in Spanien. Vor Kurzem hatte
der Sprengmeister
Gesundheitszustand: depressiv
Vermögen: o.k., kleiner Scherz
Sexualität: keine mehr
Hobbys: keine mehr
Familienstand: verlassen
seinen letzten Auftrag ausgeführt. Seine finale Sprengung.
Es war ein schöner Tag. Gewesen. Fast frostfrei. Gut für die Leute, die am Rand des geräumten Krankenhauses hockten.
Leute ohne Privatversicherung. Der Umzug in
das neu erbaute PrivatpatientInnen-Krankenhaus fand leider ohne sie statt.
Schade.
Die teuren CT - und MRT -Geräte waren natürlich in das neue Spital verbracht worden. Gut eingewickelt. Sie waren einst vom Zara-Besitzer, Herrn Ortega, gespendet worden. Ein Philanthrop. Die Spanier liebten ihn wegen der schönen Geräte. Er war ein Top-Gerätespender und hatte mit Zara ein Stück Spanien in die Welt getragen, das nun überall herumstand und den Menschen ein Gefühl von Globalisierung schenkte. Großartig, dass sie überall das Gleiche sehen und kaufen konnten, in der Welt, die sie nicht mehr bereisen konnten, weil verdammt noch mal: Wie denn? Und warum denn, wo doch alles online erhältlich war. Und gleich aussah.
Die Tech-Branche, also die wenigen Konzerne im Besitz noch wenigerer Aktionäre und Gründer, war so unverzichtbar geworden, weil sie als einzige die Antwort auf das Gefühl, das Ende der Spezies stünde bevor, hatten: shoppen. »Kauf dir Freude! Kauf dich frei, kauf dir Liebe, und tu es online, hyggelig in deiner Restwohnung mit Vanillekerzen und Wellnessprodukten, mach es vom Sofa aus, denn draußen sind die anderen, und sie mögen dich nicht.
Lass die Welt da draußen untergehen, sei online, connecte dich mit einer Menschheit, die kontaktunfähig geworden ist. Mach es im Metaverse. Apropos: miete dir eine Wohnung im Metaverse, jetzt, gleich neben einer Online-Shoppingmall.«
Dass der Philanthrop Ortega seine Geschäfte in die Niederlande verlegt hatte, konnten alle nachvollziehen. Wer zahlt schon gerne Steuern?
Apropos Steuern. Die Regierung hatte fast alle Krankenhäuser privatisiert, das heißt an börsennotierte Spitalketten verschenkt, die als Erstes alle Dienste wie Reinigung, Hygiene und Personal-Labore und Pathologie, Röntgen aus den Spitälern an private Subunternehmen auslagerten. Nun konnte die Bevölkerung zwischen den Krankenhäusern wählen. Wenn sie privatversichert war.
Die Pulverisierung des alten Krankenhauses war auf jeden Fall der letzte Auftrag des Sprengmeisters vor der Liquidierung seines mittelständischen Betriebes gewesen und das erste Mal in seinem Leben, dass der Sprengmeister weinte. Er hatte vorher nicht geweint, weil er keine Zeit dazu hatte, denn er war damit beschäftigt, das, was er als seine Existenz bezeichnete, zu retten: das Recht, mit täglichen vierzehn Stunden Arbeitszeit seine Hobbys wie Essen, Trinken, Schlafen, Ficken auf einem Bett und gelegentliche Arztbesuche – zu bezahlen.
Aber der Reihe nach.
Das Unglück des Sprengmeisters hatte ein halbes Jahr vor der letzten Sprengung mit einem Erdbeben begonnen, das während eines Spiels des wunderbaren Fußballvereins Real Madrid stattfand.
Bei der durch das Beben entstandenen Massenpanik sollen ein paar Leute zerquetscht worden sein. Das interessierte außer den Angehörigen niemanden. Die Menschen hatten die Übersicht über ihre Toten verloren. Die Leichen, die bei Fluchten, Erdrutschen, Hurrikanen, Bürgerkriegen, durch Kältewinter und Hitzesommer, durch Krankenhauskeime entstanden. Die Toten bei Autounfällen, die von anderen Verkehrsteilnehmern fotografiert und im Netz geteilt wurden, um wenigstens einen Todesgrusel zu fühlen, um irgendwas zu fühlen außer der täglichen Panik.
Nach der Unterbrechung des Spiels ging der Sprengmeister zu seinem Haus, das da aber nicht mehr stand. Das Erdbeben hatte seine Firma, die Familienwohnung, seinen Garten, seine Werkstatt, ausgelöscht.
Von da an hatte der Sprengmeister kein Glück mehr. Er wohnte mit seiner Frau noch ein wenig bei deren Eltern, bis sie eines Abends sagte:
»Ich kann das nicht mehr«, oder etwas Ähnliches, sagte sie. Was man halt so sagt, wenn man den anderen loswerden will, um sich alleine von der Titanic zu retten.
Der Sprengmeister zog in das alte Kinderzimmer seines Neffen in der kleinen Wohnung seines Bruders. Er hielt seine Firma noch eine Weile mit drei Angestellten am Laufen. Dann kam eine Steuererhöhung für Kleinunternehmer.
Die letzte Sprengung. Und die Depression.
Der Sprengmeister saß im Kinderzimmer bei seinem Bruder, das mit Postern des Ex-Madrid-Fußballspielers Gareth Bale (16 Millionen Euro pro Jahr) dekoriert war. Der Verein gehörte –
Eine Laune des Schicksals.
Florentino López.
Dem unternehmerischen Genie, dem Milliardär und Besitzer der Firma Actividades de Constrrucción y Servicios SA (ACS ).
Herr López wollte mit ACS daran arbeiten, eine Pipeline ins Meer vor Spaniens Küsten zu verlegen und so zu einem führenden Gas-Transit-Player zu werden.
Eigentlich eine gute Idee. Die schönen Arbeitsplätze!
López’ Firma hatte, verantwortlich wie Oligarchen waren, alle Auswirkungen auf die Natur und das Meer bedacht, bevor der Bau begonnen hatte. Selbst an das feine Gehör der Wasserschildkröten wurde gedacht – aber
die verdammte seismografische Untersuchung war vergessen worden. Das kann den Besten passieren.
Fünfhundert Erdbeben an der Küste in zwei Monaten –
später wurde die Operation eingestellt, und die spanische Bevölkerung zahlte nach einer gerichtlichen Untersuchung des Desasters 1,6 Milliarden Euro Reparation. An López.
Der sogenannte Castor-Skandal war inzwischen längst vergessen. Eine Ungerechtigkeit von Tausenden, aber wenigstens wurde die Bevölkerung transparent aufgeklärt. Doch –
sie konnten die Informationen nicht bei sich behalten. Sie schnappten nicht einmal nach Luft, empörten sich nicht, es gab einen Shitstorm auf Instagram. Ein Reality-Star hatte seinen Nippel gezeigt.
Ein Kinderporno-Ring mit Usern aus der Hochfinanz war aufgeflogen –
Der Verdacht konnte nicht bestätigt werden.
Apropos –
Der Sprengmeister im Kinderzimmer seines Neffen
hatte für den Rest des Monats noch 27 Euro zur freien Verwendung.
»Euro, Euro, Euro«, sagte der Sprengmeister, und er hasste den Klang des Wortes – der nach Beamten in Brüssel und Krawatten klang.
Er weinte nicht mehr, er war nicht mehr panisch, er hatte aufgegeben. Und gerade als der Sprengmeister dachte: Ich habe aufgegeben, klingelte es. Vor der Tür stand ein sympathischer Mensch mit einem Kapuzenpullover. Er oder vielleicht sie fragte, ob der Sprengmeister kurz mit ihm oder ihr spazieren gehen wollte. Warum nicht, dachte der Sprengmeister, mich aufhängen kann ich nachher auch noch,
und lief mit dem Kapuzenmenschen durch die Gegend, in der früher Garagen standen, die heute hippe Co-Working-Sleep-Spaces waren. Der freundliche Mensch machte dem Sprengmeister ein interessantes Angebot, das seine finanziellen Sorgen beseitigen würde.
Unterdessen
saß eine der drei Chefinnen, kurz
die Direktorin
Mathematische Intelligenz: hervorragend
Politische Ausrichtung: konservativ oder – Kapitalismus alternativlos, Trickle-Down-Effekt, die Märkte etc.
Sexualität: asexuell
Gesundheitsstatus: Leistungssportlerin, Bogenschießen
der Schweizer Nationalbank, in einem Café an der Sihl, die ein sinnloser Fluss war, ein Bächlein, das nur in Zeiten der immer öfter stattfindenden Hochwasser die Kraft entwickelte, Brücken einzureißen, Fundamente auszuhöhlen und Menschen zu verschlingen. Die Sihl war wie das Land, harmlos wirkend und zu großer Boshaftigkeit fähig, dachte die Direktorin, die wie zu allen ihren Terminen eine halbe Stunde zu früh erschienen war, um ihren Standort häufig zu wechseln. Die Direktorin verwendete kein Smartphone, sie wusste um das PAIP -Standort-Tracking, und wozu sollte ihr das nutzen. Sie war sich sicher, dass alle ihre Geräte mit Remote Forensic Software, kurz Staatstrojanern, verwanzt worden waren und dass die Banksoftware direkt vom FBI ausgewertet wurde. Wichtige Gespräche führte sie haptisch durch. Sozusagen. Nur ohne Anfassen. Anfassen war nicht ihrs. Aber dafür hatte sie ein enges Verhältnis zu Zahlen. Sie berechnete die Raumtiefe öffentlicher Toiletten, die Anzahl der Menschen auf der Straße, die braune Halbschuhe trugen, ihre Entfernung zum Mond – nur um von Zahlen umgeben zu sein, um sich in Sicherheit zu fühlen, in unsicheren Zeiten. Also allen.
Die Direktorin hatte Wirtschaftswissenschaften studiert, mit einem Doktortitel abgeschlossen, was sie so amüsant fand, als hätte sie einen Doktortitel in Homöopathie erworben. Ihrer Meinung nach hatte sich das Studienfach als unwissenschaftlich herausgestellt, denn es war eher ideologiebasiert, was seit Jahrzehnten in westlichen Universitäten gelehrt wurde, und dass das als alternativlos propagierte Wirtschaftssystem auf einer Sammlung einseitig entstandener Thesen basierte, die für einen kleinen Zirkel Eingeweihter einfach – praktisch waren.
Die Direktorin hatte beim Verfassen ihrer Doktorarbeit – »Monetary Capital Markets and Milton Friedman« – jedenfalls viel gelacht.
Gegen Ende der Arbeit hatte sie geschrieben:
»Wir können davon ausgehen, dass ein Großteil der vermeintlich wissenschaftlichen Fakten, die den kapitalistischen Wachstumsgedanken belegen sollen, nicht mehr als Propaganda sind. Es gibt bei einer Unternehmensbesteuerung, die sich am durchschnittlichen Privat-Steuersatz orientiert, keinen Investitionseinbruch, denn Gewinnbesteuerungen können Unternehmen investieren, wenn sie Gewinne machen. Investitionen und Wachstum werden durch Kredite finanziert, also durch Geld, das aus dem Nichts entsteht. Das Gleiche betrifft die Erbschaftsteuer. Die keiner Frist unterliegt.
Marktwirtschaft ist kein fairer Wettbewerb mit gleichen fairen Startbedingungen. Der Gewinn ist die Aneignung der Welt und wird von Großkonzernen, die von den Rohstoffen bis zum Absatz die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren, die ihre Basis ererbt haben, erreicht. Schon bald.«
Der Prüfungskommission fiel der wirtschaftswissenschaftliche Unsinn nicht auf.
Die Direktorin bestand summa cum laude.
Und entschied sich gegen eine Industriepromotion mit Stipendium. Sie hatte einen anderen Plan. Ihr Karriereweg führte über den – OECD , IWF , ESRB – und machte sie zu einer Topanalystin.
Als sie Direktorin der Schweizer Nationalbank wurde, hatte sie sich bereits radikalisiert.
Sie schaute sich die Zahlen an, die Modellrechnungen, Statistiken und die Börsenbewegungen, den Rohstoffmarkt –
und war sich sicher, dass die Welt, so wie schien, in zehn Jahren verschwunden sein würde. Wie sie einigen schien, musste man sagen. Jenen, die noch Mieten zahlen konnten, und verreisen, und deren Zähne einigermaßen in Ordnung waren, die sich an die immer häufiger werdenden seltsamen Nachrichten gewöhnt hatten, die sich nicht fragten, warum alle jetzt einen digitalen Ausweis benötigten und bei jeder Reise ein Zollbeamter Zugriff auf ihre Strafakte hatte, die im Freundeskreis besorgte Gespräche führten, darüber, dass sie sich wie in einem Endzeit-Film fühlten, aber sie redeten leise und hofften, das alles wieder gut werden würde.
Das wird schon.
Dachte die Direktorin nicht. Ihr war die Aussicht auf
Blackouts, Hunger, durch den Ausfall der Lieferketten, auf überschwemmtes Gebiet, durch das Prepper stromerten, unakzeptabel.
Die Direktorin sah durchaus Vorteile des postkapitalistischen Finanzfeudalismus in Bezug auf die Rettung des Planeten. Wenn das Wachstum auf reine Finanzprodukte und Plattformen beschränkt blieb, gab es weniger Müll. Und weniger Menschen. Und mehr Maschinen. Die leider nicht besonders global dachten. Die nicht wussten, dass ein Zuwachs an Gewinn für die eine Seite immer mit der Ausbeutung anderer zu tun hatte. Denn auch die Maschinen mussten aus Rohstoffen gebaut werden, sie benötigten Energie und waren – tot, wenn diese ausblieb.
Eine junge Frau mit einem schwarzen Kapuzenshirt setzt sich an jenem Tag an den Tisch des netten Cafés neben die Direktorin.
Es gibt einiges zu besprechen.
In
Italien, genauer in Sanremo, saß
der Boyband-Boy.
Intelligenz: leises Hüsteln
Hobbys: Bodybuilding
Gefährderstatus: keine Gefahr, siehe Punkt 1
Aggressionslevel: hoch
Langeweile: immer
Er trug eine Perücke und eine Brille.
O.k. Aber –
Warum lief er mit so einer bescheuerten Verkleidung herum?
Beginnen wir bei der sogenannten Kultur.
Ein Wort von früher –
aus einer rotweingeschwängerten Landhausstimmung, in der arthritische Männer saßen, die Finger im Mund befeuchtend in Kierkegaard schmökerten, ab und zu blieb das Gebiss am Finger hängen und so weiter. Das war Kultur und
kann weg, würden sich jüngere Menschen denken.
Kultur war etwas für die Generation Ü75 mit Schlagerevents, Ballermann und Opernarien. Dachten sich die jungen Menschen.
Alte Menschen mochte keiner.
Sie hatten den Planeten ruiniert und leisteten nichts – außer Oma. Oma war cool. Oma war fünfundvierzig.
Gut, also Kultur vermisste niemand, wusste auch kaum mehr eines, was das gewesen war, die Sachen, die in Theatern und Klubs und Kellerlokalen, in Bibliotheken, Buchhandlungen, Programmkinos, kleinen Galerien und illegalen Pop-up-Bars stattgefunden hatten.
Es gab keine kleinen Nischen mehr oder Subventionen und keine Räume, die man bezahlen konnte. Der Markt hatte gesprochen, er hatte gesagt: »Kunst ist Erfolg, Erfolg gibt allem, was überlebt, recht, und sieh nur, was für eine tolle Plattform wir hier für dich gebaut haben.
Du kannst was nachsingen oder was mit Titten machen. Oder Games oder Reise-Influencing.
Stelle deine Kunst hier rein, wir sorgen für Minizahlungen, und wenn du zu radikal wirst, ist dein Profil verschwunden.
MfG, Patreon , deine Plattform zur Selbstvermarktung.«
Was es noch gab, war der angebliche Geschmack der Massen, also das, was sie noch bei sich behalten konnten.
Zurück zur Kultur. Die Menschen hatten ein neues kulturelles Leitbild. Entstanden durch die Programmierleistung junger weißer Männer. Durch Algorithmen in die Hirne gepusht. Kultur waren TikTok-Videos und Reels und so weiter, und die Plattformen bedeuteten –
Die Demokratisierung der Kunst. Also falls die Algorithmen die Menschen teilhaben ließen und die Beiträge nicht zensierten, weil ein Körperteil, das an einer weiblichen Person hing, zu sehen war. Oder der Kunstanbietende zu wenig Follower hatte. Oder seine Beiträge nicht bewarb. Oder nicht lange genug auf der Plattform aktiv war. Oder weil er oder sie kein verdammtes netzfähiges Endgerät hatte.
Und jetzt kommen wir wieder zu dem jungen Mann mit Perücke und Brille:
Der Boyband-Boy sah aus, wie junge schöne Italiener auf alten Schwarz-Weiß-Bildern aussahen, nur eben in Bunt. Er war von Scouts auf der Straße in Neapel entdeckt worden.
Er wohnte damals in einer Souterrainwohnung mit seinen Eltern, in Klammern: arbeitslos. Die Familie gammelte vor sich hin und sah gemeinsam TV -Shows mit blonden Frauen.
Die Berufsaussichten für den Boyband-Boy und die anderen dreißig Millionen Jugendlichen aus ähnlichen Verhältnissen in Europa sahen einen Selbstmord durch übermäßigen Drogenkonsum oder eine Karriere in der Mafia vor, die das Vakuum an Jobs für junge Leute immerhin ein bisschen füllte. Karrieren wie die des Hobby-Barsängers Berlusconi, der sich mithilfe der faschistischen Organisation P2 als glänzender Vollstrecker des Konzeptes der Spaltung und Verblödung erwiesen hatte, waren selten.
Der Boyband-Boy trat nach seiner Spontanentdeckung
gegen tausend junge Männer und Frauen, Trans mitgemeint, an, um eine großartige Zukunft als Boy- oder Girlband-Star zu gewinnen. Der Battle wurde in der reichweitenstärksten Realityshow europaweit ausgestrahlt.
Und, hurra. Der Boyband-Boy gewann zusammen mit fünf anderen die Aussicht auf ein paar Jahre Ruhm und mit Glück danach eine Karriere als YouTuber oder Influencer oder TikToker oder was ein Scheiß auch immer nach seinem Karriereende angezeigt war.
Der Boyband-Boy hatte seinen Eltern im ersten Jahr seiner Karriere eine bessere Wohnung mieten können, seine Nase und Wangenpartien wirkten dank eines moderaten Eingriffs androgyner. In diesem ersten Jahr wurde seine Band, in der keine singen konnte, zur weltweit fast erfolgreichsten Boyband, was den Transjungen mitmeinte.
Sie kamen in der Erfolgsolympiade kurz nach einer Girlband aus Taiwan und einer Transgenderband aus Korea.
Zack, bum, Nummer drei. Spotify-Nest schleuderte die Songs der Band in jedes der vierhundert Millionen Ohren, die gerade mit der Plattform verbunden waren, und in die Ohren der Tinder-Grindr-BenutzerInnen, mit denen Spotify zusammenarbeitete. Die AI der Plattform erfasste jede Fanbewegung, die Verweildauer der HörerInnen, die Zahl der Fanbeiträge auf YouTube und die Zahl jener, die auf einer Partnerplattform ein Lied der Band als gemeinsames Lieblingslied erwähnten. Der Boyband-Boy hasste die Songs, zu denen sie Playback sangen und die irgendwer mithilfe von Auto-Tune und so weiter erzeugt hatte, er hasste die Choreografien, er hasste sein Leben. Das aus Presseterminen, Auftritten, dem Tourbus, der Fanpflege, der Werbung, den Beiträgen für die sozialen Medien und Massage, Sport und vielen Tabletten bestand. Dem Band-Account folgten im Moment eine Milliarde Menschen, crazy Shit. Von dem Geld, das die Band erspielte und mit Merchandise und Werbung einnahm, bekam der Boyband-Boy ein Gehalt von monatlich zweitausend Euro. Vertrag ist Vertrag. Dafür war es ihm nicht möglich, ohne Verkleidung auf die Straße zu gehen, wozu auch, Straßen wurden überschätzt.
»Ich bin dabei«, sagte der Boyband-Boy zu der jungen Frau mit einem Kapuzenpullover,
die sich neben ihn gesetzt hatte.
Während
zur gleichen Zeit
die Grundbuchamtfrau
Hobby: Ordnungsregister, Listen, wertvolle handgeschöpfte Papiere sammeln
Gesundheitszustand: hoffnungslos
Sexualität: What?
Familienstand: Lebt in einer WG , den Umständen geschuldet
in London wie jeden Tag im Dienst ihrer Majestät stand.
Sie arbeitete bei Her Majesty’s Land Registry. Sie verwaltete Besitz von Menschen oder Schattenbank-Inhabern und Hedgefonds-Agenturen, die Immobilienportfolios anlegten, um irgendwelchen Flachpfeifen in Schweden einen schönen Lebensabend zu sichern.
Sie kauften alles, was man anfassen konnte. Parks, Fabriken, Landwirtschaftsflächen oder eben Immobilien. Häuser, Blocks, ganze Dörfer – Hauptsache, man konnte es ablecken.
Die Grundbuchamtfrau war für Eigentumsurkunden in London, in England und Wales zuständig, die den Besitz von Häusern beurkundeten, die vorher von normalen Leuten gereinigt wurden und ein wenig angepinselt, um dann im Portfolio zu landen. Oder Neubau-Betonbunker für Milliardäre aus Katar und Slowenien, die dann leer standen,
und Immobilien für Banker, die ihr Eigentumsrecht in Form von attraktiven Urkunden registrierten und es in ihrem Tresorraum lagerten.
Es war kompliziert. Mit dem Besitz, denn
es gab kein absolutes Eigentumsrecht in England und Wales. Das Land gehörte der Krone und wurde als »freehold« oder »leasehold« zum großzügigen Lehn gemacht.
Die Grundbuchamtfrau konnte die relevanten Gesetzesartikel
Land Registry Act, Law of Property Act, Settled Land Act, Trustee Act, Administration of Estates Act, Land Charges Act
auswendig. Sonst konnte sie nicht viel – meine Güte, warum muss man auch etwas können, dachte sie mitunter, wenn sie freihatte, am Sonntag, und im Park war und künstliche Enten beobachtete. Sie hätte ihr Leben mit der Betrachtung von Bäumen, Tieren und dem Lesen irgendwelcher Bücher verbringen können, aber
das war für sie nicht vorgesehen. Die Grundbuchamtfrau wohnte in einer Wohngemeinschaft, die heute Clusterwohnung in privilegierter Gegend genannt wurde. Das Gebäude gehörte der Firma Apax. »Seit fast fünfzig Jahren arbeitet Apax daran, beim Aufbau von Unternehmen über das traditionelle Private Equity hinauszugehen.« Prost.
In ihrem Cluster teilten sich zehn Menschen eine Küche und ein Bad, und jeder hatte sieben Quadratmeter privacy. Und nur eine Stunde Anfahrt in die Innenstadt. Nur eine Stunde, morgens um sieben, um die Papiere von Kapitalisten in Hefter zu klemmen. Das dachte die Grundbuchamtfrau nicht, sie fragte sich nicht, warum gerade ihr nur so ein miserables Leben zustand, warum sie getrieben von BürgerInnenpunkten kaum duschte, die Heizung nicht andrehte, um ein nachhaltiges ökologisches Leben zu führen. Warum sie nur Möhren und Kartoffeln verputzte, um ein Zeichen gegen die Massentierhaltung zu setzen, die in jedem Jahr zunahm, trotz ihres Möhrengefresses. Und warum es keine kleinen Bars mehr gab, vor denen sie mit Leuten, die ihr ähnelten, rauchend stehen konnte. Sie rauchte nicht mehr. Keiner rauchte mehr. Selbstzerstörung wurde wegen unsolidarischen Verhaltens mit Punktabzug bestraft. Oft wurden Rauchende angegriffen und zusammengeschlagen, die Menschen hassten abweichendes Verhalten. Sie beobachteten einander. Meldeten Verstöße gegen die Mülltrennung, den Besitz von Benzinfahrzeugen, das Überqueren von Ampeln bei Rot, das Wegwerfen von Kaugummis. Und die Verwendung von falscher Sprache. Nun stand sie, ohne zu rauchen, mit Leuten, die ihr glichen, vor trostlosen Restaurants – Subway oder Pizza Hut – und betrachtete die Nachhaltigkeit der Kleidung von den Leuten, die ihr glichen, die bei allen aus Secondhandläden in irgendwelchen Kellern stammten und auch so rochen.
Und wenn das alles so modern und nachhaltig war, wenn es so eine gute Zeit zum Leben war, wenn man als weißer Mensch dankbar für das Privileg seiner weißen Haut sein sollte, warum zum Teufel wollte die Grundbuchamtfrau dann morgens nicht aufwachen, sich nicht bewegen, nicht liegen oder stehen, und das Wasser wurde immer öfter abgestellt, und irgendwo brannten immer Flächen so groß wie Länder ab, und Wirbelstürme trugen Häuser ab, und Diktatoren brüllten nach dem Nationalstaat, und
warum, verdammt, war sie so voller Hass.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche«, sagte eine freundliche Person mit einem Kapuzenshirt zu ihr, als sie sie ansprach vor dem Eingang des Amtes, in dem sie gleich neun Stunden im Keller Papiere ordnen würde.
»Ich habe da eine attraktive Alternative für Sie.«
Und der
Commissaire général
Sexualität: homosexuell
Familienstand: verheiratet
Hobbys: zeitgenössische Kunst, Hip-Hop
Gefährderstatus: über jeden Zweifel erhaben
Gesundheitszustand: Wut
der französischen Nationalpolizei war innerlich zerrissen. Das sagte man so, wenn eines nicht weiterweiß. Oder – sehr gut weiß, was kommen wird, und keinen Ausweg aus dem, was kommen wird, sieht.
Der Commissaire général war direkt dem französischen Innenminister unterstellt. Und nun bald Pensionär. Mit einer sogenannten – Pension. Der Commissaire général hatte zu oft Kontakt mit reichen Menschen gehabt, um zu wissen, wie seine nächsten dreißig Jahre aussehen würden.
Nicht reich. Seit seine Ersparnisse verschwunden waren, die er in Form von Gold in seiner Wohnung an einem sehr sicheren Ort verwahrt hatte. Aber wir holen ein wenig aus: Der Commissaire général war ein ordentlicher Beamter.
Er hob Papier vom Straßenrand auf, und als Kind rettet er aus dem Nest gefallene Vögel. Oder Katzen aus dem Gully. Egal. Er hatte zu viel gesehen. Die Einsätze damals, als Fahrende auf einem Stück Schlamm zwischen den Autobahnen untergebracht worden waren. Die französischen Frauen und Männer aus ehemaligen Kolonialgebieten, die in Gettos hausten, weil sie keine Chance hatten, in einem netteren Quartier unterzukommen. Der Hass der Franzosen aufeinander, immer neu befeuert und inszeniert von den jeweiligen Ministerpräsidenten, männlich. Kleine Männer, immer waren kleine Männer das Elend des Landes. Kleine Männer, die das drohende Verschwinden der Spezies zu persönlich nahmen, aus der Oberschicht stammten und einen dubiosen Umgang mit Wirtschaftskriminellen pflegten, die gut gekleidet waren, Affären hatten – In ihnen fand sich der durchschnittliche französische, weiße Mann. Im letzten Jahr hatte der Commissaire général seinen Jahresurlaub mit einem Besuch auf der Außenstation in Französisch-Guayana verbunden. Karibik. Schön, hatte der Commissaire général gedacht, die Badehose und seinen Partner eingepackt.
Die beiden Männer waren mit staatlichen Würden empfangen worden. Und hatten eine offizielle Besichtigungstour der Insel gemacht. In Limousinen zur Dschungelkampfschule der Fremdenlegion, deren Kader, dem tropischen Klima geschuldet, immer wieder durch Ausfälle der Humanressourcen geschwächt wurde. Die Legion, ein Haufen scharf bewaffneter Vollidioten, waren zum Schutz des Weltraumflughafens, der Raketenabschussbasis Kourou, auf der Insel stationiert. Der Commissaire général fand es zum ersten Mal seltsam, dass das riesige, Tropenwald fressende Raumfahrtzentrum so weit weg vom französischen Mutterland seinen Platz gefunden hatte.
Sie besichtigten die Teufelsinsel, französische Strafkolonie bis in die Fünfzigerjahre, auf der siebzigtausend Menschen in kleinen Zellen ohne Dächer untergebracht worden waren – der Sonne, Nässe und den Insekten ausgesetzt. Einige Insassen hatten das sogar überlebt.
Er besichtigte die geplante Goldmine, für die noch mehr Regenwald verschwand, und abends fragte er sich, was da eigentlich los war. In einer französischen Kolonie im 21. Jahrhundert.
Eine der ärmsten karibischen Inseln, auf der fünfunddreißig Prozent der Menschen täglich weniger als einen Dollar zur Verfügung hatten. Mit der höchsten Mordrate und einer Strafmündigkeit ab zehn Jahren. Das war französisches Hoheitsgebiet mit dem schlechtesten Bildungs- und Gesundheitssystem, mit absurder Kriminalität, und in dem Chaos fand also das Milliardenprojekt der europäischen Raumfahrt seinen Weg ins All.
Das Space-Zentrum wurde ausgebaut, erweitert, und was verschwand? Richtig, noch mehr Regenwald. Die Aktiengesellschaft Arianespace erhielt Staatsaufträge aus Europa, und –
Als er wieder in Frankreich war, begann der Commissaire général zu recherchieren.
Überwacht wurde er dabei durch einen Staatstrojaner. Entweder von FinFisher oder irgendeinem anderen Werkzeug.
Was egal war, denn fast alle Produkte gehörten jetzt Marcel, dem dicken Deutschen.
Marcel –
»Ja, das ist so, wenn ich das kurz erklären kann:
Die Inlandsgeheimdienste schleusen die Trojaner durch gezielt geduldete Sicherheitslücken in Programmen. In beliebig viele Rechner, im Zweifel – in jeden, den sie bekommen können.
In diesem Fall war es ein MS -Word-Update auf dem Rechner des Commissaire général. Durch einen Kamerazugriff erfuhr ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes vom Goldversteck des alten Schlawiners, nun war die Rente weg. Schade.«
»Es gibt«, sagte
der Commissaire général,
unterdessen wieder in Paris –
»viele wie mich in allen Ländern Europas. Wir kennen uns von Übungen, Tagungen – wir sind wütend. Kennen Sie den Verhaltenskodex, auf den wir alle mehr oder weniger geschworen haben?
›Der Polizist oder der Gendarm füllt Anweisungen mit Treue und Ehre aus und befolgt Befehle, die er von der befehlshabenden Behörde erhält, es sei denn, dass die Ausführung von Befehlen offensichtlich rechtswidrig ist und die öffentlichen Interessen ernsthaft gefährden könnte.‹
Heißt es in den Statuten für Angehörige der Staatsmachtvollstreckungsbehörden.
Fällt mir nur so am Rande ein«, sagte der Commissaire général zu dem jungen Menschen mit einem Kapuzenpullover, der ihn bei seiner Runde mit dem Hund angesprochen hatte.
»Von wie viel Geld haben Sie gesprochen?«, fragte der Commissaire général.
Es ist ein wenig heiß,