1 Jahr und 6 Monate vor dem Ereignis –,

dachte Maggy und sagte:

»Guten Morgen, Schweiz.«

Es war Sommer. Oder

vielleicht sah es auch nur so aus. Die Sonne strahlte aus den Menschen, drang durch ihre kleinen gepflegten Poren, die weißen gesunden Zähne, die dünnen, frisch gewaschenen Haare.

Die Leute waren zufrieden. Mit sich.

Und hatten sich nichts vorzuwerfen. Vom ärmsten Flecken Europas – zum reichsten Land der Erde in wenigen Generationen. Hut ab. Die EinwohnerInnen des Landes, das aus Zahnrädern und Gold errichtet war, fühlten sich immer im Recht. Also wie alle Menschen. Nur stärker. Sie konnten keine Fehler zugeben. Also auch wie alle Menschen, aber konsequenter.

Die Männer hatten ihre automatischen Armeewaffen unter dem Bett. Schweizer in Strumpfhosen beschützten den Papst und seine misogynen Kollegen, bezahlt von Schweizer Steuergeldern.

Die Frauen im Land durften seit ein paar Jahrzehnten wählen. Einige arbeiteten sogar.

In jedem Gespräch mit einem Touristen kam irgendwann der Punkt, an dem SchweizerInnen den interessanten Umstand erwähnten, dass ihr Land und damit irgendwie auch sie – früher sehr arm waren. Darum identifizierten sich die Menschen unterdessen mit den Milliardären, die wegen Repressalien von irgendwo geflohen waren. Es gab diese starke humanistische Tradition im Land.

In den ersten Tagen fühlte sich Maggy wie unter einer großen Glaskuppel, attraktiv abgeschirmt vom Rest der Welt. Surreal, wattiert, und gedämpft im Ton.

Sie stand auf dem Hochplateau, das irgendeine Erdbewegung aufgeschüttet hatte, und betrachtete die Natur. Den Brunnen, Zikaden, Palmen und Vögel, die fast höflich leise kommunizierten, und sollte es hier Wildtiere geben, dann trugen sie sicher Pantoffeln.

Die ausgebauten Container standen unter den Bäumen, geschützt vor Drohnen und Helikoptern. Hoffentlich.

Die Freunde wohnten in alten Steinhäusern mit Holzveranden, und das Arrangement sah aus wie ein Bild von Thomas Kinkade. Falls ein Fremder, ein Tourist oder Polizist auf die verwegene Idee kommen sollte, zum Fluss hinabzusteigen, an ihren Häusern vorbei, würde er sie für eine freundliche Gruppe naturverbundener Aussteiger halten. Einfach in jung. Einfach mit Hoodies. Wegen des Klischees.

Maggy war noch nicht angekommen in dieser Umgebung, in der alles, gegen das sie kämpften, weit entfernt wirkte.

Hier gab es scheinbar weder Elend noch Polizeigewalt, hier schienen keine Kapitalisten zu leben, vielleicht war das Land auch von freundlichen Kommunisten geleitet, die den Reichtum in den Kammern der Nationalbank gerecht verteilt hatten.

Zurück an ihrem Platz im Container dauerte es nur ein paar Berichte über den fortschreitenden Wahnsinn auf der Welt, bis Maggy die Naturdarstellung vergessen hatte. Sie änderte die Ziele zweier Transportzüge mit 5.56×45 mm /.223 Remington / 5.56 NATO / Gw Pat 90 Patronen, die morgen in weit abgelegenen, stillgelegten Kopfbahnhöfen enden würden. Während Züge mit Platzpatronen in der Nähe einiger europäischer Großstädte endeten.

Auch

Ben benötigte jeden Morgen eine Stunde, um zu wissen, wo er war. Und warum.

Eine Stunde.

In der er nur Natur betrachtete und seine Gedanken ohne Richtung durch sein Gehirn liefen.

Ben atmete tief ein –

Vierzig Minuten Luftlinie, wenn man langsam fliegt,

war vor Jahrzehnten der große Allen Dulles in Bern aktiv gewesen.

Bestimmt schweben noch winzige Partikel Allens in der Schweizer Luft. Noch ein Atemzug.

Ben hatte ein fast an Fantum grenzendes Interesse an den wichtigeren Teil der Dulles-Brüder. Der eine, Allen, hatte die CIA erfunden, John war US -Außenminister geworden.

Beide hatten Hitler gestärkt und ihr Leben der Bekämpfung des Kommunismus gewidmet.

Allen Dulles war direkt und indirekt an fast jedem Krieg gegen den Kommunismus beteiligt. Und – außer in Kuba – hatte er ihn überall besiegt. Er hatte in Italien die antikommunistische Democrazia Cristiana stark gemacht, in Frankreich half er, Gewerkschaften und kommunistische Verbünde zu zerschlagen, er war in Ungarn und Guatemala tätig, bestach Politiker, Militärs. Ehrenmänner.

Zurück nach Bern.

Dort hatte Allen sich mit dem C.G.-Jung-Freundeskreis getroffen, der später zur philosophischen Leitfigur der Sicherheitsbehörde werden sollte. Ben hatte keine Ahnung, warum Allen so in Vergessenheit geraten war. Nach seinem Bruder war wenigstens eine große Berliner Allee gleich neben dem Reichstagsgebäude benannt. Und der Dulles International Airport Washington.

Ben beendete seine Meditation mit der

Gewissheit, dass er auch ein bisschen genial war und die Welt retten würde. Egal ob die Welt danach fragte oder nicht.

Ben hatte gestern, als er zu müde war, um weiter in den Gesichtserkennungsdatenbanken nach Nazis zu suchen, ein wenig im Rechner gespielt, was Hacker so – im Rechner spielen nannten.

Zum Beispiel: die Datenbanken aller Telefonnummern, die in Aufzugssteuerungen von Schindler- und Otis-Aufzügen verwendet wurden, zu besuchen. Und herauszufinden, dass in den Steuerungen SIM -Karten steckten.

Mit einer Mehrfrequenzwahl konnte Ben sich einzelnen Aufzügen zuschalten, um dort zum Beispiel – das Licht zu löschen. Aber wozu sollte man das tun.

Interessanter war, dass man alle Gespräche in den Aufzügen mithören konnte. Ben versuchte es mit dem Deutschen Bundestag. Dort redeten zwei Männer über die Zubereitung von Schweinerouladen.

Und in der Zentrale des Schweizer Geheimdienstes –

redeten zwei Menschen unklarer Geschlechtszuschreibung –

»Hesch du scho vom Peer-to-Peer-Sischtem ghört?«

»Meinsch tiär?«

»Nei – die Gigglä machä s’Siburnätz u umgö s’intärweb.«

»Nei – niää.«

»iItem was ässä mär z’Mittag?«

Ben sah Rachel leer an die, gerade in den Container gekommen war.

»Was reden die? Ist das eine Sprache?«

Rachel sagte: »Das klang – rumänisch?«

Ben sagte: »Rumänisch beim Schweizer Geheimdienst?«

Maggy sagte, ohne vom Rechner aufzusehen – wie wahrscheinlich könnte es sein, dass beim Schweizer Dienst Schweizerdeutsch gesprochen wird.

Ben sagte, Rachel ansehend –

»Eine wunderschöne Sprache, oder?«

»Vergiss es«, sagte Rachel. »Ich lerne sicher nicht Schweizerdeutsch.«

Und außerdem –

Hatte Rachel schlecht geschlafen. Es war so still hier, dass sie immer wieder aufwachte und dachte, sie sei lebendig begraben worden.

Rachel verstand nur zu hellen Himmel, zu viele Autos, zu lautes Geschrei von Familien, und Nachbarn, die einander schlugen, weil irgendeiner doch schuld sein müsste, an

allem.

Rachel kannte nur den Geruch nach Fett und Fertigpizzen, verbranntem Toast und Müll, und sie hatte

sich daran gewöhnt, Menschen abzuwehren und Blicke und Geräusche und Musik und den Irrsinn,

den Kopf gesenkt, das Zählen von Schritten und Atemzügen, das leise Summen, wenn sie etwas nicht hören wollte – gegen was sollte sie das hier schützen – gegen den verdammten Fluss?

Nach Nächten, in denen sie panisch war, stand sie nun

bei Sonnenaufgang auf der Wiese, der Hochebene im Tal, keine Ahnung, wie man das nannte, aber es war nach ihrer Schätzung 4320 Quadratmeter groß und fiel am Ende steil zum Fluss ab, der zwischen riesigen glatten Steinen floss. Auf den warmen Steinen könnte man liegen, wenn man ein Mensch wäre, der solche Dinge liebte. Naturdinge, Eidechsen.

Morgens, wenn sie in den Abgrund sah und auf den Fluss und die Berge, versuchte Rachel Empfindungen in sich zu erzeugen, von denen andere berichteten, wenn sie in der Natur herumstanden: Demut, Endlichkeit, Liebe. Aber da kam nur – Unbehagen. Rachel war unvertraut mit dem Umstand, dass etwas einfach nur da war. Ohne etwas von ihr zu wollen oder etwas auf ihr zu zerschlagen.

Die Menschen werden so gereizt, wenn eines eine Aussage mit sich macht, die sie nicht verstehen, einen Menschen, der ihnen nicht gleicht.

Trotz ihrer Angst vor der Größe des Himmels stand Rachel doch jeden Morgen ein wenig länger auf dieser verdammten Wiese, um sich mit ihm vertraut zu machen, ehe sie in den Container verschwand.

Zu ihren Rechnern, die jetzt alle auf RCE über Torrent mit Peer-to-Peer- MixNet liefen.

Kein Server, den man entdecken oder vernichten konnte. Die Daten verschlüsselt und nur mit großem Einsatz von Zeit und Geld zu hacken.

Das neue, dezentrale Netz könnte das Ende der Monopole, die über die Daten von Milliarden herrschten, sein, es gäbe – keine mitlesenden Geheimdienste, und wenn, dann würden sie keine Plattformen vom Netz nehmen können, keine IP -Adressen zurückverfolgen.

Hätte, könnte. Noch war es nicht so weit. Noch konnten tausend Dinge schiefgehen, wie bei fast allen aktivistischen Versuchen, die Digitalisierung wieder zu ihren Grundideen des schrankenlosen Wissens-Zugangs und all dem utopischen Quatsch zurückzuführen.

Nach zwei Stunden am Rechner hatte Rachel das Druckprogramm für die Drohnen fertiggestellt und schickte es.

Zum Beispiel an

Nuria,

Geschlecht: Transfrau

Freizeitverhalten: Literatur, Insektenkunde

Interessen: Technik, Gamen, Volkstanz

Gefährderstufe: Majestätsbeleidigung

Familienzusammenhang: verheiratet

die zur gleichen Zeit

in der spanischen Hauptstadt mit der Produktion der ersten Drohnen begann. Die Biester waren nach Bauplänen der Perdix-Drohnen des Herstellers Modern Technology Solutions konzipiert. Intelligente Mikro-Drohnen, die in der Lage waren, ein Schwarmverhalten zu imitieren.

Die spanische Brigade, die auch Portugal mitbetreute, hatte die Drucker in einem Fuhrpark am Stadtrand Madrids, in der Calle de Aluminio, aufgestellt.

Während sie auf das Programm warteten, hatte die spanische Gruppe einen Haufen blödsinnige Hacks gemacht, über die nur Nerds lachen konnten.

Sie hatten Keylogger in die Netzwerke des spanischen Königshauses, der Regierung und einiger Mistfirmen wie zum Beispiel jener, die vermutlich an Julian Assanges Verhaftung mitbeteiligt gewesen waren, platziert. In der »Sicherheitsfirma« Undercover Global SL , in

Omega Capital und Ferrovial. MfG, ihr Deppen.

Solange man bekannte Sicherheitslücken aus Trägheit oder wegen der Überwachungsmöglichkeiten, oder weil man eine enge Beziehung zum Geheimdienst hat, offen lässt und so etwas Bizarrem wie Firewalls vertraut, kann die Zahlung von ansehnlichen Summen in Kryptowährung nur als kleineres Übel bezeichnet werden.

Nuria hat, wie jedes der zehnköpfigen Brigade, ihre eigene Radikalisierungsgeschichte. Bei Nuria war es der Tod ihrer Mutter. Die wegen eines schweren Beckenbodenbruchs in ein Krankenhaus geriet. Die Regierung hatte fast alle Krankenhäuser privatisiert, das heißt an börsennotierte Spitalketten verschenkt, die als Erstes alle Dienste wie Reinigung, Hygiene und Personal, Labore und Pathologie, Röntgen aus den Spitälern an private Subunternehmen auslagerten. Die Gewinn machen wollten und sinnvolle Maßnahmen entwickelten, wie zum Beispiel Stromkosten dadurch einzusparen, indem sie

die Spitalwäsche bei zu niedrigen Temperaturen wuschen, was kann schon schiefgehen?

Die rechte Partei »Partido Popular« erhielt durch die Lizenz- und Vertragserteilung, so wurde gemunkelt, bis zu fünf Millionen Euro aus dem Gesundheitshaushalt für die Parteikasse und so glich sich das alles aus.

Die Geschichte endete traurig.

Dabei könnte alles gut sein,

dachte Pjotr zur selben Zeit neben Rachel im Container in Corcapolo.

Es hatte wohl geregnet in der Nacht, einer der kurzen tropenartigen Regengüsse, oft mit Wetterleuchten gekoppelt. Vögel schrien, vielleicht waren es auch Affen. Oder es brannte. »Es ist, als wären wir die letzten Menschen auf dem Planeten.« Sagte Pjotr, um etwas zu sagen. Rachel schwieg.

In der Nacht war Pjotr klar geworden, dass er gerne neben Rachel saß, weil er sich dann nicht einsam fühlte. Und als er das verstand, bekam er Angst und wusste nicht, warum. Er würde es auch nicht herausfinden, denn ihm war nichts unangenehmer als Menschen, die über sich nachdachten und ihre Gefühle. Am schlimmsten fand er jene, die den Mist dann auch noch erzählten. Die jede Regung ihres kleinen Gehirns anderen mitteilen mussten und die nicht verstanden, dass sie unter acht Milliarden komplett unwichtig waren. Dass all ihre Gedanken, Erkenntnisse, Kindheitstraumata und Leidensgeschichten bald verschwunden sein würden. Na ja, und so weiter.

Pjotr hatte im Bett die Nachrichten des Tages durchgelesen.

Alles wie immer. Die Menschen im ersten Stock eines Hauses stritten darüber, wer den Müll rausbringt, während das Erdgeschoss in Flammen stand.

Ein Mann in Bulgarien hatte eine asiatisch gelesene Frau zu Boden getreten und war auf ihren Kopf gesprungen. In Frankreich waren wieder Jugendliche, die gegen eine Bank demonstriert hatten, mit harter Gummi-Munition beschossen worden. In Schweden gab es Plünderungen während eines dreitägigen Netzausfalls.

Irgendwelche Regierungsübernahmen durch das Militär, in einem unwichtigen europäischen Land, anderenorts hatten sie wieder für einen Präsidenten abgestimmt, der vor einer Amtszeit die Sozialhilfen abgeschafft und die Überwachung verschärft hatte. Es gab Betrugsvorwürfe gegen den Präsidenten des EU -Rechnungshofs, die sich hoffentlich als unwahr herausstellen würden. An der Außengrenze der EU lagen trotz neunzig Millionen EU -Flüchtlingshilfen Massen von Flüchtigen in Zelten. Oder im Schlamm.

Gegen einen EU -Parlamentarier von Italiens oppositioneller Rechtspartei Fratelli d’Italia Carlo Fidanza wurden Untersuchungen wegen Geldwäsche aufgenommen. Jeder riss scheinbar schnell noch an sich, was er erwischen konnte.

Sie waren nicht mehr bei sich, die Leute, weil sie ahnten, dass bald etwas passieren würde. Und dass es nicht gut sein würde, was da passieren würde.

Ein Kollaps. Finanzkrise, Ökokrise, Bürgerkriege. Keine Gesetze. Keine Autorität. Keine Moral. Keine Freundlichkeit.

Alle irre.

Und

kurze Zeit später

begannen die Brigaden in

Belgien

Bulgarien

Dänemark

Deutschland

Estland

Finnland

Frankreich

Griechenland

Irland

Italien

Kroatien

Lettland

Litauen

Luxemburg

Malta

den Niederlanden

Österreich

Polen

Rumänien

Schottland

Schweden

der Slowakei

Slowenien

Tschechien

Ungarn

und Zypern

in Lagerhallen, Containern, Schuppen und Kellern mit dem 3-D-Druck von Waffen im Bullpup-Design. Die Schlösser und Läufe aus Graphen, dem Teufelszeug, und innerhalb von Minuten waren die ersten handlichen Gewehre, die mit unscharfer, aber laut knallender Munition beladen werden konnten,

fertig.

Jubel. Abklatschen. Angeeignete Getto-Faust. Energydrinks. Prost. Die Brigaden und ihre Arbeitsplätze ähnelten sich. Die meisten Ländergruppen saßen in der Nähe von Autobahnzubringern, Schrottplätzen oder Lkw-Parkplätzen in den Industriegebieten großer europäischer Städte. Die Coder hockten geschützt in strahlensicheren Metallcontainern und überall roch es nach Pizza und Nudeln, es wurden Energydrinks oder Mate konsumiert, um den Dauereinsatz an den Rechnern zu bewältigen. Die meisten vernachlässigten die Körperpflege ein wenig, sie waren zwischen zwanzig und dreißig Jahre. Ein paar statistische Ausreißer nach oben und unten mitgemeint. Sie trugen Jeans oder Track Pants, Shorts und T-Shirts. Es gab interessante Frisuren, Hautfarben, alle geschlechtlichen Spektren waren vertreten und allen war eine komplette Konzentration und Ernsthaftigkeit eigen. Für fast alle der rund hundert HackerInnen ging es um alles. Sie hatten sich radikalisiert und konnten sich nicht mehr vorstellen, ihr Leben als BürgerInnen in einem mit Hypotheken belasteten Haus am Stadtrand und der Arbeit in der IT -Abteilung eines Hörbuch-Verlags zuzubringen. Sie fühlten sich als VertreterInnen der einzigen Wahrheit, und an ein Scheitern konnte und wollte keine denken. Durch die großzügigen unfreiwilligen Spenden von MilliardärInnen hatten alle Zeit, sich ihren humanitären Aufgaben zu widmen.

Der Weltrettung zum Beispiel.

Das sah gut aus.

Dachte

Maggy zur gleichen Zeit in Corcapolo. Seit dem Morgen war sie mit dem Wealth-Management der Gruppe befasst. Es gab kaum etwas, das stumpfsinniger sein konnte, als Dienstleistende, die mit der Abschaffung der Kapitalgrenzen, der Deregulierung der Entlohnung, Steuergesetzen, Tiefzinspolitik, der Abschaffung der Vermögenssteuer, der Steuerbefreiung für Dividenden tätig waren. Um einigen Angehörigen der Menschheit dabei zuzusehen, wie ihr Geld Geld erzeugte. Was war das für ein Beruf. Selbst dem überzeugtesten libertären Anlageberater mussten doch irgendwann die Beine vor Langeweile einschlafen. Diese öden Tricks, diese langweiligen Bestechungen, die Abendessen mit Lobbyisten und PolitikerInnen.

Maggy las die internen Mails der Risikokapitalfirma Andreessen Horowitz, der einen mit 92 Milliarden Dollar bewerteten Kryptofonds hielt und für den gerade über fünfzig nicht eingetragene Lobbyisten, darunter ehemalige Berater des demokratischen Präsidenten, Ex-Finanzministeriumsmitarbeitende, der frühere Vorsitzende der Börsenaufsicht, an einer Deregulierung der Kryptowährungen und einer Änderung des Steuergesetzes arbeiten. Und daran, ein Krypto-Monopol zu erreichen. Zum Wohle der KundInnen. Die US -Regierung, die sich gerade mit der chinesischen Regierung einen Wettbewerb um die Krypto-Markt-Vorherrschaft liefert, unterstützt die Idee, dass eine eventuell kommende Währung komplett privatisiert sein wird.

Und das war doch interessant,

wie wenig die Welt des Kapitals und der Finanzprodukte mit dem zu tun hatte, was neunzig Prozent der Menschen glaubten. Es ging nie um die Masse der ehemaligen Sparer, der Kreditkunden und Kleinanleger, es ging nicht um der Hände Arbeit oder welche hypnotischen Beschwörungen die Massen still und arbeitsam gehalten hatten. Immer ging es nur um eine absurde Gier, die, die irgendwann überraschend mit dem Ableben beendet wurde.

Nach dem kleinen, fast philosophisch zu nennenden Ausflug in die Welt über der Welt fuhr Maggy mit ihrer heutigen Arbeit fort.

Die deutschen Waffen für die NATO - und die EU -Militärs würden smart sein. Hurra, smarte Waffen, was konnte schon schiefgehen, wenn Militär und Polizei, wenn NATO und einige faschistische Subgruppen Waffen besaßen, die extern manipulierbar waren. Die Software kam, wie bei fast allen EU -Projekten, von einem Privatanbieter. Marcel, einer der Lieblingsfeinde jeder Aktivistin, der Marktführer für Spionage, Überwachung und Datensammelfragen, der mit einem Minimum an fest angestelltem Personal arbeitete und für jeden Job temporär MitarbeiterInnen suchen musste, hatte den Auftrag, sich um die Software zu kümmern, erhalten, und er brauchte freie MitarbeiterInnen. Vor einigen Tagen war die Anzeige auf seiner Unternehmenssite erschienen und mit ihr die Informationen zu allen Komponenten, die Marcel für seine Geoblocking -Software verbauen würde.

Gesucht waren Leute mit:

Programming skills Java and/or C++

| Proficiency in Unix and/or Linux

| Experience with Software design tools such as Rational Rose, Rhapsody, or comparable tools

| Experience with scripting is a plus (Ruby, Perl, Python, PHP , etc.)

| Experience and/or knowledge with Web Service design and development

| Experience and/or knowledge with Service Oriented Architecture

| Experience and/or knowledge with one or more databases (Mongo, Postgres)

| Experience and/or knowledge with an Integrated Development Environment (IDE ) like Eclipse

Marcel und seine Firma hatten sich mit dieser Aufzählung ihre Supply-Chain-Attacke verdient. Maggy verabschiedete mit einem lieben Gruß bei den anstehenden Aktualisierungen Trojaner auf die Plattformen, von der Marcels Programmierer ihre Komponenten beziehen würden. Prost, GitHub . Wir kommen auf euch zurück.

Maggy erinnerte sich an die kindergerechte Erklärung über die Funktion der NATO , die sie früher in der 3. Klasse gelernt hatte.

»Bei der Gründung des Paktes gab es ein wichtiges Ziel: Die kommunistischen Staaten sollten davon abgehalten werden, gegen die westlichen Staaten Krieg zu führen. Nach dem Ende des Warschauer Paktes 1991 änderten sich die Ziele der NATO . Der Einsatz für Frieden und Freiheit ist heute das wichtigste Ziel.«

Nun, smarte Waffen waren ein Garant für den Frieden. »Jetzt halt doch mal den Mund«, sagte Maggy zu

Ben, der vor sich hin redete.

»Der große Fehler bei den vergangenen gescheiterten Revolutionen war das Geld gewesen, und die Menschen«, zitierte Ben irgendwen.

Er arbeitete gerade mit einer vortrainierten Open-AI , die er mit Material aus Gesichtsbibliotheken vernetzte, um den Einsatz der Drohnen vorzubereiten.

»Guten Morgen, Flachpfeifen«, sagte Ben, während er die Müllhalden gekränkter Männlichkeit durchsuchte.

Incel- und Telegramgruppen-, Gamer- und Waffenforen. Und seine beiden Lieblinge:

Imgur und prOgram.

Irgendwann war Ben darauf gekommen, dass beide nach den Regeln des Futurismus aufgebaut waren.

Das Manifest eines italienischen Künstlers, das er geschrieben hatte, um seinen Vater zu ärgern. Das hatte wohl nicht funktioniert, aber seine Gedanken hatten Mussolinis später inspiriert.

Stichwort – Fantasieuniformen. Penis.

»Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt,«

Die Idee, dumpfe Regungen in etwas Erhabenes zu wandeln, war genial.

»den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.«

Die Deutschen hatten die Sache unter

»Diagnose Frau« ein wenig dem Verstand der Kundschaft angepasst. Die sonstigen Hobbys der Kunden waren – Übermenschensport, Autos, Fleisch, Waffen und Kriegseinsätze.

Hier posteten traurige Männer vom Sofa und Mitglieder von Armee und Sondereinsatzkommandos.

In fast allen Ländern gab es ähnliche Foren, betrieben und finanziert von den Geheimdiensten und Organisationen der Oligarchen, die im guten Fall eine Privatarmee für Unruhen rekrutierten. Alle funktionierten auf dem einfachen System der Angst.

Der Angst der Männer, unwichtig zu werden,

so unwichtig wie Frauen,

die Angst vor der Veränderung des Gewohnten,

zu verschwinden, sich zu verlieren in einer neuen, undurchschaubaren Welt aus Codeketten und Entmachtung.

Kurz,

hier waren die perfekten Orte, um mit Bildern ein AI mit Nazis aus den Reihen von Polizei und Armee Europas zu trainieren. In den nächsten Tagen würde Ben über viertausend radikale Männer in Armee und Polizei mit Namen, Adressen und Dienstgrad gefunden haben.

So, zurück zu den Finanzen.

Für die

Kemal

nicht mehr zuständig war. Zur gleichen Zeit saß er als Mitglied der englischen Brigade in

London Thamesmead.

Gerade hatten die Freunde ihm Bilder aus dem Tessin geschickt. Zu viel Grün für seinen Geschmack.

Kemal vermisste die Freunde.

Er vermisste sich, und es gab keinen logischen Grund, warum er hiergeblieben war, in dem Land, dessen Bevölkerung ihn nie umarmt hatte. Deren PolizeimitarbeiterInnen ihn mit »Stop und Search«, der spontanen Leibesvisitation an vornehmlich dunkelhäutigen oder einfach nur armen Jugendlichen, gedemütigt hatte. In diesem Land, das unter fast all seinen Regierungen, von Heath bis Thatcher und Handpuppe Johnson, den Finanzmarkt so radikal liberalisiert hatte, dass England inzwischen eigentlich nur noch aus der City of London bestand. Eine Burg, umgeben von Tagelöhnern, getrennt durch einen Burggraben an immer absurder werdenden Gesetzen. Permanente Steuererhöhungen für die Massen, komplette Steuerfreiheit für Finanzprodukte. Und das kam dann dabei heraus. Massen, die noch spuckend: Wettbewerb, Wettbewerb murmelten, wenn sie sich abends um die besten Pappunterlagen für ihre Nachtruhe stritten.

Kemal wusste nur, dass er hier sein musste, in der Umgebung, die ihm vertraut war, bei Menschen, die ihn nicht akzeptierten, die aber seine Leute waren, denn er machte das alles nur für sie.

Er konnte nicht in diesem Luxuscamp im reichsten Land der Welt sitzen und alle hier zurücklassen.

Darum also musste Kemal bleiben.

In seinem Container, im schlechten Wetter, und mit der Aussicht auf monatelanger Arbeit. An deren Ende vielleicht

eine Verhaftung stünde.

Im besten Fall.

Würde

Maggy

zur gleichen Zeit

im Tessin irgendwann die fast unüberschaubare Masse an Konten, Firmen und Börsengeschäften begreifen. Die Scheinfirmen, die AG s, die Anlagen – die Öde. Ab und zu kam eine der Freunde, um nach Maggy zu sehen und den Grad ihres Hasses zu überprüfen, sie fragten kurz, ob sie ihr helfen könnten, und verschwanden wieder, ehe Maggy antworten konnte.

Kemal hatte sich damals, als er das Konstrukt eingerichtet hatte, an den Besten orientiert. An BlackRock. Beeindruckend, wie aus einem gut aufgestellten, normal langweiligen Investmentberatungsschuppen eine Weltmacht geworden war, die die Vertreter des alten Kapitals, Mercer, Koch und Co., wie freundliche Hausmeister wirken ließ – Fossilien aus der prähistorischen Zeit des Spätkapitalismus.

Die MitarbeiterInnen der Firma saßen jedenfalls schon in Schlüsselpositionen weltweit und natürlich in den EU -Kommissionen und Gremien. Sie waren in Verwaltungs- und Aufsichtsräten, sie arbeiteten als Ministerpräsidenten, die Firma war Großaktionär bei Monsanto, Bayer, Raytheon, Lockheed Martin, General Dynamics, bei JPM organ Chase, Citigroup und Bank of America, ExxonMobil und Chevron, Apple, McDonald’s und Nestlé.

Es gab fast keinen Bereich, kein Land, keine Pensionskasse, keinen Fonds und keinen Kleinanleger weltweit, der nicht mit BlackRock arbeitete. Sie waren Eigentümer und Gläubiger von Tausenden Unternehmen und Banken der Welt, bestimmten über Arbeitsplätze, Wohnungen, Straßen, Brücken, Erziehung, Gesundheitsversorgung. Und das alles nur mit Skrupellosigkeit und Code. Oder wie man sagt: Engagement und Sachverstand.

Sie hatten mit Aladdin ein Big-Data-Analysesystem entwickelt, oder sagen wir: weiterentwickelt, denn natürlich hatten sie es nicht erfunden, sondern nur – verfeinert. Aladdin basierte auf einer alten Workstation von 1988, die Charles Hallac zur Reife gebracht hatte. Heute lief Aladdin in vier Rechenzentren mit Netzwerken von mehr als sechstausend Rechnern und analysierte weltweit Daten von: Kursen, Zinsen, Rohstoffpreisen, Transportbewegungen, BürgerInnenbewegungen, Privatdaten, Naturkatastrophen, also kurz: Es wertete den Atem der Welt aus, gab allen Anlegern, die auf großer Rendite und kleinem Risiko bestanden, gute Investmentideen.

Apropos Untergang –

Man könnte das beste System, das es derzeit gab, als Dauerkrise bezeichnen, wenn man nicht daran verdiente.

Jedes Erdbeben, jede Seuche, jeder Krieg brachte einigen Menschen oder Firmen, oder den Menschen, denen sie gehörten, großartige Gewinne.

Was sie damit machen wollten, wenn die Erde ein nahezu unbewohnbarer Ort sein würde, war eine Frage, auf die vermutlich keiner der Katastrophengewinner eine Antwort hätte.

»Oder

doch« – würde

ein Katastrophengewinnler

Vermögen: ganz okay geerbt, kein Platz in der Forbes-Liste

Beruf: Pferdezucht

Sexuelle Orientierung: Pferde

Politische Ausrichtung: libertär

Hobbys: verwesende Pferde ansehen, im Keller

antworten.

»Ich würde mich eher als Kapitalisten, der agil agiert, bezeichnen. Machen. Vorantreiben. Zum Wohle aller. Alternativlos.« Der Katastrophengewinnler wiederholte sich kurz, als würde sein Algorithmus hängen bleiben. Er war immer erregt, wenn er daran dachte, dass er das beste System aller Zeiten, das einzige, fast allein am Laufen hielt.

»Es ist ein langer, intensiver Arbeitsprozess«, sagte er, »ehe man Krisen, so nenne ich Katastrophen, zum Wohle der Bevölkerungen und der Wirtschaft umdeuten kann.

Egal ob Terror, Finanzkrise, Erdbeben, Kriege, Unruhen, Naturkatastrophen –

profitierten nicht alle Bevölkerungen vom Wiederaufbau zerstörter Gebiete? Von der Umnutzung der Gebiete, in denen vorher Menschen mit schwacher Einkommensstruktur gelebt hatten, die nach der Entmietung sehr wohnlich – aber leer waren. Es geht doch darum, gute Lebensräume für eigenverantwortlich handelnde, hart arbeitende Menschen zu schaffen, und neue Arbeitsplätze. Und dafür muss das Fundament durch

PolitikerInnen, die in Krisenzeiten schnell und agil handlungsfähig sind, ausgehoben werden.«

Macher wie Narendra Modi, Andrej Babiš, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Jarosław Kaczyński und der wunderbare Viktor Orbán zum Beispiel halfen, die Presse positiv zu beeinflussen, die Gewaltenteilung zu eliminieren, die Männer zu aktivieren, das Rechtssystem aufzubrechen und den Staat scheinbar zu stärken, aber ihn eigentlich in eine Autokratie der Konzerne umzustrukturieren. In Trumps Amtszeit stieg der Kurs der beiden größten privaten Gefängnisunternehmen in den USA , CoreCivic und die GEO Group, um 41 Prozent bzw. 98 Prozent. – Die Haftanstalten voller Illegaler, Verbrechereinwanderer und TerroristInnen.

Zurück zur Krise.

Der Katastrophengewinnler ist ein alerter Enddreißiger. Er stammt aus einer Familie, die nicht mehr als zehn Millionen Vermögen geerbt hat, peinlich wenig, aber – er hat seine Startmöglichkeiten – Harvard-Business-Schule, Investmentfirma in Zug, gut genutzt.

Wenn eine KRISE stattfindet,

oder man sie nicht davon abhält stattzufinden, oder sie initiiert, kann die Regierung sie zu Kürzungen von Etats nicht systemrelevanter Bereiche nutzen:

Naturschutz, Kunst, Kultur, Soziales, Renten, Gesundheitswesen. Weg damit. Krisen sind immer hervorragend, um Gesetze zur Sicherheit der Bevölkerung zu verabschieden. Überwachung, Antiterror, noch mehr Überwachung, Demonstrations- und Zusammenrottungsverbote, Ausgangssperren, Todestrafen – sag irgendwas, das es ermöglicht, kommenden Unzufriedenheiten vorsorglich zu begegnen – keiner wird es mitbekommen. Jedes Einreiseverbot für Menschen, deren Heimat man mit einem Krieg, mit einem gigantischen CO 2 -Ausstoß oder etwas schlampig unnachhaltigem Bodenschatz-Abbau zerstört hat, wird sich positiv in der lokalen Bevölkerung auswirken. Und die Zustimmung der Leute dafür, in Sicherheitstechnik zu investieren, beflügelt die Kurse von IT -Sicherheitsunternehmen, die biometrische Software, Irisscanner oder Trojaner herstellen.

Gleichzeitig muss nach Krisen gespart werden. Bei der Infrastruktur, Dämmen, Gebäudesicherheit, Straßen, Transport, Gesundheit.

Also sagen wir so – die nächste Krise kommt bestimmt, denn sie ist positiv für uns alle. Der Katastrophengewinnler schiebt sich ein proteinhaltiges Nudelgericht in die Mikrowelle, trainiert im hauseigenen Gym, in einem Haus, das Eigentumswohnungen für Männer wie ihn beinhaltet, Millionen weltweit mit Kokainproblemen und teuren Anzügen, die es nie nach ganz oben schaffen werden, aber einen großen Teil zur Stabilisierung des Systems beitragen. Unser alternativloses System.

Da gibt es keinen

Widerstand.

Wogegen auch.

Dachte

Rachel,

die zur gleichen Zeit eine Pause vor dem Container in Corcapolo machte.

Wogegen sollte man denn sein, wenn man hier leben konnte. Diese

naturnahen Berge, zwischen denen Autobahnen und Brücken verliefen, die Bunker, die das Land unterkellerten, in denen die Daten der ganzen Welt lagerten und es angeblich Überlebensraum für alle gab, falls die Löcher nicht von Giftabfall belegt waren.

Die SchweizerInnen schienen überzeugt, im besten, sichersten und gerechtesten aller Länder zu leben. Sie glaubten dem Versprechen, dass jedem bei korrektem Lebenswandel und ohne Lücke im Lebenslauf eine Villa im Kanton Zug, mit Seeanstoß und Steuerbefreiung, zu eigen sein würde.

Dass Land hätte es sich leisten können, ein Vorbild für die Welt zu werden: Kostenloses Gesundheitssystem und Kinderbetreuung und menschenwürdige Unterstützung von alten, arbeitslosen, kranken und behinderten, schwachen und einsamen Menschen könnte es geben –

Aber wozu sollte man das tun?

Don sagte zur gleichen Zeit: »Hallo Schweiz!«

Die Schweiz sagte nichts, das aber angenehm zurückhaltend.

Die Eingeborenen sahen Don und Karen an und schienen sich in ihrer Idee von Heimat gestört zu fühlen.

Die Idee war – überschaubar.

Der Bahnhof war so sauber wie ein Operationsraum, in dem man sich sofort unzureichend steril fühlte.

Vor allem – nachdem die beiden in überfüllten Zügen gestanden hatten, immer wieder nothaltend, weil die Gleise in England und Frankreich seit Jahren nicht überholt worden waren. Wozu auch. Wer gut reisen wollte, konnte ja den Jet nehmen.

Die Menschen, die in Locarno vor dem See herumliefen, schienen unter Drogeneinfluss zu sein. Sie bewegten sich lautlos, ohne Verbindung zueinander, in ockerfarbener Kleidung wie fließend zwischen See, Palmen und Himmel.

Was stimmte mit denen nicht? »Was the Fuck stimmt hier nicht?«, fragte Don, und selbst das Angestarrt-Werden, an das Don und Karen gewöhnt waren, weil sie mit sich überall in Europa eine nicht heimatzugehörige Aussage machten, erfolgte hier in einer passiv-aggressiven Art. Mit einem falschen Lächeln und leicht, scheinbar demütig, geneigtem Blick. »Hallo«, schien die Geste zu sagen, »ich habe dich als nicht meinem Kulturkreis zugehörig identifiziert, mich aber dabei beobachtet und innerlich gestraft für diesen Moment, denn ich weiß, dass wir alle nur eine Zugehörigkeit haben. Wir sind Menschen, Menschen.« (Das letzte »Menschen« leise geschrien.)

Das Befremden, das Don spürte, wurde langsam bebildert – der Ort hier, das gesamte Land, durch das sie gefahren waren, hatte nichts mit der Welt, die sie aus England oder von den Berichten aus dem Netz kannte, zu tun. Es schien losgelöst im All zu schweben, das Land, das weder nach Urin noch nach Müll roch. Es gab sie nicht, die Pappkartons, die eine Einzimmerwohnung darstellten, neben Mülltonnen, es gab keine Armut, nur weiße Leute, die ihre Taschen neben sich auf den Boden stellten, und die Geldbörsen lagen offen auf den Tischen. Hier schien keines eine unangenehme Erfahrung gemacht zu haben, die über den Tod des Hundes hinausgegangen wäre.

Überall gab es Brunnen mit Trinkwasser, der See öffnete den Blick auf seinen Grund, und einige gut gelaunte Felchen schwammen im saubersten Wasser, das Don je gesehen hatte, herum.

Der Bus, der pünktlich auf die Sekunde kam, fuhr Don und Karen fast lautlos an azurfarbenen Flüssen vorbei und an Wasserfällen, grün dekorierten Bergen, auf denen Gämsen sehr ordentlich herumstanden und freundlich desinteressiert wirkten – das war alles eine komplett menschenbefreite Naturdarstellung. Hier hätten sie jetzt zu viert sitzen können und so tun, als sei die Welt wieder in Ordnung. Als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben – Hannah, Karen, Don und Peter.

Wieder zusammen, wie damals. Vor Jahren – als sie Kinder gewesen waren. Und alles geteilt hatten. Die Wut, die Matratzen, die Diebstähle, das Essen. Sie hatten zusammengewohnt in einer Brache in den Randgebieten Londons. Sie hatten sich an allen gerächt, die sie als Kinder misshandelt hatten, waren zusammengewachsen und jugendlich geworden, hatten sich verliebt.

Sie hatten die Hacker getroffen und einer Revolution beigewohnt. Also – dem Scheitern einer Revolution.

Danach

waren sie in irgendwelche Erwachsenenleben verschwunden. Jedes für sich.

Besser war nichts geworden.

In diesem Nachstellen von dem,

was Erwachsene tun,

weil andere Erwachsene es tun.

»Das ist also Corcapolo «, sagte Don, als sie im Nichts standen. Der Bus entfernte sich. Sie würden hier sterben. Kein herzensgutes Dorf, kein Markplatz, kein Laden, nur ein paar scheinbar leere Häuser oben am Hang, und Pflanzen, die Don und Karen nur aus langweiligen BBC -Dokumentarfilmen kannten, früher, als es noch Fernsehen gab.

Don dachte, dass es eventuell überall auf der Welt so aussah wie hier. Und alles, was sie über Elendsviertel in Brasilien und Pakistan und Indien und Kälte in Norwegen und Dreck überall gesehen haben, waren gefälschte Informationen, um davon abzulenken, dass es nur in England so grau und kalt war, und alles, was ihr Leben ausgemacht hatte, vielleicht die Ausnahme war.

Sie fanden die versteckte Treppe, die Ben beschrieben hatte, und den Weg zu der Siedlung oder in eine Höhle, in der Jeffrey Dahmer wiedergeboren wartete. Ein alter Steinweg, Moos, der Boden hallte dumpf, und die Geräusche klangen wie unter einer Glocke aus Pflanzen und Feuchtigkeit. Nach einer Viertelstunde wurde aus dem engen Grün eine sonnige weite Ebene mit alten Steinhäusern, einem Brunnen und drei Containerhäusern.

»Sie sind da«,

rief Ben

und rannte auf die beiden zu.

Kind of. Renn mal, wenn du aus jedem Body-Mass-Index herausfällst, weil es für Leute wie dich nur die Body-Positivity-Bewegung gibt, die dich voll okay finden. Liebe dich, auch wenn du zwei Meter groß und zweihundert Kilo schwer bist.

Hinter Ben kamen Pjotr, Maggy und Rachel aus den Containern wie Laboraffen, die das erste Mal Sonnenlicht sehen. Die jungen Menschen schwankten ein wenig – mit ihren roten entzündeten Computeraugen und durch permanentes Sitzen und In-Rechner-Starren fast deformierten Körpern – im Kontext der naturnahen Natur.

Sie freuten sich, wie man sich eben freut,

wenn man keine Ahnung hatte, wozu Berührungen gut sein sollten, so standen sie eine Weile herum, bis Ben sagte:

»Vielleicht essen wir erst einmal was.«

Und

wenig später saßen Don und Karen mit Ben, Maggy, Rachel und Pjotr an dem großen Tisch auf der Wiese, darüber hing eine Glühbirnenkette, und aßen was. »Wusstet ihr, dass die Deutschen jedes Jahr 53 Millionen Schweine töten?« Ben wusste, wie man eine Tischrunde unterhält, und

Don hatte Kopfschmerzen wegen der Hitze oder wegen des seltsamen Lärms – den Grillen oder Zikaden, Nachteulen oder Lurche erzeugten. Es war so laut, dass die unbeholfenen Versuche am Tisch, an ein Gruppengefühl anzuschließen, das Jahre zurücklag, weniger peinlich schienen.

»Wo ist eigentlich Kemal?«, fragte Don.

Einen Moment war es noch stiller als vorher. Kemal, schienen sie allesamt zu denken, was war eigentlich mit Kemal. Sie hatten ihn einfach vergessen. Wie England, die Königsfamilie, ihre Verwandten. Und nun versuchten sie sich an jenem Abend aneinander zu erinnern.

Don hatte sich noch mehr Muskeln antrainiert, die Haare standen in den Himmel, und noch immer wirkte sie, als wollte sie, egal wen oder was, aus dem Weg räumen.

Neben ihr schien Karen noch weißer mit dieser Haut und den Haaren, die dank Störungen in der Biosynthese der Melanine durchsichtig schienen. Karen war gewachsen, sie war vermutlich eins achtzig groß, und es schien, als könne man sie in der Mitte durchbrechen, egal wozu.

Sie trug jetzt eine Brille über ihren empfindlichen Augen und den weißen Brauen. Karen bewegte sich immer noch so langsam, als wäre sie unter Wasser.

Rachel sah immer noch zu Boden oder in den Himmel und wirkte wie ein SchachweltmeisterInnen-Kind oder ein mordender Zwerg und saß meistens oder stand irgendwo herum, und kein lebender Mensch hatte sie jemals in Bewegung erlebt. Neben ihr, ein wenig zu dicht, lang Pavel oder Pjotr und dünn, seine Augen waren zu groß für das knochige Gesicht, das so durchsichtig war, dass man blaue Adern betrachten konnte, seine Haare waren dick und verfilzt.

Ben, der mit sich redete und ab und zu lachte. Auch beim Essen hatte er seinen Rechner an und machte alles gleichzeitig – surfen, reden, essen, lachen. Er wirkte außer sich, wie früher, und schien noch größer und dicker geworden zu sein, die Sommersprossen flossen zu einer geschlossenen Oberfläche zusammen und gingen in die sehr roten langen Haare über, als würde er brennen. Neben ihm saß Maggy, die aussah, als ob sie alle anderen problemlos erschlagen könnte, über dem kräftigen Körper spannte sich das schwarze T-Shirt und die schwarze Hose, deren Motiv in den schwarz gefärbten Haaren wieder aufgegriffen wurde.

Alle hatten ihre Rechner auf den Knien oder auf dem Tisch, neben dem Käse, und Don fand die Idee, dass dieser Haufen Freaks ein Weltsystem stürzen könnte, genauso unsinnig wie alternativlos.

Als hätte sie ihren Gedanken gelesen,

erklärte

Maggy

Don und Karen, was sie die letzten Monate gemacht hatten. Von den Brigaden in Europa, über die technischen Details und die Zuständigkeiten. Und dann redete sie von dem Feld, das Karen und Don bearbeiten sollten:

die Propaganda. Pjotr würde die Umsetzung im Netz erledigen, Karen die strategische Leitung und Don das Anwerben von Influencern. Oder Meinungsführern oder einfach Leuten, auf die die Leute hörten.

Pjotr hatte Statistiken über die wirkungsvollsten Kanäle der Zielgruppen in den Ländern erstellt, Accounts angelegt, Bots entwickelt und Kontakt zu verschiedenen Klick- und Trollfarmen aufgenommen, und falls Don und Karen vergessen hatten, dass Gespräche mit den Nerds über Themen, die nichts Konkretes betrafen, oft schwierig waren, jetzt fiel es ihnen wieder ein. Kaum eines hier hatte Interesse an sogenannten Gesprächen. Die Wiedergabe von Angelesenem oder Gesehenem, die Floskeln und Meinungen, die Witze und das Halbwissen über Politik und fremde Länder interessierte keines.

Bei den Freunden ging es immer um irgendwas. Um Technik, Codes, um Verbrechen oder ein Projekt, wenn es um nichts ging, hielten sie die Klappe.

Welche Ruhe würde in der Welt herrschen, wenn alle nur etwas sagen wollten, wenn sie irgendeine interessante wissenschaftliche Erkenntnis hatten.

»Wir machen also so etwas wie eine Revolution?«, fragte Don, um die Informationen der letzten Stunden zusammenzufassen.

Und leider antwortete

Ben als Erster, das gefühlte Seufzen der anderen ignorierend.

»Ich würde es eher als eine Rettungsmission bezeichnen«, sagte er. »Und apropos« – das stumme Seufzen der anderen war ohrenbetäubend –, »der Versuch, die Welt neu zu gestalten, geschieht nie, weil Menschen Not leiden. Trotzki sagt: ›In Wirklichkeit ist das bloße Vorhandensein von Entbehrungen nicht genug, um einen Aufstand herbeizuführen. Sonst wären die Massen ständig im Aufstand. Was eine große Gruppe dazu bewegt, eine andere, zum Beispiel die mit dem Kapital, infrage zu stellen, ist nicht das Elend, sondern ein unerträglicher Unterschied zwischen dem, was die Gruppe, nennen wir sie: das Volk, will, und dem, was sie bekommt.‹«

Dann verlor Ben den Faden, er sagte Fakten auf, kam von den Zapatisten zu Lenin zur Revolution auf Haiti, zu Machtmissbrauch und wieder zurück, und gegen Mitternacht war das Gefühl der Fremdheit am Tisch verschwunden. Das Geheimnis aller guten Beziehungen ist doch, dass es um etwas geht. Ein Ziel, eine Leidenschaft oder – einfach nur Ben zu ertragen.

Die Nacht war fast wieder ruhig

und

Karen

saß auf der Veranda in Corcapolo,

ein Wind ließ die Palmen rascheln, und ab und zu hörte man ein Käuzchen. Oder einen Mörder, der Käuzchen nachmachte. Oder ein Käuzchen, das eine riesige Schlammlawine ankündigte, die das Tal in einigen Sekunden unter sich begraben würde.

Karen versuchte, solange die Mechanismen zu begreifen, die Massen bewegen konnten, und verbinden konnten, die Millionen, die sich für einmalig hielten.

Sie las die Klassiker der Manipulation: Lippmann, Bernays, Dulles. Danke, visuelles Gedächtnis!

Je mehr Karen über professionelle Massenmanipulation lernte, umso unsicherer wurde sie sich ihrer Selbstverständlichkeiten.

Sehnte sie sich nach Eiern zum Frühstück oder waren es die Bilder aus Filmen, hergestellt von Amerikanern in den Siebzigerjahren? Mochte sie Cola? Starbucks? Fleischklopse? Liebte sie es, Körner in sich zu stopfen, und hatte sie Sehnsucht nach einem Eigenheim? Glaubte sie, dass in Moscheen junge Männer am Untergang der westlichen Zivilisation arbeiteten? Dass es ADHS gab, gesunde Frühstückscerealien, Übergewicht durch Bewegungsmangel, dass man sein Schicksal in der eigenen Hand hatte, dass Sparen sich lohnt, dass der Kommunismus den Menschen seine Kleinwagen wegnehmen wollte und dass Arbeit das Kapital des Volkes ist.

Alle großen Propagandisten, es gab unter den Ikonen keine Frauen, denn Frauen liebten es damals, neue Küchenzeilen abzulecken, waren sich sicher, im Wohle der Massen zu handeln, denn

die Welt war zu komplex und verwirrend für den Einzelnen und bedurfte einer Einordnung, um begriffen zu werden. Die Manipulatoren hatten die gesamte Verachtung für die Massen, zu denen sie nicht gehörten, in Büchern und Nachschlagewerken festgehalten. Man hätte alles wissen können, aber – wer las schon noch Bücher. In denen stand, dass fast alle durch den Wunsch nach Anerkennung und Schmerzvermeidung getrieben wurden. Daraus wurde Propaganda gebaut und

PR genannt.

PR , die den Menschen aufklärte, dass Atomkraft Zukunft war, Überwachung der Sicherheit diente, es eine Achse des Bösen gab und einen Fortschritt für alle, dass Autos nur wegen der Arbeitsplätze existierten, dass Elektroautos super für das Klima waren, dass Flüchtige Arbeitsplätze wegnahmen, dass die Verwendung des Femininums ihre Genitalien schrumpfen ließ.

Und nun

hatten sie den Mist.

»Was geht«,

sagte Don,

die in Unterhosen auf die Veranda trat und sich neben Karen setzte. Sie sah in den Rechner, las sich durch all die Zusammenfassungen und sagte dann:

»Wenn es diesem Bernays gelungen ist, Frauen zu Raucherinnen zu machen, Frühstücksspeck als gesund zu verkaufen und Zucker als Lebenselixier, wenn es PR -Heinis gelungen ist, Menschen in einem kleinen asiatischen Land als bedrohliche Aggressoren zu bezeichnen oder einen UN -Truppen-Einsatz beispielsweise wie damals in Mali

(Goldvorkommen 800 Millionen Tonnen, ca. 20 Millionen Tonnen Phosphate, 40 Millionen Tonnen Kalk, 53 Millionen Tonnen Steinsalz, 1,2 Milliarden Tonnen Bauxit, 2 Milliarden Tonnen Eisenerz, 10 Millionen Tonnen Mangan, 10 Milliarden Tonnen Ölschiefer, 60 Millionen Tonnen Marmor, 5000 Tonnen Uran und 1,7 Millionen Tonnen Blei und Zink) als wichtig, um »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit« zu wahren. Dann können wir das auch.

Aber wie?

Wie konnte man

700 Millionen EuropäerInnen die in feindliche Einzelgruppen zerteilt waren, zusammenbringen?

Die Masse, die gelernt hatte, unter allen linken Ideen nur den persönlichen Verzicht zu verstehen. Und die Angst hatten. Vor allem. Eine angstkranke Gesellschaft war da entstanden, durch das Raunen des Untergangs im Hintergrund, den keiner verstand.

Und dann, als die Sonne aufging,

hatte Don die Idee:

»Wir machen es wie die großen PR -Helden, die Manipulatoren, die Fürsten der Dunkelheit!«

»Also wie?«, fragte Karen und gähnte.

»Wir machen alles anders als die Linken mit ihren komplizierten Theorien, Warnungen, Aufklärungen, ohne jede Emotion, mit ihrem Appell an Verzicht, Einschränkung.

Wir suchen einen Feind, auf den sich fast alle einigen können.« Sagte Don.

»Na, das ist ja originell«,

sagte Pjotr später in Corcapolo.

Zu dem Plan von Don. Pjotr erklärte kurz, woran er gerade arbeitete –

»Also«, sagte er, »das Anstrengendste war, einen Zugang zu dem

GPT -3 , oder wie Nicht-Auskenner sagten: dem ›Generative Pre-Trained Transformer Code‹, zu bekommen. Liebe Grüße an

Microsoft.

Mit dem Code kann man Avatare bauen, die nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sind. Außer dass sie klüger sind als die Mehrheit. Und Humor besitzen.

»Da gibt es eine gute McKinsey-Studie«, sagte Pjotr, und

scheiß Tunnelbegabte, dachte Don, schon wieder ein Vortrag.

»Zwischen vierhundert und achthundert Millionen Menschen werden bald durch Automatisierung ihren Job verlieren. Vermutlich zuerst alle McKinsey-MitarbeiterInnen.« Pjotr hatte zum Warmwerden verschiedene Game-Influencer mit der Open-AI gebaut. Sie hatten auf YouTube bereits Hunderttausende Klicks, ihre Live-Sessions liefen auf Twitch mit ZuschauerInnen im Zehntausender-Bereich. Nicht schlecht für ein paar Tage Arbeit.

Die Gaming-Szene war sehr misstrauisch, aber auch extrem empfänglich für interessante Theorien und deren Verbreitung. Was halt so rauskommt, wenn der Großteil einer Gruppe aus jungen und mittelalten Männern bestand.

»Ich habe hier mal eine Strategie vorbereitet«, erklärte Pjotr Don und Karen, die seit einiger Zeit an ihren Plätzen saßen,

»die sich an der QA non-Vorgehensweise orientiert. Ein paar Honeypots ausstellen und darauf setzen, dass die Gamer-Gemeinschaft zu recherchieren beginnt. Recherche ist der sinnstiftende Lebensinhalt von Millionen Menschen, deren Dasein relativ überraschungsfrei ist.

Rechercheure misstrauen allem. Außer dem Zeug, das sie irgendwo im Netz finden. Das ist lustig.

Sie suchen nach Wissen, nach Dokumenten, stellen Zusammenhänge her, um ihre Thesen zu untermauern, und wusch – sitzen sie im Rabbithole und haben die Wahrheit erkannt.

Und jetzt wird es interessant, denn – sie werden unsere Wahrheit erkennen.

Die sie dann aus ihren Gamer-Foren und -Chats, aus 4chan und Discord in die Mainstreamwelt von Twitter, Facebook und TikTok tragen.«

Karen und Don standen neben Pjotrs Rechner, und es war das erste Mal, dass sie die Wunderwelt der Gamer betraten. Sie hatten schon von den Trollarmeen gehört, von Incelgruppen, Frauenhass, von den traurigen einsamen Männern, die in ihrem Rechner Macht fanden, die das 1.0-Leben ihnen nicht geben wollte, aber sie nun in Echtzeit zu sehen, ihre Einträge und Chats zu verfolgen, war großartig.

»Ich habe«, sagte Pjotr, »mal ein Frageboard angelegt, einen LARP , und es von meinen Bots in 4chan und so weiter mit dem Hashtag #ArbeitIstDeinKapital auslegen lassen.

Zum Warmwerden ein paar Fragen wie:

Was haben die Habsburger mit Staatshilfen und Hitler zu tun? Wer verbirgt sich hinter dem El Algarrobico Hotel, das ein spanisches Naturschutzgebiet ruiniert hatte? Was hat die Franco-Stiftung mit der Inhaftierung von spanischen KünstlerInnen zu tun?

Wusstet ihr, dass in Spanien mehr KünstlerInnen in Haft sitzen als im Iran? Meistens wegen Majestätsbeleidigung und Blasphemie. So weit zur Kunst.

Ich werde jetzt mit den Länderbrigaden zusammen in den Landessprachen auf lokale Gamer-Foren verlinken, in Spanien auf ForoCoches und MeriStation, und den LARP jeden Tag mit neuen, realen und falschen, Fakten und Fragen füllen, na ja und so weiter.«

Pjotr hatte sich zurückgelehnt, ganz Schöpfer, beobachtete er voller Liebe seine Avatare.

Nachdem Karen und Don ihn ausreichend bewundert hatten, begannen sie, die Listen mit Personen, die man

bestechen oder erpressen sollte, um sie einzusetzen, durchzuarbeiten. Dieser ältere deutsche Fernsehstar zum Beispiel, der in der Gesellschaft für intelligent und ehrlich gehalten wird. Ein Multimillionär mit vielen Freunden aus der konservativen Politik und aus der Wirtschaft. In Deutschland hat er laut unabhängigen Studien eine Bekanntheit von 86 Prozent. Wo war seine Schwachstelle? War er gierig oder erpressbar?

Die Liste war lang. Es würde sicher eine Woche dauern, bis die Influencer-Shoppingtour-Planung abgeschlossen war.

Sie begann