5 Monate vor dem Ereignis,

Wohlgefühl war es, denn

da lag Leo neben Hagen in Nizza in einem Hotelzimmer. Sie waren jetzt seit zwei Tagen zusammen. Und machten nichts außer – zusammen zu sein. Beim Aufwachen, Rumlaufen, Essen und Schlafen.

Und mehr brauchte es gar nicht für eine Entspannung.

Leider würde Leo das Wohlsein vergessen und weiter versuchen, sich und sein Leben, sein Vermögen und seine Gefühle zu optimieren.

Leo blätterte im Buch des Papstes: »Fratelli tutti«. Ein Buch gewordener zarter Aufschrei zur Reform der Vereinten Nationen – weniger Militärausgaben und eine bessere Behandlung von Flüchtlingen und Frauen.

Das war lustig. Auf den letzten Metern drehten Männer oft durch. Nur nicht, ohne Spuren zu hinterlassen, abgehen. Nur nicht einfach verschwinden, und wenn schon, dann mit dem guten Gefühl, noch mal so richtig ein Chaos angerichtet zu haben.

Leo verstand den Papst, er verstand jeden, der nicht einfach von der Welt verschwinden wollte. Auch ihm war es

nie um ein Vermögen gegangen, denn auch jetzt, mit einem stattlichen Privatbesitz, den er zu Stein und Fabrik hatte werden lassen, war er im Vergleich zu seinen Klienten ein Nichts. Leo genoss die Macht, die er über Menschen hatte, die sich für unantastbar hielten. Er wusste, wo wer welche Anlagen hatte, welche Tricks er oder sie verwendete, um ihr Land um die Steuern zu prellen, er kannte den neuen Chef der Börsenaufsicht. Mit dem er früher eine kurze, aber intensive Liebesgeschichte gehabt hatte.

Der Börsenaufsichtschef

Sexualität: pansexuell

Hobbys: Lady Gaga

Einkommen: durch zehn verschiedene Aufsichtsratsposten abgesichert

Charakterisierung: aggressiv

Gesundheitsstatus: infarktgefährdet

hatte beim Sex, aber auch bei vermeintlichen Niederlagen,

immer Merton Miller zitiert: »Genau genommen bestand nicht das geringste Risiko – wenn sich die Welt nur nicht weitergedreht hätte.«

Damals war der Börsenaufsichtschef noch bei der Hypo Real Estate, der Bank, die im Schnelldurchlauf das System der Systemrelevanz bebildert hatte.

Risikopapiere, Totalpleite, Rettung durch den Staat. Normal. Allein das Ausmaß war beträchtlich. Dreistellige Milliardensummen, man kann durchaus stolz betonen, dass jeder Mensch in Deutschland seine Banken mit durchschnittlich 3000 Euro gerettet hatte. Nach der Pleite. Hatte der Börsenaufsichtschef seine Gewinnbeteiligung eingeklagt, seine Aktienverluste dito. Gewonnen.

Danach war er in der Beratung von Unternehmen, die mit Afrika handelten, sprich: Rohstoffe abbauten, Diktatoren unterstützten (oder unterstützen lassen),

dann, um Steuern zu sparen beziehungsweise keine Steuern zu zahlen, Stiftungen gründeten, die sich der Entwicklung der Wirtschaft in Afrika widmeten, Milchpulver und so weiter –

tätig.

Nun war er also Börsenaufsichtschef geworden, und der Satz, mit dem er in den Meldungen zitiert wurde, war:

»Ich sorge mich ernsthaft um den sozialen Wert der Finanzbranche«,

gab zu denken.

Aber wem nur?

Leo zum Beispiel,

denn

die Finanzbranche, die Industrie, die aus nichts den Besitz der haptischen Welt zauberte, war jetzt auch Vorreiterin im Klimaschutz.

Den Anlegern standen viele Produkte mit einem grünen Siegel offen. Elektromobile, nachhaltige, privat geführte Haftanstalten, Überwachungssoftwarefirmen, Smartmeter, Atom- und Gaskraftwerke großartig. BlackRock hatte nachhaltige Anlagen im Portfolio, und alles zusammen war: Bullshit.

Wenn einer die Welt retten wollte, dann hockte er mit Schildern auf der Straße und investierte nicht. Oder sie. Seine Meinung.

Und nun fiel die Sonne orange durch die Markise auf der Terrasse.

Leo wusste, dass er nie aufhören würde zu arbeiten. Und das hieße: Er würde nie öffentlich mit Hagen zusammen sein.

So, anderes Thema.

Leos Kryptowährung stand vor dem Eintritt in den Markt. Das hieß für seine KundInnen: neben den Immobilien, dem Boden, dem Rohstoff noch das Geld besitzen. Eine Leitwährung, im besten Fall, deren Wert und Gegenwert man selber festlegte. Privatgeld. Nicht dieser alberne Versuch von Zuckerberg und Geheimdiensten, sondern eine Währung fest in der Hand der fünfzig großen Player. Also wie jetzt. Nur ohne das lästige Papiergeld, an das die Massen immer noch glaubten, an die Bakterienlappen, wie Leo sie gerne nannte.

Hagen räusperte sich: Hör mal, sagte er, und las laut aus einem Interview mit dem Co-Direktor der »MIT Initiative on the Digital Economy«, Andrew McAfee, vor:

»Würden wir weniger verbrauchen, würde die Umweltverschmutzung nicht geringer. Wollen die Menschen wirklich eine von oben zentral geplante, dauerhafte, tiefgehende Rezession?«

Hut ab, alter Freund, dass so jemand Professor ist, kann man nur als Siegeszug des Schwachsinns bezeichnen. Leo fand Technokraten grauenhaft. Sie waren wie Koks ohne Körper. Jeder Kipppunkt der Erde aufgehoben durch die Bullshit-Technologien. Die es noch nicht gab. Spinner.

Leo cremte sich den sportlichen Körper ein.

Die Sonne stand sehr steil im Raum,

und

zur gleichen Zeit waren es auf Freias Jacht, die in einem der teuren Hafenplätze in Portofino ankerte, um die 40 Grad. Es gab keinen Schatten hier in dieser unsinnigen Stadt, die nicht einmal eine Stadt war und nicht einmal unsinnig. Hier war man nur, weil die anderen auch hier waren. Außer den Deutschen, die blieben unter sich am Gardasee. Entweder war der Tümpel so beliebt bei ihnen, weil andere Landsleute da waren, oder weil an seinen Ufern die Hochburg der Faschisten gewesen war und der Atem der Gegend noch warm von ihnen war. Sozusagen, hach, Freia und ihre verrückten Sätze.

Die neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano war zusammen mit Hitlers Marionette Mussolini in Salò angesiedelt. Gewesen.

Gleich neben D’Annunzios tempelgleicher Villa. Ein winziges Männchen, so viel Bodyshaming muss gestattet sein, der sich mit allem umgab, was größer war als er: Flugzeuge, Schreibtische, Tanker und Hunde. Und Mussolini.

Freia hätte einiges darum gegeben, jetzt von gepflegten Machern umgeben zu sein.

Aber da waren nur die behaarten Sixpacks der Oligarchen, die auf ihren Jachten neben ihr ankerten.

Freia schenkte sich ein Glas Rosé mit zartem Körper ein, der hervorragend zu den Schalentieren passte, die ihr Koch gezaubert hatte. Freia war Alkoholikerin, aber gepflegt. Ab und zu übergab sie sich. Aber das nur am Rande.

Gleich würde es eine Onlinekonferenz geben, die man aus Sicherheitsgründen immer auf offener See ausführen sollte. Auf der Agenda standen die immer gleichen Themen – wie kann man das Krypto-Monopol von den US -Investoren Andreessen Horowitz sprengen und nach Europa verlagern. Muss man in die bewaffnete Raumfahrt einsteigen. Die europäischen Partner in der forschenden und umsetzenden Nanotechnologie mussten unter Druck gesetzt werden, auch da musste man gegen das asiatische Freihandelsabkommen kämpfen,

Asiaten machten Freia immer richtig wuschig.

Die Wirtschaftsindikatoren der Kommunisten zeigten in den letzten drei Jahren ein Wachstum von rund fünf Prozent, während das Eurozonenwachstum kontinuierlich um zehn Prozent gesunken war.

Die Entwertung von Euro und Dollar nahm zu, Weltuntergang, schrien Freias Berater, eine stattliche Brigade von Herren in teuren Anzügen.

Aber das fühlte sie doch gar nicht. Diese hysterische Weltbetrachtung. Die fand nicht statt, auf dem Meer schaukelnd. Hier war der Bauch des Oligarchen neben ihr die einzige Bedrohung. Und all die schrecklichen Szenarien, die Berater entwarfen, die Schlacht-Triptychen, die sah Freia nicht, denn der Himmel war so blau wie –

Also zurück zur Bedrohungslage durch die Menschen. Die in den Schilderungen ihrer Berater wie Millionen Heuschrecken durch die Luft flogen, um Freias Besitz und den ihrer Lieben zu essen. Freia hatte nichts gegen Menschen. Und nun, schon leicht einen in der Krone, erinnerte sich Freia an ihren ersten Kontakt mit ihnen. Als sie zufällig das Personal in seinen Umkleideräumen beobachtet hatte. Sie war fasziniert von der plumpen Kleidung, den schlaffen Körpern und fragte ihren Vater aufgeregt, was das war, das sie da beobachtet hatte.

»Nichts, Kind«, sagte der Vater. »Das sind Bedienstete. Man muss nett zu ihnen sein, streng, und jede Art des privaten Gespräches unterlassen, sonst verlieren sie den Respekt. Und wenn Angestellte keine Angst vor ihren Besitzern haben, werden sie dreist. Denn eigentlich wollen sie uns töten. Freias Vater berichtet von Fällen, in denen das Personal seine Herrschaft gelyncht, massakriert oder gegiftmordet hatte. »Sie hassen uns, meine Tochter, erinnere dich immer daran.« Hatte Freias Vater ihr noch auf dem Totenbett zugeflüstert. Freia hatte es nie vergessen.

Die Schlampe,

dachte Marcel in Portofino unzusammenhängend.

Und versuchte, seine Nerven mit Alkohol zu beruhigen, ehe er auf die Jacht der alten Nazibraut, wie er Freia nannte, gehen müsste. Um wieder einmal mit verzweifelten Reichen darüber zu diskutieren, wie sie noch reicher werden könnten. Man musste das ernst nehmen.

Sie hatten eine real erlebte Todespanik, wenn sie daran dachten, nicht noch reicher zu werden. Und irgendwie verstand er sie. Das Vermögen hatte sich auch für ihn zu einer abstrakten Größe gewandelt, die nur dazu da war, sich zu vermehren. Marcel hatte keine Ahnung, was passierte, wenn man das Rennen gewann. Der reichste Mensch der Welt zu sein. Hieß Respekt, Unantastbarkeit, wenn auch nur eine eingebildete.

Marcel war gereizt. Zum einen stiegen die Preise für Halbleiterplatten ständig, das traf zusammen mit dem Einbruch seiner Firmenaktien an den Börsen.

Zwei Auswirkungen – ein Problem.

Die Rohstoffe und die Hacker.

Reden wir von Rohstoffen. Marcels Produkte liefen auf Hardware, die für ihr Entstehen ungefähr dreiundzwanzig Mineralien, die kurz vor dem totalen Verschwinden standen, benötigten. Dysprosium, Neodymium, Germanium für Infrarotgeräte, Kobalt usw. Für die Herstellung von Kommunikationssystemen benötigte er ein Dutzend seltene Materialien, man konnte sie gleichsam Konfliktmaterialien nennen, die immer wieder zu Kriegen führten. Also in den Ländern, wo sie abgebaut wurden. Im Kongo zum Beispiel, aber der war – weit weg.

Die Ware wurde in Minen, mit denen seine Firmen Verträge hatten, abgebaut. In Tonnen von Schlamm verbargen sich immer nur sehr geringe Mengen brauchbarer Rohstoffe, und um eine Tonne brauchbares Material zu fördern, entstand eine Tonne radioaktiver Abfall. Und fast 100.000 Gallonen oder wie man in Deutschland sagen würde: 380.000 Liter saures Wasser, das die Seen in der Umgebung von Leben befreite. Es starben auch viele der jungen Menschen im Bergbau. Man könnte sie Kinder nennen, aber das Alter war bei Ausländern so schwer zu schätzen.

Neben den Rohstoffen war die Ökobilanz seiner Software zum Ziel der KlimaaktivistInnen geworden. Der Einsatz einer Chat-App erzeugte umgerechnet so viel CO 2 wie fast hundertdreißig Langstreckenflüge. Zehohzwei, alle redeten davon, plärrten das Wort, das sie mit dem Bösen verbanden. Es war nicht einfacher geworden, seit Menschen wie er den Massen die Hirnvernichtungswaffe der sozialen Plattformen in die Hände gegeben hatten. Auf denen Menschen Anleitungen gaben, wie man das Menschsein überwinden konnte. Mit der Entfernung von Poren zum Beispiel, Poren waren das neue CO 2 . Dafür klebten sie sich Eisenbahnschwellen aus Haaren über die Augen. Oder sie brüllten sich an, »Zehohzwei du Sau!«. Eine Bezos-Rakete verbrauchte eine Tonne Zeug, das mit dem Nebenprodukt von 76 Tonnen giftiger Materialien hergestellt wurde.

Damit flog er also ins All, um dort nach Rohstoffen zu suchen. Süß.

Das nächste Problem war Marcels Beteiligung an Google Nest. Die Aktien der smarten Thermostate gingen gerade durch die Decke.

Nach unten.

Vermutlich lag es an diesen Videos,

die vom

RCE -Gruppenchat in alle Medien gespült worden waren.

Die Wahrheit über Smartmeter.

Dazu muss man wissen, dass

in fast allen Neubauten, Clusterwohnungen, kleinen Häusern in Europa smarte Thermostate eingesetzt wurden, denn es gab Steuerersparnisse für die Bauherren, die Finanziers, die Fonds – und Ökopunkte für den Rest für die Verwendung der Überwachungs-Strommesser.

Begonnen hatte alles mit der Klimakampagne der EU . Das Klima, das in Gefahr war, ja es war die einzige Gefahr – denn

seit einiger Zeit wurde die berechtigte Angst vor dem Klimawandel zur monströsen, panischen Angst vor dem Klimawandel. Bilder von vertrockneten Äckern, verhungerten Tieren, verdursteten Menschen ließen Kinder nicht mehr schlafen, trieben junge Menschen in die innere Militanz, ließen Erwachsene und Alte wütend die Fäuste erheben, wenn sie ein Flugzeug erblickten.

Da die Menschen panisch jeden Morgen die Hand aus dem Fenster, wenn sie über Wohnungen mit Fenstern verfügten, hielten, um zu prüfen, ob sich ihre Stadt schon in eine Savanne, oder einen Fluss, verwandelt hatte.

Es gab kaum mehr ein anderes Thema als die Berichte von Umwelt- und Klima-Katastrophen. Die soliden öffentlichen Medien seines Herkunftslandes waren wie die meisten Medien nur noch zur Hysterie-Erzeugung verwendbar. Es hatte mit der Hysterie um den islamischen Terror begonnen, im Anschluss um die Flüchtlinge. Vier Jahre lang war jeden Morgen ein Terrorattentat beworben worden, Bomben, Verwüstung, Tränen, und dann waren sie wie über Nacht verschwunden, die Islamisten und die Bedrohung. Im Anschluss sahen die Massen Flüchtlingsströme, nicht abreißend, keine Menschen, oder Erklärungen, warum sie ihre Heimaten aufgaben, sondern Massen, die in europäische Länder eindringen wollten, ohne Sozialabgaben geleistet zu haben. Danach zogen Fast-Naziparteien ins Europäische Parlament ein, und die Berichterstattung war über Nacht beendet worden. Seit der menschlich erzeugte Klimawandel bekannt war (Siebzigerjahre), waren Meldungen darüber weit hinten in den Medien verstaut gewesen. Nun gab es tägliche Sondersendungen von morgens an.

Die Verursacher waren auch ausgemacht, es war: der Mensch. Der Bürger, jede Einzelne.

Die Eigenverantwortung des Einzelnen bedeutete in Europa, dass fast die Hälfte der halben Milliarde im Winter froren, weil sie kein Geld für eine Heizung hatten,

dass die Zahl der Obdachlosen inzwischen bei fast zwanzig Millionen lag, die Zahl der Arbeitslosen in klimaschädlichen Berufen

(und damit bald Obdachlosen) siebzig Millionen betrug.

Aber –

Verzichten kann wieder Spaß machen. Lernten die Massen, und dass uns die Technologie aus dem Elend führen würde. Neben allen großartigen neuen Apps, mit denen der Einzelne seinen Beitrag leisten konnte. Durch den Aufbau eines gesunden Muskel-Fett-Verhältnisses, das vor übermäßigem Schwitzen oder Frieren schützte. Mit klimaneutraler Ernährung, mit einem Punktesystem für Verzicht (wenn man drei Tage nicht heizte, konnte man diesen Verzicht durch den Kauf eines Tierteiles zum Braten ausgleichen),

es gab nun – smarte Thermostate, die die Temperatur nach den Gegebenheiten des Wetters regulierten. Das bedeutete: Ersparnis für alle und ein gutes Gewissen obendrein.

Aber

die Videos, die nun viral gingen,

zeigten schlafende Familien in einer Neubausiedlung, wie es sie überall in Europa gab. Viel klimafreundlicher Zement, Fenster, kleine Außenräume, wabengleiches Verstauungselend. Glückliche Familien lagen in einer normalen Nacht da, die Fenster geschlossen wegen der Klimaregulierung der Innenräume. Während sie schliefen, regulierte das smarte Thermostat sich auf 40 Grad Raumtemperatur.

Am Morgen fanden die benommenen Menschen die Auswirkungen des fürsorglichen Thermostateinsatzes in ihren stickigen, heißen Räumen – tote Familienangehörige, inklusive Babys. (Klaviermusik)

Es gab den Film auch in einer Erfrierungsvariante und die Betrachtenden erfuhren von einem Plan der Bevölkerungsreduktion durch smarte Haushaltshilfen, smarte Türschlösser, Storen, Kühlschränke und so weiter.

Die Aktien fielen nicht nur.

Sie kollabierten,

doch

Marcel in Portofino wusste um den menschlichen Verstand und dessen überforderten Zustand. Die Sache würde in zwei Tagen vergessen sein.

Marcel wackelte über die Gangway auf die Jacht. Schuhe aus. Und das, meine Damen und Herren, ist doch der Gipfel der Spießigkeit, dass man an Deck dieser dämlichen Boote, 100 Millionen Euro Minimum Kaufpreis, in seinen löchrigen Socken herumlaufen musste wie in einer Hausmeisterwohnung. Marcel hasste die Zusammentreffen mit Freia, denn er spürte in ihrer Anwesenheit die Bedeutung des Wortes Klasse. Freia erinnerte ihn immer an alte deutsche Filme. Ihr überstreckter Rücken lud dazu ein, ihn zu brechen.

Marcel wollte diesen Frauenautomaten einmal außer Kontrolle erleben, doch seine Neugier war nicht stark genug, um mit ihr sexuell zu interagieren.

Die Bediensteten auf dem Boot trugen Anzüge mit Ankerwappen. Das Geschirr war Rosenthal oder Meißner, und

Marcel musste sich beherrschen, um die Teller nicht herumzudrehen. Freia trug ein Sommerkostüm und fleischfarbene Strümpfe.

Marcel wollte ihre Beine absägen.

Jeder Atemzug Freias schien zu sagen: »Es ist meine Luft, meine Welt, und du bist nur darin, um mir zu Diensten zu sein.«

Kein Wunder, dass die Leute aus ihren Kreisen kein Interesse daran hatten, irgendwas von ihrem Vermögen an die Leute abzugeben, denen sie früher einen kleinen Acker zugeteilt hatten. Nachdem sie ihnen die Äcker zuvor abgenommen hatten. Egal. Weg ist weg.

Marcel konnte sich Freia hervorragend beim Auspeitschen vorstellen. Sie würde Tee aus ihrem, was auch immer, Porzellan trinken dabei.

Als Marcel, um seiner Rolle als alerter Tech-Profi gerecht zu werden, angeregt hatte, das Meeting auf Jachten stattfinden zu lassen, auf hoher See, abhörsicher, falls unverwanzt, hatte er an Peter Thiels Katamaran vor St. Barth gedacht. Marcel hatte eine Obsession mit dem attraktiven Überwachungsarchitekten. Allein die Namen des von ihm gegründeten Unternehmens zeugten vom Geisteszustand ihres Nichterfinders. Hängen geblieben im Stadium eines pubertierenden Gamers mit einem tüchtigen Hass auf die Welt, auf Menschen und auf sich selbst. Das Einzige, was der Firmengründer mehr verachtete als die Leute, war das Alter, also seins, Leakingplattformen und Kommunisten.

Seine Software Gotham wohnte in allen Geheimdiensten, in Militärs und in der Polizei, bald – weltweit. Die Gesundheitsbehörden arbeiteten mit ihm, in den Banksystemen steckte das Foundry -Programm, was praktisch war, denn alle Palantir-Produkte waren so mit den USA verbunden. Stichwort Anschubfinanzierung. Thiels Software – wobei Thiel natürlich nicht brillant programmieren konnte, sein Talent lag in der Geldvermehrung durch legalen Steuerbetrug und durch Rentensparmodellgaunereien – war beim Brexit zum Einsatz gekommen, und der smarte Inselbesitzer war immer noch ungehalten über den Imageschaden, den Assanges WikiLeaks seinem Unternehmen hätte zufügen können.

Nun, Assange war – weg.

Wie auch immer, an die hundert Leader würden gleich auf Jachten in verschiedenen Meeren

hocken, und versuchen, sich auf irgendetwas zu einigen, das jeder von ihnen nützen könnte. Das war

unwahrscheinlich.

»In drei Wochen

ist das Bargeld weg« –

sagte Ben zur gleichen Zeit in Corcapolo.

Die Chefin der Europäischen Zentralbank hatte die Einführung eines Krypto-Euro bekannt gegeben.

Der International Monetary Fund, oder sagen wir der Internationale Währungsfonds, IWF ,

hatte eine Studie veröffentlicht, in der es hieß, dass eine grenzübergreifende Bargeldabschaffungspolitik einer nationalen eindeutig vorzuziehen wäre.

Ben hörte dem Treffen in Portofino zu.

Denn

Freia hatte auf ihrem Pad die Threema -App geladen, die absolut sicher war.

Na ja, fast, denn in Deutschland und damit in der EU waren Gesetze zu Quellen- TKÜ und Chat-Kontrolle verabschiedet worden. Eine kraftvolle Antwort auf verschlüsselte Kommunikation.

Die bedeutet, dass Sicherheitslücken in diversen Diensten, auf die der Staatsschutz zugreifen musste, wenn er seine Trojaner in die Geräte von Gefährdern, also allen, transportieren wollte, offen bleiben. Mussten.

Gut für irgendwen, schlecht für Freias Gerät, denn nun war Ben drin.

Zeit, um über Technik zu reden. Um genauer zu sein – über Codes.

Die keinen interessierten außer einer Randgruppe. Was schade ist, denn man kann so schöne Sachen machen. Im Cyberspace.

Seit über einem Jahr lief die Geldumverteilung,

Ben hatte damals einen Blog auf Wordpress-Basis aufgeschaltet. Also eine Site, die vorgab, eine Wordpress-Site zu sein. Die großartige freie Software war die meistverwendete weltweit. Und die am meisten angegriffene. Jeden Tag versuchen Hacker oder automatisierte Hacks, oder die Geheimdienste, eine Lücke im System von Wordpress zu finden, durch die sie gleiten können wie nasse Lurche, um irgendwas zu machen, im Zweifel erst einmal einen Trojaner zu platzieren.

In der CVE -Datenbank hatte Ben herausgefunden, welche Angriffe auf welche Sicherheitslücken in Wordpress gerade stattfanden,

in seinem Blog-Logbuch hatte er die Auswertungssoftware gestartet.

Und dann beobachtet, wie sich Würmer und Trojaner durch das offene Küchenfenster drängen. Versuchten.

Ben hatte einen Proof-of-Concept-Code zum Angriffscode durchprogrammiert und einen CIA - Proxy -Absender eingebaut. Ein wenig Spaß nebenbei. Er hatte einige riesige Bot-Netze mit zwanzig Millionen Bots zusammengelegt. Für später.

Und währenddessen hatte Maggy, wie Ben geschützt durch Tor- und extra VPN -Zugang, mit Bots nach Bank-IP -Adressen und Wordpress-Sites gesucht.

Dazu muss man wissen,

dass

fast alle Entscheider in der Bank-IT und der Sicherheit den Vorgaben der großen Standardisierungs- und Regulierungsbehörde NIST , dem National Institute of Standards and Technology, folgen und an den Schutz ihrer Systeme durch Firewalls glaubten. Eine großartige Erfindung, die einige Unternehmer sehr reich gemacht hatte. Die ihre Gewinne im Anschluss an die Reichwerdung in Stiftungen verbargen, die sich für Freiheit im Netz engagierten.

Firewall also klang hervorragend. Nach brennendem, meterhohem Dornengestrüpp in der Wüste, in der eine böse Sonne dräuend am Firmament aufging.

Sie erzeugten ein gutes Gefühl und schützten hervorragend gegen Feinde von außen. Alle hatten gelernt, dass der Feind immer von außen kommt – der Terrorist, der Ausländer, der Virus –

darum ging Bens Angriff logischerweise ins System.

Ins Backend , wo die Bankgeschäfte abgewickelt wurden.

Ben hatte seine Trojaner mit einem aktuellen Update nach im CVE bekannten Lücken, die es immer in irgendeiner Systemkomponente gab, aufgestellt und als es so weit war, marschierte seine Anarchistenarmee in die demilitarisierten Zonen des Banksystems ein. Von dort wimmelten sie in das Banking- Frontend in der Demilitarized Zone (DMZ ), und von da weiter in den ungeschützten SWIFT -Bereich als Man-in-the-Middle , der Kunden und Bank verbindet. SWIFT wurde von 10.500 Banken genutzt und war eine Kapitalistengenossenschaft mit Sitz in Belgien.

Süß.

Die Banken nutzten meist CORE -Banking-Software in BASIC geschrieben, was ungefähr den Grad ihrer Perfektion beschreibt. Sagen wir Bank A arbeitet mit der von Grace Hopper geschriebenen COBOL -Programmiersprache, benutzt IBM -Mainframe-Rechner mit z/OS , dazwischen ist das SWIFT -Netzwerk. Davor und danach unverschlüsselt. Prost.

Bank B benutzt zum Beispiel Temenos Transact (T24), und diese Core-Software (in BASIC ) läuft auf Red Hat Linux.

Das hätte bereits genug sein können, aber Ben war damals im Schwung und bereitete den zweiten Hack vor, der direkt auf den Mann, auf den Banker zielte, der die Kunden ab 100 Millionen betreute. Er hatte einen PC , natürlich hatte er einen PC , auf dem natürlich Windows lief, und eine Firewall oder zwei, und natürlich Palantir, Kenne-deine-Kunden-Software oder auch KYC genannt. Der Banker kannte seine Pappenheimer auch, denn er war der Banker, wie stolz das klingt, der mit den wichtigeren Kunden sprach, mit den Oligarchen oder den Chefs der Family-Offices – der Gesellschaft, die sich ausschließlich um dynastisches Großvermögen kümmerte –

und er lehnte sich zurück und schloss die Tür und tat das, was Banker zum Leidwesen der IT -Sicherheitsleute immer taten. Er sah sich einen Porno an, nur schnell, ein wenig Adrenalin ins System, ein paar Busen oder Männer oder was mit Teenagern,

und ein Klick –

und die Payload -Tracker tummelten sich nun auch in seinem Rechner und beobachteten bis auf Weiteres, wer wo welche Geldbewegungen verschleierte.

Ben erinnerte sich immer noch an den Moment der Stille, als die Operation:

»Kapitalumverteilung«

störungsfrei zu funktionieren schien. Die systemrelevanten Banken und aus Spaß noch ein paar Tausend kleinere waren in der Hand von ein paar jungen Menschen.

Hätten Maggy und er nicht das kontaktgestörte Bild, das sie von sich entworfen hatten, erfüllen müssen, hätten sie sich damals umarmt.

Sie tranken etwas Mate stattdessen. Und beobachteten, wie ihre Armee arbeitete.

Die Trojaner suchten mit gezinktem Zufall nach gültigen

Kontonummern mit ähnlichen Endziffern und führten Millionen Mikrobuchungen aus, die die ausgewählten Konten bevorzugten. Darunter die der Freunde. Nicht mehr als 10 Dollar pro Konto, denn die Fraud-Detection-Software schlug nur bei großen Buchungen Alarm.

Maggy hatte, nachdem Kemal damals ein Geflecht von Scheinfirmen auf Firmenkonten in Staaten mit wundervollem Bankgeheimnis errichtet hatte, Aktien gekauft und unterdessen durch gesteuerte Informationen in ihren RCE -Kanälen, die Rohstoffvernichtung durch Amazon Echo zum Beispiel, die zu Wut führten, und zu Short- und Long-Spekulationen von Millionen MikroinvestorInnen, das Geld wunderbar vermehrt.

Das Ganze lief seit damals ungestört.

Im Frontend nichts Neues.

Das gesamte Bankensystem surrte wie eine Drohne, und da gab es keine Möglichkeit, Unregelmäßigkeiten zu finden.

Und wenn schon.

Täglich wurden irgendwo auf der Welt Banken gehackt, verschwanden Millionen, ohne Aufsehen zu erregen.

Das Vertrauen der Kunden in eine abstrakte, irreale Sicherheit musste unbedingt gewahrt bleiben. Still ersetzten Banken Verluste und arbeiteten weiter mit veralteten Systemen, weil es zu aufwendig (teuer) wäre, das weltumspannende Netz mit Neuem auszustatten, und die Hard- und Software in allen Bereichen, in allen Filialen auf einen aktuellen Stand zu bringen, bedeutete Investitionen und damit Gewinnverlust, den die Aktionäre nicht schätzen. Ebenso wenig wie Angestellte, die mochten sie auch nicht. Nichts Persönliches. Es gab nur eine einfache Rechnung –

Die Auslagerung von Arbeit an die Kunden der Banken bedeutet 16 Milliarden Dollar Gewinn im Jahr. In zehn Jahren also 200 Milliarden. Was sind da ein paar verschwundene Millionen.

Kollateralschaden –

»Ganz hübsch«,