1 Jahr und 8 Monate vor dem Ereignis –

ist wirklich nichts los, dachte Ben. Er fuhr mit dem Transporter durch das Département Pas-de-Calais, die frühere Kohlegrube Frankreichs, das Herz der Region, stolze Bergleute mit Staublungen und so weiter.

Nun würde hier der digitale Hub des Landes entstehen. Irgendwann. Hatte jedes Land in Europa begriffen, dass Digitalisierung großartig war. Weil.

Es bald schon keine Halbleiterplatten und Hardware geben würde, die aus Asien kamen. Wenn die großartige Digitalisierung durch Rohstoffknappheit, Naturkatastrophen, durch Blackouts beschädigt würde oder auch nur ein paar Stunden ausfiele, wäre Schicht im Schacht, wie die Bergleute, Gott hab sie selig, gesagt hatten. Keine Container würden beladen, keine Flugzeuge fliegen, keine Nahrung gekühlt – egal.

Den Techfirmen, die während der letzten Krisen – dem letzten Hochwasser, den letzten Erdrutschen, Ausgangssperren, des letzten Feinstoffalarms, der Verlagerung des gesellschaftlichen Lebens in private Cluster, dem Homeoffice, dem Ende von Theater, Klubs und Tourismus, während der fast nicht mehr stattfindenden Reisen – innerhalb eines Jahres einen gemeinsamen Börsenwert erreicht hatten, der den Wert des gesamten europäischen Aktienmarkts überstieg, konnte man nur gratulieren.

Amazon war um 100 Prozent gewachsen, Microsoft um 30, Netflix schloss das letzte Jahr mit einem Gewinn-Zuwachs von 76 Prozent ab, und der Tech-Index Nasdaq war in den letzten Monaten um fast 50 Prozent angestiegen. Die Notenbanken kamen mit dem Gelddrucken kaum nach und Frankreich hatte viele Millionen an Fördergeldern von der EU erhalten, die nun – irgendwo waren.

Hier auf jeden Fall nicht.

Irgendwo im verdammten Nichts.

War Ben noch aufgeregter als sonst.

Gleich würde es losgehen. In ein paar Stunden wäre er in der Schweiz, zum zweiten Mal in den letzten Wochen.

Vor einigen Tagen hatte er schon den größten Teil der Hardware transportiert und das neue Zuhause der Freunde inspiziert. Er hatte sich um den Austausch der 5G-Masten gekümmert und an erschreckend einfallslosen Orten (Lampenanschluss, Steckdosen, Router und so weiter) zehn Kameras gefunden. Er vertraute immer auf RF -Detektoren und dem WLAN -Scan. Und im Anschluss begann der große Spaß.

Ben hatte eigene Software auf dem Stream-Gateway installiert, die Kameras ausgeschaltet und Hunderte Stunden eigenes Material eingespeist. Wer auch immer in Zukunft die Freunde beobachten würde. Sähe sie beim Pizzaessen und Minecraft-Spielen, beim Liegen und Dösen. Viel Spaß dabei. Ben war enttäuscht, dass er mit seinem Misstrauen Pjotr gegenüber recht gehabt hatte. Er würde ihn nun benutzen, –

apropos öde –

diese sogenannte Landschaft, die aussah wie

alle Landschaften in Europa, in denen nicht gerade eine historische Innenstadt oder ein früheres Urlaubsparadies befindlich waren, schien nie zu enden.

Hier hatte der Fortschritt zugeschlagen. Windparks, Schlachthäuser und industrielle Landwirtschaft. Im besten Fall. Oder gar nichts. Keine Läden, keine Straße, keine Tiere, keine Bäume, keine Kneipen, keine Restaurants. Da war fast jeder freie Platz gerodet, umgebaut, das Wachstum. Sie wissen schon. Das Wort, das eine Absurdität beschrieb, hatte sich als Propaganda in die Gehirne der Menschen gefressen wie ein Pilz, der sie fernzusteuern schien. Das Wachstum brauchte weder die Leute hier –

die in seltsamen Flachdach-Mehrfamilienhäusern darauf warteten, dass endlich ein Komet dem Ganzen ein Ende bereitete,

noch die Landschaft – die irgendwann mal für irgendwas oder für die Märkte wichtig gewesen war. In den leeren Shoppingmalls wurde früher gut gelaunt eingekauft, als es hier noch Arbeitsplätze in irgendeiner Scheißbranche gab. Als die Leute sich ein paar Sekunden Erregung leisten konnten.

Die Transformation war fast beendet. Nur in neu. Nur ohne Leute. Es brauchte sie nicht mehr, die ArbeitnehmerInnen. Unermüdlich produzierten die vollautomatischen Systeme Zeug –

Die alten Konzerne hatten sich der Menschen entledigt und nicht bedacht, dass keiner mehr Geld hatte, um die Flut von Produkten zu konsumieren.

Darum stellten alle jetzt Finanzprodukte her. Darum sah es hier so aus wie in Amerika:

Die Infrastruktur vergammelt, wer kann, verschwindet auf Inseln und in Bunker, auf andere Planeten oder Boote.

Vor einem Haus, das inmitten des Nichts stand, saß ein Mann und las Zeitung. Er hielt sie verkehrt herum und trug eine smarte Fußfessel, ein Produkt aus der Schweiz,

die ihn als auf staatliche Hilfe angewiesene Person auszeichnete. Als Subjekt.

Das System war auf Autopilot geschaltet –

beim

Mann mit der Zeitung,

keine Daten wegen Überschwemmung im Rechenzentrum Frankreich

der in Bousbecque an der Grenze zu Belgien wohnte, was egal war, denn er kam nie weiter als bis zum Discounter, vermutlich weil er so übergewichtig war, wie alle im Ort. Die Fertiggerichte von Nestlé, Unilever, Danone und der anderen großen Menschenverfetter, die 500 Milliarden

Euro oder Dollar oder Glasperlen jährlich nur mit Riegeln, zuckerhaltigem – Joghurt, Drinks, Snacks, Frühstückflocken, Pizzen, Würstchen, Nudeln, Mikrowellenzeugs machten, hatten an ihm ganze Arbeit geleistet.

Seit der großen Kampagne gegen Fett und Kohlenhydrate griffen alle zu fettarmen Broten und Keksen und Low-Fat-Nudeln und Mais und Weizen und Low-Fat-Wurst viel billiger als Obst und Gemüse. Der Mann mit der Zeitung schlich mit den offenen Beinen – wie das aussah! –

zum Sozialamt und zurück in sein Backsteinhaus, das er zusammen mit anderen unbetreuten jungen Männern bewohnte. Und das auch so aussah. Der Mann mit der Zeitung sah jedenfalls aus wie sechzig und war Mitte zwanzig, er hatte noch nie eine Arbeitsstelle gehabt oder eine Ausbildung, oder eigenes Geld, denn nicht einmal zum Drogenhandel taugte der Ort hier, in dem alle bereits verstorben waren. Der Mann mit der Zeitung hatte eine schlechte Schulausbildung hinter sich gebracht, die in den staatlichen Schulen nach sechs glücklichen Jahren beendet war. Er war dann wegen Erschleichung der Beförderung, sprich – mehrmaligen Schwarzfahrens wegen Geldmangel, im Gefängnis gewesen. Die privaten Haftanstalten verdienten sehr gut an den Menschen, die ihre Tickets nicht mehr zahlen konnten. In der Haft hatte er die offenen Beine wegen der Diabetes bekommen, mit denen er im Anschluss trotzdem immer wieder mal zu Arbeitseinsätzen gemusst hatte, um sich sein Überleben mit Scham zu verdienen. Der Mann mit der Zeitung hatte überflutete Häuser trockengelegt oder die Alten in der Ablagestelle für Alte.

Der Mann mit der Zeitung schlurfte nach draußen, starrte auf den leeren Platz, er starrte die Elektroautos an, die selten durch den Ort fuhren, in dem es außer zwei Supermärkten keine Läden mehr gab,

keine Restaurants, kein Kino, nichts

zum Betrachten. Er schlurfte und holte sich seine Wochenration Konservendosen und Weißbrot gegen die Vorlage von Essenscoupons ab, er aß das Zeug kalt, er spürte die Überwachung nicht mehr, die an seinem Knöchel angebracht war, sie war in das offene Bein eingewachsen, die Fußfessel, ein Schweizer Produkt der Firma GEOSATIS , die er wie jeder Sozialhilfeempfangende tragen musste, damit es nicht zur Erschleichung von Sozialleistungen kam.

Der Mann mit der Zeitung las die Zeitung, die

einem Konzern gehörte, dem fast alle Zeitungen in Europa gehörte, der wiederum einem alten Mann gehörte, der irgendeine Summe geerbt und mit dem üblichen Mix aus Steuervermeidung, Investment, Bestechung vermehrt hatte,

und bei der

der Journalist

Intelligenz: müde

Krankheitsbild: Neigung zu Zwängen (unter dem Bett schlafen)

Konsumverhalten: mangelhaft

Ethnie: weiß ist der nicht

Gesundheitszustand: hoffnungslos

arbeitete.

Die armen Medien, die zu einem großen Teil die Mitschuld an der Erschöpfungsdepression der Bevölkerungen trugen. Die armen Medien, mit den armen MedienmitarbeiterInnen, die auch Erschöpfungsdepressionen hatten, wegen der langen Arbeitszeiten, der Überwachung ihrer Bildschirme, der Strafpunkte, der Echtzeit-Clickstatistik, wegen der ständig drohenden Entlassungen, die meist auch erfolgten.

Die Digitalisierung und so weiter. Der Rest war Legende und Shareholder-Value. Immer mehr Titel wurden monopolisiert. Unrentable Erzeugnisse, Ressorts und MitarbeiterInnen im Sinne der positiven Rendite und Dividende wegrationalisiert. Die unterschiedlichen Erzeugnisse innerhalb der Konzerne liefern denselben Content, die Redaktionen unterliegen dem kapitalistischen Druck der Optimierung. JournalistInnen wurden entlassen, gegen unbezahlte PraktikantInnen ausgetauscht oder gegen – Schreibprogramme.

Viele Nachrichten wurden arbeitsprozesserleichternd von den PR -Agenturen und Thinktanks verfasst. Oder sie kamen direkt von den Bots aus den Unternehmen. Sie berichteten über Fortschritte von Google und Amazon, vom Kampf gegen den Klimawandel und dem Bemühen der Konzerne, den Kollaps der Kulturen mit Technologie und Marktwirtschaft zu stoppen.

Früher wurden diese Beiträge noch als bezahlte Anzeigen gekennzeichnet, aber inzwischen verzichtete man darauf, um die KonsumentInnen nicht zu verwirren. Und um sich den monetären Rettungszahlungen großer Konzerne wie Google, oder Stiftungen, als würdig zu erweisen. Die Zeitungen, von denen viele immer noch auf Papier erschienen, den LeserInnen über 60, also der Mehrheit der europäischen Bevölkerungen, geschuldet.

Dem fast verlorenen Überlebenskampf der auflagenstarken Zeitungen des vergangenen Jahrhunderts standen die ehrbaren Bemühungen von InvestigativjournalistInnen im demokratischen Netz gegenüber,

unabhängige Plattformen und neue autonome Medien zu schaffen. Sie endeten oft damit, dass die Projekte von einem Konzern aufgekauft wurden. Oder dass die Redaktionen mit Unterlassungs- und Verleumdungsklagen und endlosen Prozessen von der Arbeit ferngehalten wurden.

Der Journalist also wusste, dass die Überschriften, die er generierte, und die auf Rechenleistung basierten Inhalte mit Buzzworten angereichert werden mussten, die immer etwas mit Sex, Geld oder Tod oder Angst vor dem Tod oder Sex und Geldlosigkeit zu tun haben mussten, um betrachtet zu werden. Natürlich hatte er auch die Aufgabe – falls das Programm es versäumt hatte –, ein paar Randgruppen diskriminierende Formulierungen einzustreuen. Um einen clickverstärkenden Shitstorm zu erzeugen, der sich in den Ablenkungswaffen des Netzes fortsetzen und eine Rückkopplung zur Zeitung erreichen. Würde.

Die Nerven des Journalisten waren von der dauernden Panik stark angegriffen.

In wenigen Tagen würde er entlassen werden, denn die Headline- und Buzzword-Generierung erfolgte durch Algorithmen zu 99 Prozent effektiver und erreichte mehr User.

Computerlinguistik, du Teufelskerl.

Das ist Europa,

und hier ist sein politischer Mittelpunkt.

Dachte

Ben und näherte sich zur gleichen Zeit

Brüssel. Heimat der EU , der wunderbaren EU , die Zusammenhalt, unbegrenzten Waren- und Menschenverkehr und ein Stück weit Reichtum für alle garantiert hatte. So viel Hoffnung, so viel Jubel, als die Menschen von offenen Grenzen geträumt hatten und davon, dass man von einem Job in Italien direkt nach Serbien reisen konnte und Teil einer glücklichen Gemeinschaft sich umarmender Menschen zu sein, die sich total begeistert als EuropäerIn bezeichneten, was sie auch vor der Gründung der Institution waren, aber eben in uncool.

Die EU , die die BewohnerInnen in Europa spaltete,

noch bevor der Begriff der gespaltenen Bevölkerungen durch die Medien so oft verwendet worden war, dass er gar nichts mehr bedeutete.

Der eine Teil hatte es großartig gefunden, durch offene Grenzen zu rauschen, bevor die Grenzen wieder geschlossen wurden, um nur noch die angemessene Zahl von Niedriglohnarbeitenden in die reicheren Länder zu lassen.

Die anderen hatten Angst, ihre Armut mit Leuten teilen zu müssen, die wegen der großteiligen Unbewohnbarkeit der Erde zu ihnen kamen. Da waren zwei Milliarden auf der Flucht vor den Auswirkungen des besten aller Systeme.

Wo auch immer diese großartigen Auswirkungen zu besichtigen waren, hier nicht. In diesem bezaubernden Städtchen, in dem Ben eine Waffel zu essen gedachte.

Es war heiß. In den Straßen der Innenstadt liefen sehr langsam Leute mit dreiviertellangen ockerfarbenen Hosen und hochroten Gesichtern, die sich mit dem Blick zu Boden durch die heißen Straßen schoben, um nach etwas zu essen zu suchen. Irgendwas mit Zucker. Oder Fleisch, das ihnen ein kleines Gefühl schenken wollte. Jedes Gesicht sagte: »Ich habe aufgegeben, nehmt mich, entbeint mich.«

Die meisten Menschen hatten keine Kraft mehr, sich zu fragen, warum das alles passierte. All diese Katastrophen, die immer näher kamen, all die komplett unlogischen Erklärungen. Die täglichen Beleidigungen, von denen sie lasen, in einem Leben, das sich nur noch für sehr reiche Menschen zu interessieren schien. Sie hatten keine Lust mehr, sich im Netz zu erregen, zu demonstrieren, krank zu werden vor lauter Ohnmacht und Hass, sondern – sie hatten ihren Frieden gemacht.

Und hatten darum seit Jahren für all den Schwachsinn gestimmt: für Tories, Republikaner, für Diktatoren und Volltrottel, für Leute aus der Oberschicht, die den Untergang der Zivilisation – es gab ja nur noch eine, also die globale – im Sinne der Finanzwirtschaft vorantrieben.

In dem Café, in dem Ben in Erwartung seiner belgischen Waffel war, saß am Nebentisch –

der Lobbyist

Sexualität: sammelt Bilder von Nuklearunfällen

Gesundheitszustand: zwanghafte Angst vor dem Tod

Konsumverhalten: Topkonsument

Ethnie: pink

Familiärer Zusammenhang: irgendeine Frau, irgendein Kind

in diesem Stammcafé von EU -PolitikerInnen, AnwältInnen.

Vor den Fenstern – der Place du Luxembourg, das Viertel um das Parlament sah aus, als wäre es in einem Krieg zerstört und dann von stark alkoholisierten Personen wieder aufgebaut worden.

Der Lobbyist ist Anwalt, aber kein sehr guter, darum war er Lobbyist geworden, wie die meisten PolitikerInnen in der EU keine sehr guten PolitikerInnen waren, aber was hieß schon gut.

Hauptkunde des Lobbyisten war der Wirtschaftsverband der chemischen Industrie. Klingt großartig, Fortschritt und so weiter. Hallöchen – der Lobbyist nickte einer Frau zu, die beim Thinktank »Center of New Europe« arbeitet. Marktradikal, liberal, global und ExxonMobil-vernetzt. Gerade liefen mehrere Show-Prozesse gegen den Konzern. Als ob der Untergang durch einen gesenkten CO 2 -Ausstoß aufzuhalten wäre. Die Massen hatten sich in ihrer Panik darauf geeinigt, dass es langen würde, wenn ein paar Fabriken Filter einbauten, und zack – wäre die Welt wieder in Ordnung. Atom- und Gasstrom wurden als umweltfreundlich bezeichnet, das verbesserte die …

Egal. Menschen mit Vermögen wussten, dass nichts das Ende aufhalten würde, und dass es egal war, ob sie eine oder zehn Milliarden verdienen würden, aber mehr war besser, denn es war Teil ihres Organismus, daran zu glauben, dass ein MEHR sich positiv auf ihre Un-Sterblichkeit auswirken würde.

Der Lobbyist arbeitete ein wenig, während er seinen Tee trank. Er bereitete eine jener perfekten Pressemitteilungen vor, die den PolitikerInnen in den Kommissionen die Arbeit erleichtern. Es geht um eine Verlängerung von

BPA , DEHP , DBP , PBDE , PFASWTF ?

Kurz – Stoffe, die

in Spielzeug, Spülmitteln, Zahnseide, Zahnbürsten, in Rechnern, Plastikflaschen, Mundwasser, Körperseife, Duschgels, Deos, Gesichtspuder, Schminke, Nagellackentfernern, als Weichmacher in Möbeln, Kosmetika, Lebensmittelverpackungen, Düngemitteln, Desinfektionsmitteln und medizinischen Gegenständen

enthalten sind.

Und die den IQ der Menschen seit den Neunzigerjahren um viele Prozentpunkte gesenkt haben. Stichwort: Umwelthormone in der Schilddrüse.

Die Masse kann gar nicht dumm genug sein, dachte der Lobbyist, von dessen Konto in jenem Moment von einer großen Summe unklaren Ursprungs 10 Euro verschwanden,

irgendwohin.

Wo es warm war.

Es ging immer um alles.

Und darum war Freia zur selben Zeit

in Brüssel, bevor sie in die Schweiz weiterfliegen würde. Sie blickte ihrem Fluggerät nach, versonnen dem erregenden Sound der Helikopter-Rotoren nachspürend. »Rotors hélicoptères«,

murmelte Freia, sie hatte den Tick, unzusammenhängend Wörter in Fremdsprachen zu translaten. Sie sprach sechs Sprachen. Wenn man Bayerisch dazuzählte. Ein unangenehmer Wind wehte über die Reste der Zivilisation, die sie retten musste.

Freia betrachtete es als ihre Pflicht, Leute von Besitz, Rohstoffen, von Wasser und Körperkontakt fernzuhalten. Sie stammte aus der Generation, deren Vermögen noch auf der physischen Verwertung von Humankapital basierte. Heute spielten Arbeitskräfte und Konsum nur eine nebengeordnete Rolle, denn das Geld hatte sich verselbstständigt und erarbeitete den Wert, den Menschen ihm zuwiesen.

Lang lebe die »Wealth Defense Industry«. Kenner nennen sie »WDI «.

Ein starker Partner, wenn es darum geht, die Verbindungen von Vermögen und Vermögenden komplett unsichtbar zu machen. Stichwort: Treuhandguthaben und Investitionsvehikel. »Wir helfen dynastischen Familien« ist der Marketingspruch ihrer Berater. Die WDI hat dafür gesorgt, dass wenige Fleißige mächtiger sind als Länder, und wer mächtiger ist als Länder, bestimmt deren Gesetze. Und darum war Freia heute hier, denn ab und zu musste sie sich den Bürokraten zeigen, wie früher die Könige auf ihren Balkons dem Fußvolk.

Freia fuhr mit dem Lift in ihre Hotelsuite.

Es war ein sicherer Ort.

Sie stieg in die Kleidung, die ihre Assistentin ihr frisch gereinigt und aufgebügelt hatte. Einige Bekannte von ihr würden sich nie allein ankleiden, sie hatten diese Marotte vom britischen Hochadel übernommen. Doch für Freia war es unvorstellbar, dass ihre Assistentin ihr in die Unterhosen half, denn alles, was mit Ausscheidungen und dem Menschsein zu tun hatte, war Freia unangenehm. Sie wusste, wie Menschen rochen, die man zwei Tage nicht reinigte. Oder sagen wir – sie ahnte es.

Unterdessen hatte Freia die Kleider angelegt, die alle gleich aussahen, Cremetöne, Seide, Twill, Schnitte, die sich seit den Sechzigerjahren nur unwesentlich geändert hatten, erzeugt von Schneidereien in London, ergänzt mit hochpreisigen Kaschmir- und Seidenprodukten aus unpopulären familiengeführten Manufakturen in der Toskana.

Freia saß in fast absurd korrekter Haltung auf dem Sofa und wartete auf den Beginn des Treffens, das heute hier im Hotel stattfinden sollte. Die Suite sah aus wie alle Hotelzimmer, die sie kannte, überall auf der Welt. Das Interieur dem folgend, wie sich Interieur-Designer eine Mischung zwischen Hochadel und Kapitalistenanwesen vorstellten. Und leider hatten sie recht damit. Der Nachbau von Barock, Biedermeiermobiliar mit modernen, soliden, teuren Mitteln. Cremefarben, Gold, teure Tücher, teures Leinen.

Menschen wie Freia dachten nicht in Orten, sie waren in Zuständen, Transportmitteln und verschiedenen klimatisierten Räumen daheim. Wobei – was heißt schon daheim. Kaum einer ihrer Klasse fiele es ein, irgendeinen Ort oder ein Haus als sein »Daheim« zu bezeichnen. Man bewegte sich aus privaten Flugzeugen über Teppiche in gepanzerte Autos, in klimatisierte Hotelsuiten, in Tagungsräume oder in Landsitze mit unterirdischen Bunkersystemen. Man flog in Gegenden, in denen Häuser standen, die sich glichen, die gut bewachbar waren, und machte dort Geschäfte, spielte Golf, erlegte Tiere. Würde einer von ihnen das Wort »Urlaub« wählen, würde er wie ein Geisteskranker betrachtet. Urlaub war ein Konzept für die Angestellten, Arbeiter, kurz – Abhängigen. Gewesen.

So, jetzt aber los. Nach dem Meeting ist vor dem Meeting.

Freia war unter anderem Großaktionärin eines deutschen Waffenkonzerns, der für die Verteidigung der Sicherheit tätig war.

Heute galt es, EU -Aufträge

zu inspirieren.

Was immer mit Bestechung zu tun hatte oder

mit der Aussicht auf lohnende – Nebeneinkünfte.

Es war so unendlich langweilig,

und

zwei Stunden später

beschloss

die Vorsitzende

Sexualität: sapiosexuell

Intelligenz: hochbegabt

Familiärer Zusammenhang: mehrere Kinder, ein Gatte, muss ja

Hobbys: Puzzles

Gesundheitsstatus: schwere Schlafstörungen, Tablettenmissbrauch

der EU -Kommission, oder des Rates, oder vollkommen egal, nicht einmal die PolitikerInnen, die in der EU ihre Auszeit von der harten Weltpolitik nahmen und Lust hatten, für einige Zeit die rein neoliberale Luft in einem Verein, der eindeutig rechtskonservativ und überschaubar war, zu atmen, blickten den Aufbau der EU betreffend noch durch.

Die Welt war immer undurchschaubar gewesen. Das Gefühl dafür, dass die Welt in Millionen unterschiedlicher Kapitalanhäufungsinteressen mit unterschiedlichen schlechten Auswirkungen unterteilt war, hatte sich bloß verstärkt.

Auf jeden Fall.

Glitten die ersten Punkte auf der Traktandenliste problemlos durch die Abstimmungen.

Es handelte sich um den Umweltschutz, ja, Umweltschutz.

Ein wichtiger Punkt für die BürgerInnen der EU , die ihn in Eigenverantwortung erarbeiten würden.

Es wurde ein Naturpark in Litauen verabschiedet. Über den Abbau fossiler Energien würde in einigen Jahren energisch entschieden werden.

Der Mindestlohn in Europa wurde um 50 Cent erhöht.

Tosender Beifall.

Der Mieterschutz wurde zugunsten neuen Investments für die Wohnraumbeschaffung weiter aufgeweicht.

Der soziale Wohnungsbau –

Also.

Pestizide würden weiterverwendet, aber unter strenger Beobachtung und mit dem Aufruf zur Eigenverantwortung der Bauernverbände. Ökologische Landwirtschaft würde gefördert, also mit Wohlwollen.

Mobile Mini-Atomkraftwerke würden als Alternative zu den großen Meilern geprüft.

Tierschutz. Klar, jeder liebte Hunde. Sie waren die besten Freunde des Menschen.

Und die Jagd. War ein wichtiger Beitrag zum ökologischen Gleichgewicht.

Nächster Punkt.

Die fleischverarbeitende Industrie erhielt Subventionen, um das Leben der Wanderarbeiter aus dem Ostblock – lebenswerter zu gestalten.

Und nun wurde es interessant.

Die Vorsitzende hatte nach einem Jahr Vorbereitung und intensiver Gespräche mit Fachleuten ein Konzept für den Antrag, alle Armee- und Polizeiwaffen der europäischen Länder in Deutschland herzustellen, ausgearbeitet. Und nun wurde er – hoffentlich – verabschiedet. Für den bisherigen Großlieferanten von Waffen aus Frankreich galt es, eine angemessene Entschädigung zu finden. Irgendeinen Quatsch, den man mit Milliarden subventionieren konnte.

Nun wurde der CEO des bedeutendsten deutschen Kleinwaffenherstellers auf die Bühne gebeten.

Der Mann, der aussah wie 99 Prozent aller Männer in der Weltpolitik, mit irgendeinem Gesicht ohne Mund, stellte die neuen, großartigen, sicheren Waffensysteme vor.

Automatische Schnellfeuerwaffen, halbautomatische Sturmgewehre, Pistolen, scheiß der Hund drauf, waren endlich – smart. Was vorher nur in mobilen Raketenabwehrsystemen möglich gewesen war, wurde endlich Realität, denn:

Digitalisierte Waffensysteme hatten den Vorteil, dass man sie in alle Länder, auch nicht befreundete, exportieren konnte und zugleich gezielt blockieren, damit sie sich nicht gegen westliche Alliierte wie die NATO und ihre Partner richten ließen.

Das System würde dazu beitragen, die Verluste junger Menschen in den eigenen Reihen minimal zu halten.

Die so entschärften Waffen waren dann immer noch sehr attraktiv, aber schießen konnten sie nicht mehr. Also nicht in den Gebieten, in denen die Software das verhinderte.

Das hieße – man konnte wie gewohnt Maschinengewehre und Pistolen in ein – sagen wir bodenschatzreiches Land in Afrika verkaufen, um Bürgerkriege für alle Seiten fair zu gestalten, aber auch jederzeit aktiv in das Geschehen eingreifen und NATO -Truppen für die Sicherheit des Westens in dieses Gebiet schicken.

Hurra, Applaus, Applaus für den externen Softwareentwickler, das deutsche Wunderkind Marcel, der per Live-Chat zugeschaltet war.

Der Spezialist für Überwachungssoftware, Biometrik und Inhaber der One-Plattform –

begann seinen Beitrag auf Deutsch, um seine Verankerung in der Heimat des Waffenkonzerns zu verdeutlichen –

»… verwenden wir fertige Softwarekomponenten: OpenSSL …«

Und wechselte dann in ein technikaffines Englisch.

»The DevOps Ecosystem is also hosted in the cloud, which means that it can be stood up, turned on at any location and used for any program almost immediately.« Marcel endete seinen viertelstündigen Schwall an Fachbegriffen mit dem Aufruf:

»Rapid military software development for a fast-changing world.«

Oder:

Hurra, wir packen die Sicherheitssysteme für die neuen Wunderwaffen in die Cloud.

Der Großteil seines Vortrages hatte Marcels Assistentin aus der Unternehmens-Broschüre von »Raytheon Intelligence & Space«, das Marcel gekauft hatte, kopiert. War egal. Es verstand eh keiner, worum es ging.

Der CEO des Waffenherstellers blickte nach der kurzen technischen Einführung in leere Augen.

Die anwesenden PolitikerInnen, Altersdurchschnitt sechzig, Codingfähigkeiten: null, nickten.

Sie klatschten. Cloud. Geil. Waffen – immer geil. Neue Waffen, smarte Waffen – Hurra!

Nächster Punkt. China. Wir verdammen die Menschenrechtsverletzungen. Aber wir tun es leise.

Nächster Punkt.

Flüchtlinge. Pushback ein voller Erfolg. Wir lassen sie zur Abschreckung weiter im Meer schwimmen.

Leichen – super Sache.

Auf Wiedersehen.

Alle Anträge angenommen.

Freia flog weiter in die Schweiz,

und

Ben

fuhr zur selben Zeit nach dem kleinen Brüssel-Stop zurück in das französische Elend ins sogenannte französische Umland von –

Nichts.

Hier kamen die Gelbwesten her, die im restlichen Europa als Verschwörer und Nazis verhandelt worden waren, um eine Vorbildwirkung in den Anfängen zu ersticken. Die rassistischen Unterschichtler, der Pöbel. Die wegen den Benzinpreisen auf die Straße gegangen waren, anstatt mit Lastenrädern durch ihre Städte zu gondeln. Diese Unorte ohne Läden, Restaurants, Gemeinschaftsräume ohne Parks und Alleen, ohne Kindergärten und Arbeitsplätze. An den Sozialgebäuden, falls es sie gab,

wurde gespart. Nachdem die neoliberale Ikone Margaret Thatcher 1984 die Bauvorschriften gelockert hatte und die Bauaufsichten privatisierte. Seit Tony Blair den Wettbewerb mit der Auslagerung staatlicher Fürsorgeaufgaben an private Hilfsorganisationen belebt hatte und es sich für die Wirtschaft bewährt hatte, war Europa diesem Vorbild gefolgt.

Und nun – brannten die Hochhäuser, brachen die Balkone ab, die Decken ein, senkten sich Keller, wurden Gebäude bei den ständigen Überschwemmungen weggerissen.

Das war aber unwichtig, denn die Menschen, die hier lebten, waren nicht sexy. Sie genderten nicht korrekt, weil sie oft nur mäßig lesen und schreiben konnten, sie waren rassistisch, homophob, sie waren Kleinverbrecher, die wegen Benzinpreisen auf die Straßen gingen, weil sie nicht Ruhe geben und oder aussterben wollten. Was sie aber dennoch taten. Mit fünfzig war für die meisten Schluss. Jede kleine oder größere Katastrophe traf die Bildungsfernen, die Vulnerablen, die schwachen Teile der Gesellschaft, wie sie so oft genannt wurden, die Wütenden und Ohnmächtigen am stärksten. Hätten sie sich halt angestrengt.

Ben sah alte Gleise, eingefallene Fabriken, Häuser, die nicht freundlich von Bäumen verdeckt wurden, und wenige, unglaublich schlecht gelaunte Menschen, die scheinbar sinnlos auf den Straßen herumliefen.

Er dachte an eine Badewanne. Ben liebte Badewannen, in denen er sich gewichtslos und ein wenig wie eine Nixe fühlen konnte. Nixen waren vermutlich politisch unkorrekt, Sinnbild der verstümmelten Frau, des übel riechenden Unterteils, nicht fähig, wegzulaufen oder zuzutreten –

außerdem gab es keine Badewannen mehr.

Sie waren verschwunden, zusammen mit der Krankenversicherung, dem Arbeitslosengeld, von dem man leben konnte, dem Wohnraum, den man bezahlen konnte. Inzwischen

standen die Leute frierend unter kaltem Wasser – oder hatten Waschbecken. Unbehaglich, aber gut fürs Klima.

Ben hörte

keine Musik,

nichts sollte ihn von der Naturbetrachtung abhalten.

Da seht nur –

hundert Jahre haben genügt, um Täler zu betonieren, Brücken in Flüsse zu stellen, Gewerbehallen auf Wiesen zu klatschen, Wälder zu roden, um nach Kohle zu suchen, und zu bauen: Chemiefabriken, Pharmafabriken, Autofabriken, Düngerfabriken, Reifenfabriken, Betonfabriken, Hauptsache: produzieren, Hauptsache: Arbeit, Hauptsache: Strom, hurra, ein Atomkraftwerk. Zweiundfünfzig gab es allein in Frankreich, die Hälfte in einem schlechten Zustand. Dann halt.

Langsam wechselte die Schäbigkeit der französischen Nicht-Orte zur Abgefucktheit der Pariser Vororte. Die aussahen wie Geflügelfarmen.

Irgendwann, während irgendeiner Krise, waren Zäune zum Schutz der Bevölkerung errichtet worden, wegen der Unruhen, wegen irgendwas, und als die vorüber waren, blieben sie einfach stehen. Und trennten die riesigen Parkplätze in den Vororten, in denen Menschen in ihren Autos wohnten, von denen, die sich Wohnungen leisten konnten.

In der Innenstadt.

Da waren die eleganten cremeschnittenfarbenen Pariser Häuser, mit von Zeitschaltuhren choreografiertem Lichtdesign. Auch hier waren die Wohnungen Anlageobjekte, in denen nur die Amazon-Ring-Türspione lebten. Unermüdlich zeichneten die biometrischen Kameras jede Bewegung auf der Straße, den Plätzen, vor und neben den Häusern auf. Die Strafverfolgungsbehörden hatten ohne gerichtliche Verfügung Zugriff auf alle in der Cloud gespeicherten Daten. Aber das war auch schon egal.

Ansonsten gab es hier – nichts. Keine Kinos, Theater.

Keine kleinen Musikklubs, Kabaretts, Puppentheater, all die armen Schlucker waren – weg. Es vermisste sie keiner. Die Oper wurde von Flutlicht erhellt und einige Museen konnten sich halten, indem sie

Teile ihrer Sammlungen an Oligarchen verkauft hatten. Die Menschen stolperten auch hier hypnotisiert durch eine virtuelle Realität. Denn echt kann das doch nicht sein. Das kann doch mir nicht passieren, mochten die meisten denken. Und: Es geht so schnell. Warum ging es nur so schnell, dass das es für die meisten das Leben noch unangenehmer wurde?

Und –

Stunden später passierte Ben endlich die Grenze zur Schweiz.

Er parkte auf dem ersten Rastplatz hinter der Grenze. Klebte sein Mobilgerät, das außer den sorgsam gefälschten Dokumenten keine Daten enthielt, unter einen Lastwagen aus Rumänien.

Hallo Heiliges Land –