus wie sechzig, als sie vierzig war. Sie aßen schlecht, aber organisch, sie machten keinen Urlaub und wurden zu alten Bauern, denen die Armut die Knochen porös gemacht hatte. Im letzten Jahr hatte seine Frau dann im Winter eine Lungenentzündung bekommen. Er saß mit ihr sieben Stunden in der Aufnahme des Krankenhauses der Kreisstadt. Während der Wartetätigkeit begann seine Frau, Blut zu husten, dann wurde sie von der Aspire-Health-AI ausgewertet. Mit Googles Hilfe war die Plattform weltweit im Einsatz – gewesen, bis sie von einem deutschen Unternehmer aufgekauft worden war.

Die Gesundheitssoftware speicherte die Krankheits- oder nennen wir es Gesundheitsdaten von ca. 60 Prozent der Bevölkerungen, ihre Einkommen, die Zahlungsmoral, Beruf, Alter, die Lebensdauer, und der zu erwartende Mehrwert wurde mit den Kosten der Behandlung abgeglichen. Danach wurde über die bestmögliche Behandlungstrategie entschieden.

Ein als Arzt verkleideter Facility-Manager trat zu den beiden und riet zu Tee, Honig und Wadenwickeln.

Pedro war mit seiner Frau zurück ins Haus gefahren, sie hatte hohes Fieber, Schmerzen, und sie war fast ohnmächtig, als er sie den Berg hinauftrug. Es ging dann noch eine Woche. In der seine Frau nicht sterben konnte in der kalten feuchten Wohnung, bis er ihr ein Kissen auf das Gesicht legte und dabei an die Nacht gedacht hatte, als sie jung waren und hofften, dass von nun an alles besser würde. Es war nie besser geworden, nur immer härter. Brutaler. Anstrengender.

Pedro hatte seine Frau an ihrer Lieblingsstelle begraben, weit unten am Fluss, zwanzig Minuten steiler Abstieg, bis man zu einem Plateau kam, auf dem der Boden dumpf klang und die Sonne scheinbar immer schien. Als er zurückging, sah er eine kleine Siedlung aus Containerhäusern. Kabel waren frisch verlegt, Satellitenantennen angebracht und hochwertige Küchengeräte standen auf der Wiese. Erstaunlich, dachte Pedro, denn außer ihm und seiner Frau kannte niemand diesen Ort.

Vielleicht, dachte Pedro, sollte ich mich einfach neben meine Frau legen,

dachte

Pjotr, der sich zur gleichen Zeit in London aufhielt.

Er hatte einen Schlafplatz unweit des Containers gefunden.

Eine Garage, die an einem Haus befindlich war, in dem die Besitzer vermutlich seit zehn Jahren verwesten. In der Garage roch es nach Tod. Ein Wohnmobil, das Pjotr als Schlafstelle nutzen wollte, hatte Schimmel angesetzt, Kisten mit feuchter alter Kleidung standen da und ein Schraubstock, in dem die Besitzer vermutlich ihre Genitalien eingeklemmt hatten.

Früher war das Paar, weiße, ältere Engländer mit großen Zähnen, in ihrem Mobil auf Campingplätze gerollt, um dort noch dichter neben Leuten, die ihnen glichen, zu schlafen und am Tag Nudelgerichte auf Gaskochern zuzubereiten und sich zuzuprosten. »Das ist die wirkliche Freiheit«, mochten sie gesagt haben.

Dann sind sie irgendwann gestorben, vermutlich waren sie in ihrer hässlichen Wohnung gestürzt und hatten dann einfach aufgegeben.

Nun standen die Reste ihres Lebens hier herum, bis irgendwann das Viertel überbaut werden würde.

Ein paar Stunden in der Nacht verließ Pjotr den Container, um schlafen zu gehen, nur dass er nicht schlief, sondern in dem stinkenden Hymer-Mobil auf der ebenfalls schlecht riechenden Matratze hockte und Leute bespitzelte.

Er hatte allen Jugendlichen, die in den europäischen Ländern an »der Sache«, wie er es nannte, arbeiteten, eine Mail geschickt, die im Anhang einen Zeitplan und ein bisschen Malware enthielt.

Mit den Trojanern hatte er sich alle ihre Bewegungen im Netz angesehen, sie ausgewertet, und im Anschluss hatte er die Biester unschädlich gemacht. Bei – fast allen.

Pjotr führte die Sicherheitsprüfung durch, weil er wusste, dass keiner der Freunde es sonst machen würde.

Sie würden die sogenannten eigenen Leute nie überprüfen, einem seltsamen Ehrenkodex folgend.

Sie vertrauten ihrem Gefühl.

Doch Pjotr wusste nicht, was das sein sollte. Ein Gefühl. Oder – ein Vertrauen, das sich nicht durch Mathematik und Technik begründen ließ.

Also –

Die meisten Aktivitäten auf den Rechnern der europäischen Hacker waren unauffällig.

Viele verdienten Geld mit Dienstleistungen auf Tor-Handelsseiten, sie boten Hacks an, einige Sexarbeitende waren zu verzeichnen, und natürlich gab es viele, die im Drogenhandel tätig waren. Was ein absolut ehrenwertes Gewerbe war. Fast alle Länder und deren Geheimdienste verdienten Milliarden damit. Mit Rauschmitteln oder durch Waffenlieferungen rund um die angeblichen Kämpfe gegen angebliche Kartelle und für den Kampf der Kartelle untereinander.

Die sogenannte Drogenpolitik war immer auch eine Rassenpolitik, die das sogenannte harte Vorgehen der Polizei in sogenannten sozialen Brennpunkten rechtfertigte. Für das Polizei und Militär noch mehr Waffen brauchten. Und die Bildung von Spezialeinheiten für Kriege gegen die eigene Bevölkerung. Und Kriege in drogenproduzierenden Ländern. Man konnte nie genug Kriege haben, womit sollten die Menschen sich sonst ihr Leben verkürzen. Die Zeitungen liebten Drogen, gaben sie doch immer Anlass für Clickbait-Gruselgeschichten von süchtigen Kindern, Verbrechen unter Drogeneinfluss. Und Clans. Üble Sache.

Wenn Regierungen nicht in der Lage sind, das Volk, das sie bezahlt, aus dem Elend zu holen, betäuben sich die Menschen, um es zu ertragen.

Viele hielten den Mist doch nicht mehr aus.

Die Jungen nicht, weil sie keine Freiheiten hatten, außer funktionierende neoliberale kleine Maschinen zu werden,

die Alten, also – die Vierzigjährigen, die alle den gleichen dumpfen Traum von einem Haus mit Garten geträumt hatten und sich in hässlicher Umgebung in der Jagd auf Nahrung wiederfanden, ohne dass eines der Versprechen des Kapitalismus eingelöst worden war.

Pjotr fand bei fast allen ähnliche anarchistische Aktivitäten – einige verseuchten die Endgeräte von Kapitalisten mit Würmern, andere verdienten ein wenig mit Bot-Armeen, die Spielkonsolen und scheiß Sneakers am Verkaufstag in großen Massen aufkauften und teurer weiterverkauften. Spaßvögel foppten Bots, die die Handelsplattformen nach Begriffen wie XFX AMD Radeon RX 580 4GB 2048S oder Sapphire AMD Radeon RX 580 durchsuchten.

Um Grafikkarten für das Cryptomining zu horten.

Leider kauften die Bots statt der Karten dann einfach Papier, auf dem die Bezeichnungen aufgedruckt waren.

Fast alle seiner ÜberprüfungskandidatInnen waren im Kampf gegen Autoritäten, gegen Überwachung, sie hackten Behörden und Pässe, sie machten Eingaben bei den Verfassungsgerichten. Versuchten, die Massen aufzuklären, und alle zusammen waren

gescheitert.

Wie auch immer. Pjotr hatte nur zwei Verdachtsfälle, bei denen er seltsame, immer wiederkehrende Bewegungsdaten fand, die auf eine Anstellung schließen ließen, er fand Reste von Netzwerkprotokollen, die auf die Entfernung der alten BKA -Software, Remote-Communication-Interception-Software,

schließen ließen, einige schlampig verschlüsselte Korrespondenz und einen vollkommen anarchistenuntypischen Hintergrund auf zwei libertären Universitäten.

Die Erbärmlichkeit der Cyberaktivitäten war eigentlich ein klares Indiz für eine Mitarbeit bei einem Geheimdienst. Pjotr mit seiner sehr schlechten Menschenkenntnis fand die beiden Schweizerinnen von Anfang an seltsam. Sie waren erst vor einem Jahr in Hackerforen aufgetaucht und wirkten irgendwie – unecht. Mit ihren Doc Martins und den grün gefärbten Haaren. Ihre Nägel waren zu sauber und ihre Augenringe zu plakativ.

Pjotr hatte seinen Plan B aktiviert.

Die Brigade aus Norditalien hatte in der letzten Woche die gesamte Infrastruktur des neuen Hauptquartiers im Tessin, in das die Freunde bald ziehen würden, ausgetauscht. Und dabei entdeckt, dass in die Dächer der Container, die aus strahlendurchlässigem Material bestanden, Überwachungskameras verbaut waren.

Nun war die Siedlung wie neu. Es gab saubere Sendemasten, neue lustig manipulierte Überwachungskameras, die Container waren wieder aus abhörsicherem Metall und die Kabel neu verlegt worden.

Die Trojaner auf den Geräten der beiden Schweizerinnen programmierte er um. Sie würden sich, falls die mit dem Netzwerk einer Behörde in Kontakt kämen, ausbreiten wie –

ja, wie ein Wurm sich eben ausbreitet.

Pjotr hatte es nicht mit Bildern.

Er sagte keinem etwas von seiner Entdeckung. Von seinem Plan B.

Er schlief ein in dem Wohnmobil, in dem vor dreißig Jahren irgendwelche Leute von Freiheit geträumt hatten.

Keine Ahnung,

wie Don in England die paar Jahre mit ihrer Weiterentwicklung verbracht hatte.

In der BürgerInnendatenbank des MI 6, das alle Daten sicher und geschützt in einer Palantir-Cloud lagerte, waren noch ihre alten Personenangaben, die mithilfe des Cambridge-Analytica -Systems entstanden waren, gespeichert:

Gefährderpotenzial: hoch

Ethnie: unklare Schattierung von nicht-weiß

Sexualität: homosexuell, vermutlich

Soziales Verhalten: unsozial

Familienverhältnisse: ein Bruder, Mutter, Vater – ab und zu, aber eher nicht

Inzwischen war – Don kaum gewachsen. Und ihre Freunde hatte sie seit Langem nicht mehr gesehen.

Don, Peter, Hannah und Karen. Die damals ihre Zeit nach der Schule und an den Wochenenden gemeinsam verbrachten. Sie hatten ihre Familie gefunden. Den Ort, der einer Höhle glich, die transportabel immer bei ihnen war. Sie hatten einander erkannt. Als Außenseiter, als Randgruppenerscheinung, als Aussätzige, und das war erstaunlich genug, denn normalerweise erkennen sie einander nie, die am Schulhofrand Stehenden. Sie orientieren sich immer an der Masse, die Streber, Spinner, die zu Dicken, zu Dünnen, die Schwulen oder Verlausten, und sehen sich nicht als das, was sie sind: die Seltsamen. Jene – von denen die anderen, die normalen Kinder, noch Jahre später beim Betrachten alter Klassenfotos im Endgerät sagen werden: »Der – vergessen, wie er hieß, der Spinner –, ich weiß nicht, der war irgendwie komisch.« Bei der Gruppe in Rochdale war ein Wunder passiert, oder die Witterung war schuld, eine Laune der Umstände hatte sie zueinandergeführt, und es war nicht klar, ob sie durch irgendwas anderes verbunden waren als durch den Umstand, dass die Mehrheit sie befremdlich fand. Weil keiner ihnen gesagt hatte, was gut und böse war, hatten sie ihr einziges Gesetz verabschiedet: »Keiner wird uns mehr verletzen.« Das war natürlich Quatsch, denn Menschen waren dazu eingerichtet, einander zu vernichten. Sie konnten gar nicht anders, die Menschen, aber das wussten die vier noch nicht, die sich nicht einmal in der Gruppe die Schwäche offenbarten, ab und zu zu weinen, weil sie nicht mehr weiterwussten. Weil sie noch Kinder waren und manchmal einfach keine Ahnung hatten, wie sie das alles schaffen sollten. Sich ein Leben einzurichten und mit diesem Gefühl klarzukommen, dass keiner auf sie wartete. Und der Alltag. Meine Güte, nur nicht über den Alltag nachdenken. Immer längere Schlangen bei der Essensausgabe, immer mehr Schikanen beim Sozialamt, immer öfter Messerstechereien in der Schule, das kann einem zu viel werden, als Kind. Aber –

sie hatten sich gefunden und waren nicht mehr alleine. Die vier waren Freunde und sicher, dass sie bis an ihr Lebensende zusammenbleiben würden. Keiner würde sie je trennen.

Das war ein Irrtum gewesen.

Der letzte gemeinsame Höhepunkt war der Abend gewesen, an dem sie zusammen mit Ben und Kemal, Rachel, Maggy und Pjotr das System vernichten wollten. Und gescheitert waren. Es war unwichtig.

Es gab kein Wir mehr.

Don war alleine. Sie war jetzt zwanzig. Und die anderen irgendwo. Sie sahen, hörten, schrieben sich nicht mehr. Vielleicht hatten sie sich – auseinandergelebt oder waren nie Freunde gewesen, oder sie waren erwachsen, was ja meist heißt: ein Arschloch zu werden. In Erwartungen anderer zu funktionieren. Man sagt: Verantwortung übernehmen.

Dons Muskeln waren gewachsen, die Haare standen immer noch in die Luft,

immer noch sehnte sie sich nach einem Menschen, den sie lieben könnte.

Immer noch glaubte sie an –

nichts. Nicht mehr daran, die Welt zu retten.

Nicht mehr, dass irgendetwas auf sie warten würde.

Da draußen.

Vor dem Fenster, Erdgeschoss, gute Sicht auf eine Kreuzung, beobachtete sie, was vom Leben übrig geblieben war.

Menschen, die durch ständige unlustvolle Erregung den Verstand verloren hatten, die ihrem Untergang in ratloser Hysterie beiwohnten und nicht mehr schlafen konnten, wozu auch, wenn man im Netz nach Alternativen suchen kann. Zum Beispiel nach Sex. Das Netz war zu 90 Prozent eine Plattform für Sex, den Männer und Frauen am Rande des Wahnsinns anboten, den aber keiner kaufen konnte, weil alle kein Geld hatten, beziehungsweise – sich alle anboten.

Für Waren aus Billiglohnländern, oder Hass. Der war gut für das Geschäft – der half immer dabei, sich Land anzueignen, oder Bodenschätze, um eine Apartheid zu errichten oder Bürgerkriege zu befeuern. Bevölkerungen, die einander hassten, waren immer gut für das Wachstum.

Wenn Don die Schlafstelle verließ, dann um Selbstverteidigungskurse zu geben.

Sie unterrichtete verängstigte Banker,

Programmierer und ausländische Milliardäre, die aus ihren zu heißen Heimaten in das angenehme Klima Englands geflohen waren. Oder wegen irgendeiner Steuer. Oder den Strafverfolgungsbehörden.

An Tagen ohne Jobs lief Don, bis sie wieder in die Schlafstelle konnte, durch die komplett von KleinbürgerInnen befreite Innenstadt. Die war ein Museum geworden, durch das lautlos die Wagen ölfördernder Fünftwohnungsbesitzer glitten.

Einige unsinnige Trüffelläden und Kaviarimbissstuben gab es noch, ein paar Geschäfte, die internationalen, oder eher – asiatischen Ketten gehörten, in denen überall der gleiche schlechte Salat und Insekten-Burger und Sandwiches minderwertiger Qualität verkauft wurden für die wenigen Touristen, die es noch gab, seit das Herumgereise für die Unterschicht entfallen war. Für die kleine Mittelschicht der neuen Menschen war es wieder so wie in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrtausends, als man einmal im Jahr verreiste, meist mit dem Pkw oder dem Zug. Die wenigen Touristen verschwanden nachts zum Schlafen in den Süden der Stadt in Kapselhotels.

Danach war die Innenstadt leer – und leise. Nur ein paar Drohnen kreisten über den Palästen, in denen

sich die Steuerflüchtigen verbarrikadiert

hatten.

Da zum Beispiel

saß

der Milliardär

Einkommensquelle: ererbtes Vermögen; mit Immobilien, Beteiligung an Banken, Pharma- und Transportunternehmen vermehrt

Hobbys: Partys, Drogen, Sex, alte Hollywoodfilme und Weinen

Familienstand: allein lebend

Gesundheitszustand: einsam, Psychopharmaka-Missbrauch, Nervenleiden, Reizdarm

zur gleichen Zeit in London und kontrollierte Nullen. Er bemühte sich, dabei zu lächeln.

Es war eine ungewohnte Muskelaktivität in dem engen Gesicht, dem Abschluss seines verkrampften Körpers, bis zu den Zehen zusammengezogen voller Angst. Die ständig mit ihm war.

Zurück zu den Nullen.

Es gab verdammt noch mal keine Millionäre, die sich ein Haus in Belgravia leisten konnten. So ein schönes weißes Haus in dieser absolut toten Ecke, inmitten absolut toter Ecken. Wer irgendwie angemessen leben wollte heute, wer sicher leben wollte, verfügte dank ausgeklügelter Finanzprodukte und Sparmodelle oder einfach wegen der Inflation über verdammte Milliarden. Und erstaunlicherweise –

machte das keinen Spaß mehr, diese Milliarden, die erzeugten kein Gefühl der Unsterblichkeit oder der Überlegenheit, oder mehr als ein Mensch zu sein, wenn der Vergleich zu normalen Menschen fehlte, weil man diese verdammten Menschen aus dem Alltag entfernt hatte. Wegen der Sicherheit.

Aber – es war noch beunruhigender, den Pöbel irgendwo in der Unsichtbarkeit zu wissen,

wo er sich zusammenballte und irgendwas ausheckte, auf Naziplattformen, alles Nazis, obwohl –

die waren noch nie Feinde des Kapitals gewesen.

Der Milliardär lebte seit zehn Jahren in London und es war immer langweiliger geworden, denn es gab keine Gruppen mehr, in denen man sich traf oder feierte, keine gemeinsamen Sexpartys mit den Arabern, oder Wodkanächte.

Es gab Angst. Und Krieg. Es war, auch in seinen Kreisen, unerfreulich geworden. Irgendeine Endzeitsache, in der jeder versuchte zusammenzuraffen, was möglich war.

Der Milliardär würde bald verschwinden. Auf eine der schwimmenden Inseln, die gerade in Milliardärs-Kreisen der neue Investmenthit waren.

Unten im Erdgeschoss wachten vierundzwanzig Stunden lang zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer. Die Tür war aus meterdickem Stahl, die Fenster schusssicher, die Minen im Vorgarten nachts aktiviert, der Zaun mit Hochspannung gesichert. Das Haus befand sich natürlich in einer Gated Community, die Ein- und Ausgänge waren verbarrikadiert und bewacht, wie in einem Hochsicherheitsgefängnis.

Alle hier im Viertel waren in ständiger Bereitschaft. Sie ahnten, dass es nicht gut enden konnte. In einer Zeit, in der es nur noch sie und Dienstleister gab –

die Horden, die jetzt noch mit ihren hässlichen Gesichtern und den hässlichen Kleidern und den schlechten Zähnen und dem Hass, der offensichtlich war, am Tag in den Innenstädten der Welt arbeiteten, die kochten, putzten oder Bauarbeiten durchführten und dann zur Nacht verschwanden. An Orte, an denen kein Reicher jemals gewesen war, in Vororten, Schlafstätten, den Unterbringungen. Sie hatten Angst, sich irgendeine Krankheit zu holen oder einen Stein an den Kopf zu bekommen, die Reichen, denn die Stimmung war

gereizt.

Sie fürchteten die 90 Prozent, die Welt der Moral, der Mieten, die Welt des Glaubens an Gerichte, Gesetze, Medikamente, Sommer- und Winterzeit, an die EU , daran, dass Pizza und Burger etwas Schmackhaftes seien. Die Leute, die an einen Sozialstaat glaubten, und PolitikerInnen, denen man vertrauen konnte, und die verdammte Hoffnung, dass man es irgendwann aus diesem Kreislauf schaffte, wenn man sich nur genügend anstrengte.

Und es gab seine Leute, die sich mitunter trafen, um Visionen auszutauschen. Die sich, kurz gesagt, auf eine Vision zusammenfassen lassen konnten: Es hatte sich in den letzten hundert Jahren herausgestellt, dass demokratische Systeme keinerlei Vorteil für Kapitalinhaber brachten.

Der Milliardär hatte den Brexit mitfinanziert, die Tories dito, in seiner Heimat, wo auch immer sie war, unterstützte er Diktatoren oder einfach Männer, die von Leuten wie ihm unterstützt wurden. Er war ein ganz normaler Mensch,

der wegen seiner Angst Atembeschwerden hatte,

und das hatte doch keiner voraussehen können.

Dass Vermögen so wenig Spaß machen konnte.

Es war dunkel und

Don saß

zur gleichen Zeit auf ihrem Bett in London in einem der neuen Work-Sleep-Places. Was die Barbershop-Variante eines Obdachlosenheims war. Einfach mit IKEA -Möbeln.

Die Obdachlosen der neuen Generation konnten sich hier stundenweise einmieten und so tun, als arbeiteten sie an einem Projekt. Die Sache lief so gut, dass der Erfinder mit seiner Idee an die Börse gegangen war und nun Aktionäre über die Preise entschieden. Und das war doch lustig, dass Leute in Konstanz, die in einen Rentenfonds einzahlten, an der Obdachlosigkeit britischer Verlierer verdienten.

Don lag in der kleinsten Einheit, ohne Schreibtisch, aber mit einem kleinen runden Fenster in der Schlafkoje. Davor, wie erwähnt, eine Kreuzung, auf der Menschen mit ihren Gehirnen liefen, in denen keiner mehr zu Hause war.

Draußen wurde es dunkel. Don versuchte einzuschlafen und an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel an …

gerade als Don sich an früher und an ihre Gruppe erinnern wollte, das Einzige, was ihr zur Bebilderung von Zufriedenheit einfiel, gab es ein Geräusch auf der alten, nie mehr benutzten Briar-App, auf der seit Jahren keine Nachricht mehr eingegangen war.

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Don saß auf ihrer Matratze und hörte ihr Herz zu laut.

Es geht wieder los, dachte sie,

und

zur gleichen Zeit war Kemal zum letzten Mal auf dem Weg zu seinem Haus in Hackney. Der Container war leer, die Fingerabdrücke entfernt. Es war ruhig. Kein Leben mehr auf der Straße, keine Kneipen, Waschsalons, 24-Stunden-Shops, keine Inder, Polen, nichts. Außer Streifenwagen, Wachpersonal. Die neue Mittelschicht hatte sich in ihren Brownstone-Buden verbarrikadiert.

Man kann zusammenfassend sagen, dass sich das Land in den letzten Jahren nicht so gut weiterentwickelt hatte. Schottland und Irland waren nochmals besetzt worden, also ohne sie zu besetzen, die Märkte hatten es geregelt, jetzt waren alle zusammen arm. Seit das Land ein Steuer- und Anleger-, ein Steuer- und Betrügerparadies geworden war wie – sagen wir – Panama, wirkte es

wie ein betrunkener Partygast, der auf einem VIP -Empfang auf den Tisch sprang und die Unterhosen zeigte. Alle blickten kurz auf und vergaßen im selben Moment, was sie da gesehen hatten. Großbritannien war von der Landkarte der Bedeutung verschwunden.

Es hatte die Wichtigkeit von Portugal, vielleicht, nur ohne das Wetter, oder Moldawien, aber mit Reichen.

Die sogenannte Gesellschaft war wieder auf dem Stand der guten alten Zeit, nach der sich alle so gesehnt hatten, wenn sie weiß waren, die Vergangenheit, als es das vereinigte Reich gab, das ein Viertel der Weltbevölkerungen umfasste. Als das Land der stolzeste und größte Opiumdealer der Welt war, der China erledigt hatte, sich Hongkong einsteckte, bis die Deutschen Englands Träume, eventuell die gesamte Welt der Krone zu unterwerfen, zum Platzen brachten.

Amerika rettete die Briten vor den Nazis mit zweitausendsiebenhundertzehn Schiffen, die binnen vier Jahren in achtzehn neuen amerikanischen Werften gebaut wurden, um Nahrung, Waffen und andere systemrelevante Produkte auf die Insel zu bringen. Dumm gelaufen für die Nazis und ihre Idee, die Insel auszuhungern. Sie hatten überlebt, die stolzen Briten, aber –

Danach gab es kein englisches Weltreich mehr, und die USA waren die Herrscher der Welt. Kemal liebte diese Geschichte, die er für die Basis der erfreulichen Entwicklungen des Königreiches hielt, und nun stand die Neuordnung kurz vor ihrer Vollendung.

Kemal und seine Leute nannten sie: Neofeudalismus.

Also, wie immer. Aber modern. Mit Internet. Mit Fortschritt.

Apropos –

Kemal hatte in den letzten Wochen viel gelernt. Er könnte sich jetzt ein Schild mit dem Titel »Wirtschaftsexperte« – an die Tür hängen. Aber wozu sollte das gut sein? Keiner, der über Kapital verfügte, vertraute Experten, oder Beratern. Oder Geld.

Der große Bullshit war schon vor Jahren aufgeflogen. Wachstum. Zum Wohle aller. Die Märkte, Trickle-Down-Effekt, so schöne Wortschöpfungen, die nichts meinten. Also nichts Angenehmes für die Massen.

Aber wen interessieren die schon. Die wirklich Reichen, die Kapitalisten, die Plattformheinis, die es geschafft hatten, aus der Welt ein vereintes Irrenhaus zu machen, die weltverbindende Einheit der durchdrehenden Hassblasen, die sie mit ihren Scheißcodes gegründet hatten, diese neuen Könige des Unterganges verteidigten ihren Besitz wütender als je zuvor.

Das Einzige, was sie scheinbar vom Nirwana trennte, von der umfassenden Seligkeit, Geld zu fressen, auszuscheiden, Vermögen zu atmen, war ihr verdammt limitierter Körper.

Kemals Körper war schwer. Er merkte mit jedem Schritt, dass er nicht an den Erfolg einer Revolution glaubte. An die Umsetzung einer Comicidee, in der ein paar Mangafiguren gegen das Böse in der Welt antraten – und gewannen. Sie wollten gegen eine Übermacht kämpfen, die nicht mehr kämpfen musste, da sie schon lange gewonnen hatte. Die Milliardäre, meine Güte, irgendwie musste man sie ja nennen, hatten die Politik und damit das Militär, die Waffen und. Das würden sie nicht lebend überstehen. Kemal sah sie am Boden liegen, seine Freunde. Erschossen oder erschlagen, oder in Schauprozessen hingerichtet.

Es war nachts um 3.15 p.m., als er Ben eine Nachricht schickte.

Ich kann das nicht,

dachte Karen,

sie hatte schon lange keinen Spaß mehr. An ihrem großartigen Verstand, ihrem Genie, von ihrer Liebe zur Systembiologie war nichts mehr geblieben. Schauen wir uns schnell ihren alten MI 6-Eintrag an:

Karen

Sexualität: heterosexuell

Intelligenz: hochbegabt

Krankheitsbild: Neigung zu Zwängen (Lichtschalter ablecken)

Konsumverhalten: mangelhaft

Ethnie: Gendefekt

Familiärer Zusammenhang: zwei Brüder, alleinerziehende Mutter

Karen war damals die Klügste in der Gruppe gewesen. Nicht, dass sie mit Don, Hannah oder Peter in einem Wettbewerb gestanden hätte. Es hatte sie einfach keiner verstanden. Auch die Hacker, die Freunde, mit denen sie später die Welt retten wollte, hatten ihre Gedanken nicht wirklich begriffen, oder die Sätze, mit denen sie versuchte, die Gedanken sehr einfach zu vermitteln. Keiner verstand zum Beispiel, warum sie Adenoviren ins Trinkwasser eingebracht hatte. Oder warum sie sich nach ihrem gescheiterten Aufstand als Erste hatte chippen lassen. Dabei war es so einfach: Karen wollte studieren. Um forschen zu können. Sie hatte den Kampf aufgegeben. Aber in cool. Noch während ihres ersten Studienjahres war sie von der Entwicklungs-Abteilung eines Pharmaunternehmens entdeckt worden. Während sie dort im modernsten Entwicklungslabor, das sie jemals gesehen hatte, mit einem abenteuerlich hohen Gehalt am Einsatz von Nanotransportern zur Krebstherapie arbeitete, erlebte sie den absoluten Rausch der scheinbaren Unendlichkeit von Mitteln und des eigenen Denkens. Die Entwicklungen, die sie weiter perfektionierte, waren vorher jahrelang an Universitäten erforscht worden, und nun, da die Vollendung der Forschung bevorstand, übernahm die Privatwirtschaft. Die Pharmaindustrie war das Endargument in der Rechtfertigung des Aktienmarktes. Dem Satz »Ohne Anlegende gäbe es weder Entwicklung von Medizin noch einen Fortschritt in der Vision unbegrenzten schmerzfreien Lebens« konnte kaum jemand mit dem schwachen Argument der Verstaatlichung und des Gemeinwohls energisch entgegentreten. »Wussten Sie, dass Menschen selbst 1895 noch wegen eines schlecht verheilten Knochenbruchs und daraus resultierender chronischer Entzündungen verschieden?«

Ruhe in der Gesprächsrunde.

Karen befand sich im ersten Jahr ihrer Arbeit in einem Zustand der Dauererregung. Sie forschte in dieser Zeit an natürlichen Bots, marinen Bakterien, die medizinische Wirkstoffe direkt zu den kranken Zellen transportieren sollten. Der Magnetococcus marinus verfügte über ein Magnetosom, das sich am Magnetfeld der Erde orientierte. Sie bewegten sich an magnetischen Feldlinien in Richtung geringer Sauerstoffkonzentrationen – egal.

Karen legte Millionen dieser Organismen als Nanovehikel zusammen und stattete jede Bakterienzelle mit künstlichen Nanoliposomen aus, die mit Krebsmitteln beladen werden konnten.

Die kleinen Transporttruppen wurden in Tierversuchen in Nähe von Tumoren gespritzt und mit einem künstlichen Magnetfeld bewegt. Großartig!

Karen spürte sich so wenig wie möglich, sie lebte nur in ihrer Arbeit, im Zustand eines andauernden Flows, umgeben von Leuten wie sie selber, abgeschirmt von der vulgären Außenwelt, von Politik, Klima, all dem Menschenzeug.

Aber.

Kurz bevor die ersten Tests erfolgreich beendet worden wären, passierte Erstaunliches –

Eine Gruppe von Robotik-WissenschaftlerInnen, die für eine Abteilung des Staatsschutzes tätig war, übernahm Karens Labor, ihre Unterlagen, und die ihrer KollegInnen. Und die Forschung. Die ForscherInnen um Karen und sie selbst wurden einem anderen Arbeitsgebiet zugewiesen, sie mussten ihre persönlichen Dinge in einen Karton legen, der sorgsam durchsucht wurde. Ihre Umkleideschränke räumen, und ohne Angabe von Gründen endete Karens erster Ausflug in die Welt der Erwachsenen.

An jenem Abend, als Karen durch die Stadt ging – und wegen ihres von der Mehrheit abweichenden Äußeren eine distributive Mitteilung machte, die verächtliche Blicke erzeugte, die Karen schon seit Langem nicht mehr wahrnahm –, fiel ihr auf, wie stumpfsinnig diese – Realität außerhalb des Labors geworden war. Es gab keinen Schmutz mehr, keine kleinen Gebrauchthandy-Läden. Keine Fast-Food-Stände, keine jungen Menschen mit Bierflaschen vor Pubs, nichts – außer absurder Stille und der Abwesenheit von Lebendigkeit vor einer gepflegten Fassade.

Es gab Bänke, auf denen man nur sitzen konnte, nachdem man sie mit seinem Bluetooth verbunden hatte und eine Sitzfreigabe erhielt,

kleine elektrische Miniwagen, die man nur fahren konnte, wenn es der Punktestand des Ökokontos erlaubte,

smarte Läden, in denen man sich schlechten Kaffee und schlechte Sandwiches ziehen konnte, die direkt vom Verbraucherkonto abgebucht wurden, lauter geiles Zeug. Aber es schien sich nicht positiv auf die Stimmung der Passanten auszuwirken.

Es war der Tag, an dem sie um 3.15 p.m. eine Nachricht von Ben erhielt.

Na, so was!

Hier –