4 Monate vor dem Ereignis,

sagte Karen zu Don, die

den mit gefälschtem Pass gemieteten Kleinwagen durch die italienische Einöde lenkte.

Die Freunde würden in Schichten drei Tage Entspannungsurlaub machen, um in den letzten Wochen eine Top-Performance liefern zu können.

Karen, Rachel und Don wollten ans Meer, um zwei Tage unbeschwerte heranwachsende Menschen zu sein. Sie hörten Grime wie früher, hielten die Gesichter mit hängenden Zungen aus dem Autofenster wie Hunde, und jede versuchte sich daran zu erinnern, wie dieses: Junger-Mensch-Sein – ging.

Rachel dachte an die Demütigung, die Schule für sie bedeutet hatte.

Karen dachte an das Gefühl, ausgeliefert und wie betrunken zu sein.

Und

Don dachte an die Unendlichkeit. Wie mächtig und gefährlich es sich angefühlt hatte. Das Sehr-jung-Sein. Und alle zusammen dachten an Kemal, und an Pjotr und an die Angst, Teil eines Spiels zu sein, bei dem immer mehr Figuren vom Brett verschwinden würden.

Rachel starrte die Landschaft an und – »Habt ihr euch Italien auch malerischer vorgestellt?«, fragte sie.

Die meisten Häuser, die klein und ockerfarben herumstanden, waren leer, keine Kneipen, Restaurants, zugenagelte, verlassene Läden und alte Shoppingmalls. Auf den Straßen krochen ein paar Leute herum, die hier vergessen worden waren. Von wem auch immer. Sie ernährten sich von irgendeinem Dreck, der in ihren vergifteten Böden noch wuchs. Meistens Kohl. Die Kakerlake der Gemüse.

Kilometerweise schien es, als führen sie über denselben Abschnitt einer unansehnlichen Landstraße in Endlosschleife. Es sah aus, als ob hier alle ausgestorben wären, was auch so war.

Sie konnten nicht sagen, es hätte sie keiner gewarnt, die ehemaligen Menschen hier. Sie waren vorbereitet worden durch Fernsehen und Filme, die ihnen klargemacht hatten, dass die lustige Zeit nun vorüber war. Dass Opa sterben musste. Oder die schwerbehinderte Schwester. Dass Krebstherapien das Leiden nur verlängerten, dass der Körper sich selber heilte, wenn es so vorgesehen war, und dass Gesundheit eine Sache der Eigenverantwortung wäre. Oder des Geldes.

Rachel sah die Orte an, die wie Westernkulissen wirkten, die Straßen, an denen Plastikflaschen lagen, die Wiesen, auf denen Plastik lag, die letzte Verzweiflungstat armer Gemeinden war es, Plastikmüll aus reicheren Ländern zu verwahren. Also – ihn einfach in die Landschaft zu schmeißen oder zu verbrennen, was die etwas schwere Luft erklären würde.

»Und man muss diese Welt retten«,

sagte

eines der Mitglieder

im Club of Good.

Ab einem Vermögen von 100 Milliarden Dollar werden keine Personendaten erhoben

Die sich noch einmal in Verona getroffen hatten. Warum da?

Warum nicht, einige der Klubmitglieder verbanden das Treffen mit einer Darmreinigungskur, andere waren auf dem Weg zu einem Treffen der Fortune 500, der Rockefeller Foundation, der WHO , irgendein Treffen, irgendeine Zusammenkunft, bei der irgendwelche reiche Menschen sich fanden, um gütig über das Schicksal der Welt zu reden.

Sie waren gealtert seit damals, aber die Freude daran, zu geben und einen guten Tropfen zu trinken, war unverändert geblieben. Der Klub hatte sich 2009 gegründet. Das erste Treffen fand im President’s House der Rockefeller University – einer privaten Uni am East River in Manhattan statt. Nahe bei den Vereinten Nationen. Geschützt durch Metallzäune.

Das sechsstündige Gespräch war streng geheim, darum erschienen später Details auf der Site IrishCentral – »Tue Gutes und rede ein wenig darüber.« Damals waren Menschen wie Warren Buffett, Oprah Winfrey, Ted Turner, Eli und Edythe Broad und andere Milliardäre anwesend, die unterdessen ihr Vermögen verhundertfacht haben dürften.

Sie hatten sich zu einem Diner getroffen, um über Gutes zu reden, sie wollten die Sache mit der Welt in die Hand nehmen, die Überbevölkerung, das kommende Elend, das vorhandene Elend – also Hauptsache Elend, wenn es in einem malerischen und gleichsam romantischen Land stattfand. Sie wollten einen Großteil ihres Vermögens spenden, und was sprach dagegen, Gutes zu tun, wenn man nicht dazu genötigt wurde, einen Teil seines Gewinnes, den man durch die Nutzung der Infrastruktur und immer auch durch Ausbeutung erwirtschaftet hatte, als Steuern zurückzugeben. Die Klubmitglieder waren sich sicher, mehr zu sein als der Staat. Keiner weiß, ob sie damit recht hatten, und fast vermeinten sie ein Licht über ihren Köpfen zu spüren, während sie sich vorerst theoretisch über Regierungen und Länder hinwegsetzen. Mit der Ungeduld der Kapitalinhaber wollten sie schnell machen, voranmachen, irgendwas machen, denn alle waren dem Irrtum anheimgefallen, dass Reichtum, der fast immer auf Erbschaft oder Gier basiert, einen direkten Zusammenhang mit der Intelligenz des Gierigen haben müsste. Damals jedenfalls wurden die üblichen Themen verhandelt, wie ein Whistleblower berichtete.

Die Auswirkungen des Kapitalismus, den die Kapitalisten mit Sorge betrachteten. Bildung, Soziales, Gesundheitsfragen, Wirtschaftskrisen, Ökozeug.

Eine der Fragen war, wie man normale Menschen dazu bringen konnte, kleine Beträge für globale Probleme zu spenden. Das war lustig.

Was immer in dem Treffen beschlossen wurden, es war der Beginn einer neuen Zeitrechnung.

Das Treffen des Klubs der MilliardärInnen – Spaßvögel nannten es »die Extrakammer der UNO « – war der aufregende Start in das Zeitalter des Philantro-Kapitalismus, dem Vorläufer des Neo-Feudalismus.

In dem die wenigen Herrschenden, die reicher sind als Länder, in der Lage sind, Regierungen zu beeinflussen, das gesellschaftliche Leben zu ändern, Regeln zu entwickeln und durchzusetzen, die sie selber nie befolgen müssten, und mit natürlich sehr guten Absichten – letztlich wieder das zu tun, was Kapitalisten eben tun: größenwahnsinnig werden, und gewinnen. Die Welt regieren, und sich danach besaufen.

Im Verona stießen sie an. Seit damals hatte sich viel getan. Sie brauchten keinen elitären kleinen Klub und geheime Treffen mehr. Sie konnten ihre Arbeit in vielen verschiedenen Stiftungen und in Meetings mit unterschiedlicher Besetzung durchführen. Sie trafen sich in der Trilateralen Kommission, in Davos, und waren gut vernetzt. Aber hatten leider kein gemeinsames Ziel.

Ganz oben war nur Platz für einen.

Und sieh an,

»Was für eine reizende Stadt«, sagte Karen .

Wenig später in Verona.

Seltsam, dass gerade hier eines der faschistischen Zentren Italiens war und bis heute geblieben ist. Vielleicht ertragen die Menschen zu viel Schönheit nicht. Sie spüren ihre Unvollkommenheit zu deutlich und wollen sich erheben. Götter werden. Oder wenigstens elegante Uniformen tragen.

Die Faschisten. Wovon sie wohl träumten. Jahrzehnte nach Mussolinis Abgang hatten sie einen Umsturz geplant. Mit Unterstützung der NATO und der CIA waren die Loge Propaganda Due, P2, zu der Berlusconi gehörte, die Gruppierung um Licio Gelli, der Geheimbund Gladio und Bürgerkriegszellen mit über zehntausend Rekruten aufgebaut worden.

Der Plan war, die demokratische Wiedergeburt des Landes notfalls mit Gewalt durchzuführen, was paradox klang. Die Gruppierungen hatten hundertfünfzig Menschen ermordet, bis sie eventuell in den Neunzigerjahren zerschlagen wurden.

Noch mal Glück gehabt. Von Hakenkreuzen und Judenhass-Graffiti an den Wänden abgesehen, waren keine Faschisten zu sehen.

Die Stimmung in der reizenden Kleinstadt schien erregt. Die BewohnerInnen standen in Gruppen, redeten, tranken Espresso, redeten weiter,

und bekamen genau in jenem Moment, als Karen, Don und Rachel aus dem Auto stiegen,

eine Pushnachricht ihres

Chats,

ein neues Video, das von dem ehemaligen

französischen Commissaire général anmoderiert wurde:

»Lassen Sie uns heute von einem alten philosophischen Modell sprechen«, sagte er. »Dem Trolley-Problem.

Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Bahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Ist es cool, das zu tun? Ein Leben gegen viele? Die Frage wird in vielen Büchern und Studien und in Theaterstücken behandelt. Darf man ein voll besetztes Flugzeug, das in der Hand von Terroristen ist, abschießen, wenn es auf das Zentrum einer großen Stadt zurast?

Darf ein selbstfahrender Truck eine Krebskranke plattmachen, wenn es ein Baby zu retten gilt?

82 Prozent der Menschen würden sich immer dafür entscheiden, einen Menschen zu töten, um viele zu retten. Sie gehen davon aus, dass sie nicht der eine Mensch sind.

Mit der Digitalisierung nimmt die Geschichte nun richtig Fahrt auf –

aber sehen Sie selbst«, sagte der Commissaire général.

Dann begann das Video.

Ein animierter Film zeigte den Stand der

Konzern- und AI -getriebenen fairen Ressorceneinteilung. In einfachen Worten wurde die Funktionsweise das Pioniertools von Googles Project Nightingale erklärt. Millionen sensibler Patientendaten waren auf Googles Servern gespeichert und wurden von wieselflinken AI -Programmen ausgewertet.

Es war Vorbild gewesen für den Umbau des weltweiten Gesundheits- und Kassensystems. Weg von der Solidargemeinschaft, hin zum bewussten Umgang mit dem eigenen Körper und zur unbestechlichen Güterabwägung.

Die künstliche Intelligenz ermittelte unbestechlich

und mit der minimalen Fehlerquote von unter 1 Prozent den Wert jedes Menschen.

Um im Sinne der solidarischen Kostenersparnis Entscheidungen zu treffen. In Spitälern, in Arztpraxen und Polikliniken, in Apotheken, im autonomen Verkehr, bei der Vergabe von Krediten, der Auszahlung von Bargeld und bei Mietverträgen und der Regulierung der smarten Thermostate, Zugang zum Studium und der Vergabe von Arbeitsplätzen fanden die Codes statt und schon bald – würde die so

dezimierte Weltbevölkerung eine effektive Auswirkung auf den CO 2 -Ausstoß, den Verbrauch von Rohstoffen und das Klima haben.

Nach dem Film herrschte Ruhe

in

Verona.

Aus einem Café beobachteten wenig später

Don, Rachel und Karen die Wirkung der Videos. Sie war überwältigend.

Die Menschen sprachen miteinander. Sie standen in Gruppen und diskutierten, sie schrien, und

morgen würden die meisten Medien die vorgefertigte und von Rachel in die Systeme der großen Nachrichtenagenturen eingespeiste Pressemitteilung originalgetreu übernehmen. Titelseiten mit der hysterischen Headline: »Wird dieses Baby Opfer des Killer-Algorithmus?« Dazu das Bild eines süßen Babys.

Der Film und seine simple Botschaft – würde europaweit das für wenige Tage beherrschende mediale Großereignis sein. Interviews mit Passanten. Mit den Müttern kranker Kinder, den Ehepartnern eines alten Mannes, einer gebrechlichen Dame. Tränen würden fließen.

Und so weiter.

Karen, Don und Rachel wussten, dass ihr kleiner Ausflug beendet war.

Sie würde zurückfahren und weitermachen. Sie waren zu nervös, um sich zu entspannen –

Dabei war die Idee brillant gewesen, einmal in einem echten Meer zu schwimmen, denn das, was sie unter dem Begriff kannten, war eine kalte graue Brühe, die man von East Tilbury aus bestaunen konnte. Aber.

Sie würden das Meer heute nicht mehr sehen,

denn

wenig später saßen sie schon wieder in ihrem Wagen und rollten über die öden Landstraßen zwischen Bergamo und Arona zurück ins Basislager.

Rachel sah aus dem Fenster auf verfallene Getreidesilos und endlose Schweinefarmen.

Das Einzige, was ging, wenn nichts mehr ging: Schweine, der nachwachsende Rohstoff für asiatische KonsumentInnen. Automatisch gemästet, mit 247 Tonnen Antibiotika (aus China) abgefüllt, Antibiotika in Gülle und dann im Grundwasser. 70 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in Europa wurden für Tierhaltung und Nahrung genutzt. Das Saatgut für das Fressen gehörte den zwei großen Chemiefabriken, die Patente auf die Schweine dito.

Da kein Land in Europa mehr in der Lage war, seine Leute zu ernähren, kam es in Lastern, Flugzeugen und Schiffen – Den Kreislauf der Nahrung bezahlte die EU jedes Jahr mit 30 Milliarden Euro.

Die meisten Häfen waren in chinesischem Besitz, was sinnvoll schien, um die Tierleichen in die Großmacht zu transportieren. Der Plan Chinas mithilfe der mehr oder weniger freundschaftlichen Allianzen war, in den nächsten 25 Jahren zur alleinigen Weltmacht zu werden. Ihm stand nichts im Wege. Das nur am Rand.

Neben den riesigen Hallen, in denen Schweine entbeint wurden, standen Baracken, in denen Wanderarbeiter lebten, die dank der offenen Grenzen in der Europäischen Gemeinschaft hier Tiere ausweiden konnten –

Danke, für das Ausweiden,

und dann in Schlafsälen, ohne Fenster,

denn Fenster verteuerten den Bau, sie verteuerten alles, Fenster waren die Bremsklötze auf dem Weg in die Zukunft,

ihre Freizeit genießen durften.

Oder sie latschten ein wenig in der Wüste hier herum und warfen Steine auf Autos. Was soll sein.

Schon bald würden die unwürdigen Aufenthaltsbedingungen, die harte Arbeit beendet werden. Durch Maschinen, die dann noch billiger wären als genügsame rumänische oder von irgendwoher geflohene Leute.

So, genug Naturbetrachtungen.

Während

Don weinte.

In letzter Zeit liefen ihr oft einfach Tränen aus ihren Augen, weil die Situation so fundamental verschissen war. Vor einem halb eingestürzten Haus, es schien das einzig bewohnte in einem verlassenen Dorf, saß ein alter Mann auf dem Bordstein. Er hatte es sich doch vermutlich anders vorgestellt, sein Leben, so wie alle. Hatte er sich irgendwann im Recht gefühlt, und stark, und jung, und er wird gedacht haben, dass diese Welt auf ihn wartete, und er irgendwann an einem großartigen Ort leben würde, mit Liebe und ein bisschen Geld und ohne Sorgen. Und dann war alles schiefgegangen. Er hatte irgendeinen Scheiß gearbeitet und wurde betrogen von dem Typen, der ihm sein Haus verkauft hatte, und dann von der Versicherung, von der Regierung, die er gewählt hatte, von der Frau, die er glaubte zu lieben, dann war der Job weg, weil der Chef es so entschieden hatte, weil die Firma gekauft worden war von einer größeren Firma, das Haus verkauft an einen Fonds, in den schwedische Rentner einzahlten, die es auch besser haben wollten. Und dann war er hier gelandet, vielleicht in der Bude, die seiner Mutter gehörte, und die war tot und saß im Sessel, und alle waren tot, die er mal gekannt hatte, oder irre geworden wegen der Enttäuschung, und alt fühlte er sich nicht, weil man doch innerlich nicht altert, und er hoffte immer noch auf ein Wunder, aber das wollte und wollte nicht kommen, solange er auch vor dem Haus hockte.

Es war so seltsam, dass alles ein Betrug schien, oder dass das Fundament der Erde und des Lebens Betrug war, immer ausgeführt von Leuten, die ein bisschen brutaler oder auch nur ein wenig klüger oder skrupelloser waren, und die doch auch nur alt wurden und starben und bitter waren darum. Denn verdammt, wer wollte schon weg sein von der Welt, auf der kaum einer zufriedenstellend gelebt hatte.

Don sah den alten Mann.

Der vermutlich vierzig war.

Und ein Kostenfaktor. Weil er keine Disziplin hatte. Er hätte sich neu erschaffen können. Sich täglich steigernd das Laufen beginnen, bis hin zur Teilnahme am New-York-Marathon. Er hätte durch diesen Erfolg bekannt werden können, eines der leer stehenden Shoppingzentren in der Umgebung hier zu einem Sportstudio umbauen, in dem Wanderarbeiter an ihrer Form arbeiten würden.

Und so weiter.

Das hatte funktioniert. Wieder war ein neuer Krieg entstanden. Die Alten mit den Rollatoren und den schlechten Augen taugen, um Witze über sie zu machen und mit kompletter Gleichgültigkeit zu reagieren, nun, da sie von Algorithmen aussortiert werden.

An dem Alten am Bordstein fuhr ein junger schwarzer Mann mit dem Rad vorbei. Es war der zehnte in dieser Einöde. Vermutlich fuhren sie zu irgendeinem Schlachthaus, um aus Tieren Fleischbrocken zu machen, die Leute dann in sich hineinschieben konnten, um wenigstens irgendwas zu beherrschen, um wenigstens irgendjemanden fressen zu können, vernichten zu können, um wenigstens irgendwas zu konsumieren. Sie radelten durch diese Gegend, in der sie kaum leben konnten, wie überall auf der Welt, wo doch kaum mehr ein Ort war, der für Menschen oder Tiere oder Insekten ein angenehmes Umfeld bot.

Im selben Moment wurde der futuristische Sarg vor dem Haus des alten Mannes abgestellt.

Es war die beste aller Zeiten.

Die Christen

lieben den Film, sagte Rachel zur gleichen Zeit

aus dem Fond des Wagens irgendwo in Italien,

sie sah in ihrem transportablen, selbst gebauten Endgerät die Klickstatistiken an.

Es gibt Hunderte Millionen Menschen in Europa, die irgendwie an einen Gott glauben.

Und zu denen sprach

zur gleichen Zeit in Polen der Erzbischof

in einem TV -Kanal der Sendergruppe, die seiner Kirche gehörte. Um sich vorzubereiten, hatte er einen Kopfstand gemacht, um dann mit rotem Gesicht und hervortretenden Adern eine sehr intensive Ansprache zu halten.

Vor seiner Rede lief der Werbefilm der Firma Exit international. Die Erfinder der mobilen Vergasungskapsel – Sarco.

Ein ästhetisch ansprechendes 3-D-gedrucktes mobiles sargähnliches Gerät, das gerade den europäischen Markt flutete.

Sterbewillige legten sich in die luftdichte, auch innen angenehm futuristische Kapsel. Sie entschieden selbstbestimmt den Moment zu gehen (dazu blieben 3 Minuten Zeit, denn die Auslastung war riesig), nachdem der Knopf gedrückt war, flutete Stickstoff den Innenraum. Innerhalb von 30 Sekunden verschwand der Sauerstoff, der Kunde geriet in eine kurze Euphorie, durch eine Kamera hat er Kontakt mit seinen Lieben außerhalb der Kapsel. Da wird gesungen, geweint, getanzt, und dann ist er – verschieden.

Natürlich hatte vorher, damit alles mit rechten Dingen zuging, ein Algorithmus die Zurechnungsfähigkeit

des Klienten

Scorepunkte: bereits gelöscht, wegen des vorbildlichen Datenschutzes

irgendwo in Italien geprüft. Er hatte keine Lust zu sterben, aber seit Wochen wurde er mit Informationen über die Vorzüge seines schmerzlosen Abganges überhäuft. Im Fernseher, ja er sah noch fern, es war das einzige Vergnügen, was ihm geblieben war, in dem ansonsten leeren Dorf, und dem leeren Haus seiner Ureltern, kam die einzige menschliche Zuwendung aus dem TV -Gerät. Er sah Interviews mit glücklichen Sterbewilligen, die Erleichterung von Familie, Rentenkassen, Nachbarn, die den Sterbenden mit warmen Worten zu seinem solidarischen Entschluss beglückwünschten. Lachende Menschen stiegen in die Kapsel. Manchen wurde eine kleine Prämie gezahlt, also den Angehörigen. Es gab eine romantische Grabstelle. Und die Gemeinde wurde entlastet. Und das Klima. Und der Planet. Wann konnte man mit sich schon mal so viel Gutes tun? Um die Entscheidung des Probanden zu erleichtern, war seine minimale Altersrentenzahlung aus Versehen eingestellt worden. Alle Versuche, auf dem Amt jemanden zu erreichen, waren vergebens.

Dann kamen die Vergasungsgeräte zweimal in seinem Dorf zum Einsatz. Die letzten Einwohnenden stiegen in die Kapsel. Es waren Leute, die der Proband seit seiner Kindheit kannte, in seinem Alter. Der Ministerpräsident des Landes hatte zur Nutzung der freien Abgangsentscheidung aufgerufen, europaweit hörte man nur begeisterte Stimmen. Menschen, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben sahen. Leute ohne Arbeit, ohne Chancen, ohne Wohnungen, ohne Geld waren begeistert um diese finale Lösung all ihrer Probleme. Gebärunfähige Frauen dito. Der Klient hatte beim Kreisamt angerufen, eine Kapsel bestellt, der Termin war auf heute 9.16 festgelegt worden. Und nun lag er in dem engen, aber nicht phobieauslösenden geschlossenen Gefäß, das an ein sehr gutes Hotelbett in Japan erinnerte. Das hatte der Proband mal im Fernsehen gesehen. Eine Computerstimme, weiblich, nett, fragte ihn, ob es sein eigener Entschluss sei, zu gehen. Der Klient dachte nach.

Nein, eigentlich nicht, dachte er, eigentlich würde ich gerne weiterleben, am Meer, eine kleine Wohnung am Strand, abends mit anderen Verlierern auf einer Bank sitzen, einen Espresso trinken, über Politik reden, am nächsten Tag baden gehen, ein leichtes Essen zubereiten, vielleicht noch mal ein paar Freunde finden oder einen kleinen Hund haben …

Der Algorithmus registrierte eine Zeitübertretung, das Kohlenmonoxid wurde eingeleitet. Und während dem Probanden schlecht und benommen wurde, das war so, eine sehr lange gefühlte Zeit, wollte er weinen und zurück, er wollte noch einmal von vorne beginnen, und spazieren gehen, und Sommer erleben, und –

Nach dem Vorgang, der 2 Minuten gedauert hatte, wurde die Kapsel samt Inhalt abgeholt, von einem Wagen, einem Müllwagen ähnlich. Der Inhalt kam ins Innere des Wagens, die Kapsel wurde desinfiziert, was keinen Sinn ergab, aber gut roch, und sofort zum nächsten Einsatzort gebracht. In Europa fanden an jenem Tag 30.000 Einsätze statt.

»30.000 Ermordungen«, brüllte der

Erzbischof

im Video.

Diese Blasphemie der Regierungen, die Plattformbesitzer und die teuflischen Algorithmen, die glaubten, in die göttliche Ordnung eingreifen zu können.

Er rief die Gläubigen dazu auf, sich für den Widerstand bereitzuhalten.

Er sprach von Müttern, Vätern, von Schwestern, Brüdern und geliebten Kindern, und von Gott, und er war richtig sauer.

Danach stieg der Erzbischof in seine bereitstehende Limousine und ließ sich in seinen Palast fahren.

Seine Ansprache wurde von 30 Millionen Polen und auf YouTube untertitelt von fast jedem gläubigen Menschen in Europa gesehen. Das Video wurde schließlich von dreiundfünfzig Millionen Menschen gesehen, kommentiert, viele gingen auf einen weiterführenden Link, der sie zu Twitter, Facebook, Hashtags führte.

Zu Ansprachen der Freunde des Erzbischofs in Moscheen, Synagogen und Tempeln zu ihren Gläubigen,

sie warnten vor Blasphemie, vor dem Eingriff in Gottes Pläne, ihre Reden wurden gedruckt verteilt, sie waren

großartig.

Dachte zur gleichen Zeit

Pjotr , der in Unterhosen auf seinem Balkon in Pallanza saß.

Um seinen Tageserfolg zu feiern.

Pjotr fühlte sich wieder bereit für die Weltrettung.

Er hatte doch ein bisschen gearbeitet und mit einem simplen

DD oS-Angriff, der mit Bot-Netzen die Server und Dienste lahmlegte, etwas Geld besorgt, genauer –

ein paar Million Dollar von Unternehmen, die mit Wasserrechten dealten, die Fonds, die Wasser-Futures an der Börse, die auf das Verdursten von Menschen wetteten.

Pjotr hasste sie alle. Er wusste aus seiner Kindheit, was es bedeutete, wenn das Wasser wegen defekter Leitungen oder nicht bezahlter Rechnungen abgestellt wurde. Die stinkenden Menschen in ihren kleinen Wohnungen, die wie im letzten Jahrtausend einen Badetag hatten, an dem ganze Familien nacheinander in einer Badewanne versuchten, sich etwas Menschenwürde zu erwaschen. Er hatte gesehen, was es hieß, wenn Alkohol billiger war als Wasser, wenn es in den immer heißeren Sommern nicht genug zu trinken gab.

Fast drei Viertel von Englands Wasserindustrie gehörten ausländischen Hedgefonds, Regierungen und Family-Offices in Steuerdomizilen.

Und so begann Pjotr mit der malaysischen YTL Corporation Berhad, die alle Anteile an Wessex Water besaß,

der Cheung Kong Holdings mit Sitz auf den Cayman Islands, die vom reichsten Mann Hongkongs, Li Ka-shing, geführt wurde, sie besaßen 80 Prozent von Northumbrian Water.

BlackRock, Lazard und Vanguard besaßen Anteile an Severn Trent, United Utilities und South West Water.

Die DWS Group und die US -Private-Equity-Gesellschaft Corsair Capital besaßen die Hälfte von Yorkshire Water. Die australische First Sentier Investors besaß einen Anteil an Anglian Water, Severn Trent, United Utilities und South West Water.

Alle zusammen hatten in den letzten Jahren Dividenden im Wert von 6,5 Milliarden Pfund an die Aktionäre ausgeschüttet. Die CEO s der neun privatisierten Wasserunternehmen verdienten sich 58 Millionen Pfund an Gehältern, Boni et cetera.

Die Wasserpreise in England waren seit der Privatisierung um 40 Prozent gestiegen und nun, da Wasser an der Nasdaq gehandelt werden durfte, gab es kein Halten mehr.

Im Moment war Wasser noch ein Rohstoff, der pro Tonne nicht mehr als 39 Cent oder vergleichbare Nullwährungen einbringt, aber das wird schon.

Als Pjotr sich fast sicher war, dass die Schweizer Brigade für den Geheimdienst arbeitete, hatte er seinen Rechner zufällig unbeobachtet gelassen, als er mit Regula einen Kaffee trank. Sie hatte ihn, wie erwartet, mit einem Trojaner verwanzt.

Seitdem erstellte Pjotr ein konspiratives Netz zwischen den wasserdealende Fonds und ihren Besitzern. Sie gründeten – na ja oder Pjotr gründete – einen kommunistisch dominierten Zugang zum Wasser. Das war der erste Schritt. Dann kam, natürlich, der Sturz des kompletten kapitalistischen Systems.

Mit Reddit-Memes verkehrten Li Ka-shing, Investor und Platz 28 auf der Forbes-Liste, und Leo, der neue BlackRock-Besitzer, mit kommunistischen AnführerInnen. Viele kommunistische Websites ließen sich auf den Urheber, das Anlageberatungsunternehmen Lazard, zurückführen. Beim WEF fanden sich Aufzeichnungen geheimer maoistisch konnotierter Meetings zwischen E.M. Davies von Corsair Capital und Mark Steinberg von First Sentier Investors. Pjotr und ein paar Leute, die er von früher von einem der Marktplätze im Tor-System kannte, auf denen es viele schöne verbotene Dinge gab – Silk-Road, wir erinnern uns –, wurden mit dem Geld der Wasserfondshack bezahlt.

Das war lustig.

Er konstruierte eine Falle für jeden Geheimdienstler, der etwas auf sich und seine analytischen Fähigkeiten hielt. Aktivitäten, Hintermänner, angebliche Geheimkonten, um einen Umsturz zu finanzieren. Pjotr stand auf seinem Balkon und fühlte sich wieder gut. Er sah auf die Inseln auf dem See und überlegte kurz, ein wenig mehr Geld aufzutreiben, um sich eine davon zu kaufen, und

unten fuhren im selben Moment Karen, Don und Rachel vorbei. Eine prächtige Filmsequenz mit Double-Take, vorbeifahren, bremsen, umkehren, Tränen,

fand nicht statt.

Denn – sie sahen einander nicht, die Menschen.

Und wieder ging die Chance auf ein großartiges Wiedersehen verloren. Keine zaghafte Umarmung mit Rachel, nach der beide Seiten einander die Liebe gestünden und im Anschluss direkt alt sein und auf einer Bank sitzen würden. Nichts außer Leuten, die sich nicht berührten, ein Pkw und ein Junge auf einem Balkon mit drei Rechnern.

Hervorragend,

dachte zur gleichen Zeit Maggy , ein paar Kilometer von Pjotr entfernt in Corcapolo, einen Güterzug mit Munition auf ein Abstellgleis nach Skopje geleitet.

Warum Skopje? Keine Ahnung.

Da wohnten auch Menschen, die im Stress waren.

Früher hassten sie einander oder die Roma oder die Türken oder die Albaner oder einfach die Homosexuellen, die gingen immer, wenn nichts mehr ging.

Angefeuert durch die Medien, die von Ungarns Staatspräsidenten finanziert wurden, waren sie mit dem Hass gut beschäftigt und abgelenkt von der Korruption und den 50 Prozent arbeitslosen Jugendlichen. Die Regierung hatte alles privatisiert, was nicht schnell genug bankrottgegangen war, die rentablen Firmen gehörten Griechen oder Zyprioten. Übrig geblieben waren: eine kleine Armee und Frust. Der neuerdings gegen den reichsten Mann des Landes gerichtet war, der auf seinem Instagram-Account plötzlich – wirr redete.

Das ist Nordmazedonien, in Europa liegend, aber außer, dass die Verfassung des jungen Staates von deutschen Politikern verfasst wurde, konnte man sich nicht darauf festlegen, das kleine verschuldete Land in die große EU -Familie aufzunehmen. Bulgarien sah es als verlorenen Teil des bulgarischen Großreiches an und wollte Bulgarisch als Landessprache durchsetzen. Griechenland hatte den Namen Republik Nordmazedonien beanstandet. Ansonsten interessierte sich innerhalb der solidarischen Weltgemeinschaft niemand für dieses,

ja soll man es – Land – nennen?

Keine Bodenschätze, Häfen oder strategisch wichtige Pipelines, die durchführten. Nichts. Öde. Weißer Fleck.

Willkommen in der Europäischen Gemeinschaft, der Herzensangelegenheit der Völkerverbindung, der winkenden jungen Menschen, die mit ihren Apple-Geräten in Elektroautos, die mit neun Kameras ausgestattet waren, in eine grenzenlose Zukunft rollen.

War die EU etwa nur ein großes Unternehmen, das einige Firmen in einigen reichen Ländern im Norden noch reicher machte? Und natürlich den sogenannten Arbeitsmarkt öffnete. Ein Konzept, das darauf basierte, billige Arbeitskräfte aus dem Süden auf die Felder und in die Schlachthäuser im Norden zu karren, die Alten und Kranken aus dem Norden in den Süden auszulagern und im Norden Sexarbeiterinnen oder verschleppte Frauen aus dem Süden zu ficken. War die EU am Ende ein Projekt, das in erster Linie wenigen diente, mit großzügigen Geldumverteilungen?

Wir werden es nie erfahren.

Oder.

Die Lage verschärfte sich momentan, denn überall gab es Versorgungsengpässe. Das sagte man so, wenn man nicht erwähnen wollte, dass es ernsthafte Probleme gab, die Menschen zu ernähren, weil es wieder mal rentabler gewesen war, Nahrung im 100-Millionen-Tonnen-Bereich wegzuschmeißen. Fairerweise war die Suche nach Nahrung in Müllcontainern unter Strafe gestellt.

Maggy unterbrach nun ab und zu das fragile Gebilde der Lieferketten, indem sie im großen Stil Züge umleitete. Nahrung, die dann von den Brigaden vor Ort an die Menschen verteilt wurde. Aber das nur am Rande.

Offiziell erzeugten sie keine gute Stimmung, diese Grundnahrungsmittel, die immer wieder in den Supermärkten der Metropolen fehlten: Mehl, Brot, Nudeln, Zucker, das Zeug, das die Menschen einem alten Überlebensdrang folgend immer gerne in ihren Schränken lagern, um gegen Atomunfälle gerüstet zu sein oder Ausgangssperren zu überleben, die immer häufiger stattfanden, weil irgendwelche Notstandsgesetze nicht wieder verschwunden waren.

Auf jeden Fall.

Rollten jeden Tag Hunderte Güterwaggons in falsche Zielbahnhöfe.

Und der Mangel an Grundnahrungsmitteln steigerte die gute Laune der Europäer nicht wesentlich.

Unendlich öde war es

Hagen , der zur gleichen Zeit im Mittelmeer

auf einem Deck von Leos Jacht lag. Während Leo versuchte, seine Interessen in der großen Diskussion mit anderen Kapitalisten durchzusetzen, redete Hagen parallel mit seinen Leuten in Brüssel.

Hatte geredet, jetzt erst mal ein Päuschen.

Und ein wenig mit guter Musik entspannt.

Hagen hörte ein Medley mit den besten Kanye-West-Songs. »Bound 2« – One good girl is worth a thousand bitches, bäm. Ein großer Künstler. Ein erfolgreicher Milliardär. Eine wunderbare PR -Agentur hatte er, Hagen kannte den Inhaber.

Das Meer war sehr blau und klar, und dort flirrte wie eine Fata Morgana die Kulisse Monacos, dem Treffpunkt der größten Idioten, die Hagen kannte. Wer es nötig hatte, in diesem Geschwür von einer Stadt zu wohnen, mit Sportlern und Models, mit T-Shirt-Mogulen und Kleinkriminellen, hatte weder das Geld noch das Genie, um ganz oben mitzuspielen.

Hagen unterschied Menschen in Genies und andere. Die anderen waren die Mehrheit.

Die glaubten, dass die dubiosen Märkte die Welt mit Angebot und Nachfrage regelten. Grob 1 Prozent der Unternehmen kontrollierte 66 Prozent der Umsätze, und tat alles, um den Wettbewerb zu vermeiden. Wie sonst könnte man vorhersagen, welche Rendite zu erwarten steht? Planwirtschaft ist das Zauberwort und Konkurrenz würde Gewinnvorhersagen verunmöglichen. Das war eine Wahrheit der liberalen Markwirtschaft, Verdrängung, feindliche Übernahme.

»Märkte mögen keine Demokratie, sie mögen totalitäre Regierungen, Demokratien sind sehr chaotisch.«

Der wunderbare Satz des großen Larry Fink, dem Gründer und ehemaligen BlackRock-Chef, bevor die Firma von Leo gekauft worden war, hing in Hagens Wohnung als Bleistiftzeichnung von Banksy.

Hagen betrachtete es als seine Aufgabe, totalitäre Regime zu – fördern. Die von ihm geleiteten Institute für Demokratieförderung arbeiteten eng mit Techunternehmen zusammen, die Mikrotargeting durchführten und den Brexit mitzuverantworten hatten.

Die enge Verbindung zwischen EU und Wirtschaft, zwischen Geld und Macht, hätte die Menschen in der EU nervös machen können. Aber – es interessierte keinen. Wann auch, mit welchem Teil des Hirnes, das überfüllt war mit Make-up-Tutorials, Katzenvideos, Hassnachrichten und Angst.

Hagen hatte das vor einiger Zeit getestet und einige Fakten im Namen eines Whistleblowers an die Presse geschickt.

In den Papieren ging es um den ehemaligen EU -Kommissionspräsident Barroso, der bei Goldman Sachs einen wichtigen Posten antrat, um sich ein wenig zu seiner Rente dazuzuverdienen. Wie 30 Prozent der Europaabgeordneten.

Zwanzig Seiten, mit Namen und Adressen, mit Daten und Skandalen, die die Legende vom vereinigten reichen glücklichen Europa ruinieren.

Hätten können.

Denn nach dem Versand der Unterlagen passierte nichts. Kein Aufschrei, keine Demonstrationen, kein plötzliches Interesse der Millionen EU -Bürger an der Abwahl der dominierenden Parteien.

Ein paar schlecht bezahlte Journalistinnen besoffen sich mit billigem Wein und feierten ihre investigative Arbeit.

Die Menschen, die noch Zeitungen lasen, überblätterten oder überscrollten die langweiligen Mitteilungen.

Und in den sozialen Medien gab es nicht einmal einen Hashtag, der es in die Trends geschafft hatte, denn eine K-Pop-Band hatte einen neuen Song herausgebracht.

Wie gesagt –

in

Europa

hatten die Menschen andere Probleme.

Meine Güte, Europa. Sehnsuchtsort von Menschen, die es nicht besser wussten, Insel der Glückseligen. Traumort der Fliehenden auf ihren Gummibooten. Lieber tot sein, als nicht in diesem wundervollen Europa zu leben mit seinem Palais Royal, den alten Arkaden, den Alleen, den italienischen Villen, den reichen Schweden,

dann doch besser sterben.

Europa, das immer leerer wurde, ausgestorben die Häuser und Dörfer, kleine Weiler und Kleinstädte. In den Städten konnte den Preisen gedankt kaum eines leben, auf den Dörfern gab es oft keine Verbindungen irgendwohin, keine Läden, kein Netz, also hockte die Mehrheit der langsam überalternden Europäer in Zwischenorten, Vororten, Suburbs. Und fürchtete nichts mehr als Eingewanderte, Zugereiste, Migranten, die Läden in den Dörfern eröffnen oder die immer älter werdenden Europäerinnen als Ärztinnen betreuen könnten. Logisch war das nicht, aber im Rahmen eines starken Nationalismus cool.

Da kamen jüngere Menschen, deren Heimaten verdorrt waren oder von Kriegen verwüstet. Sie kamen und wollten leisten. Endlich sollte sich Leistung lohnen. Und wenn sie das rettende Ufer erreichen sollten, wenn ihnen jemand eine Decke reichen würde, ängstlich, denn Menschen das Leben zu retten wurde mit bis zu zwanzig Jahren Haft geahndet,

würden sie staunen: »Sieh nur, da ist Europa, es ist voll alter Knochen – mit neuen Autobahnen.« Die Menschen lebten an den Autobahnzubringern, sie träumten von Flugtaxis, wie toll klingt das – mit einem Flugtaxi zur Arbeit fliegen, Hauptsache: Arbeit! Man muss, so haben sie gelernt, vom Kindergarten an, wie Hunde, die Belohnung für Kunststücke bekommen, arbeiten, um zu leben, sich sein Leben verdienen, sonst wird es einem abgenommen. Wenn man sich sein Leben verdient hatte mit der Verrichtung von Stumpfsinn, der keinen beim besten Willen interessierte, bekam man ein paar Stunden freie Zeit, um sich fit zu halten, um dann fit das Leben zu verdienen. Und dann rasten sie los, joggten um den Block. Hurra, Marathon, Sit-ups, Herzinfarkt. Tot.

Falls sie ihre Selbstgeißelung überlebten, mussten sich die Leute noch pflegen – mit achthundertneunundzwanzig verschiedenen Wörtern für Pflegeprodukte in ihren kleinen traurigen Duschen, in ihren Einraumwohnungen, in denen sich Chipstüten unter dem Bett stapelten. Aber alles wieder ausgekotzt. Sie pflegten sich, um eine erbärmliche Chance auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Fickmarkt zu haben. Leider. Lief da nichts, denn die Menschen waren zu müde für den Verkehr. Sie mussten arbeiten. Sie taumelten in Verkehrsmittel oder in ihr Fahrzeug. Ihr Fahrzeug, wie stolz das klingt, in dem sie sich von den Außenbezirken auf Ackerflächen bewegen, auf die ihre fensterlosen Großraumbüros lieblos hingeschissen wurden. »Hier, nimm deinen Arbeitsplatz. Mach irgendwas, was dich in einer Angst hält.«

Betäubt vom Mantra der Demokratiebeschwörung, betäubt von der Androhung des Kommunismus bei jedem Gedanken daran, sich zu organisieren. Und wenn man sich organisiert hatte, endete es angekettet vor Atommeilern, Biomassekraftwerken, mit pinken Mützen und Pappschildern, und es führte zu. Nichts. Über Jahre ketteten sich Menschen in Deutschland an Bäume auf dem Gelände, auf dem ein neuer großartiger Bahnhof und viele neue großartige Renditeobjekte stehen sollten. Die Zausel demonstrieren immer noch vor dem milliardenteuren Bauwerk.

Es bringt nichts, das wussten alle. Das wütende Stampfen, die kleinen Vereine, Zellen, Gruppierungen, die Wut und die Trillerpfeifen gegen

wen eigentlich?

– und

dann waren sie ruhig. Oder schimpften, in großen Serverfarmen bis zu deren Zerstörung dokumentiert, in albernen sozialen Plattformen.

Der Verwertungskreislauf – funktionierte hervorragend, Menschen, die, von Algorithmen unterstützt, wegen des sich beschleunigten Wachstums, das in einer Zerpulverung des Planeten enden würde, durchdrehten, trugen zum Wachstum der Plattformen bei, wegen denen sie irre geworden waren.

Sie waren nur sie selber und waren es sich wert, wenn sie irgendeinen Dreck kauften, den sie mit Freiheit verwechselten und nach Hause trugen oder liefern ließen, aber verdammt war das eng, das Zuhause, das schon lange nicht mehr in den schönen Alleen und parknah oder an den Flüssen Europas befindlich war, sondern abgetrennt durch mehrspurige Autobahnen am Rand.

Und nichts –

fürchteten Menschen wie Freia zur gleichen Zeit auf ihrer Jacht in Portofino nichts mehr als unklare Verhältnisse und Chaos. Erst letzte Woche hatte sich die peinlich genaue Angabe in den Netzen der Menschen verbreitet, dass Leute wie sie – Stichwort Jets, Jachten, diverse Häuser, Fabriken –, grob über neun Prozent der Erdbevölkerung, bald für 90 Prozent des CO 2 -Ausstoßes verantwortlich wären.

Das machte die Menschen wütend, die nicht mehr in ihren Pauschalurlaub fliegen konnten und Rechenschaft über ihr Frierverhalten abzugeben hatten.

Und nun hatte einer der Meeting-Teilnehmer über Versorgungsengpässe berichtet, die bei den Leuten auftraten.

Alle, die dem Treffen an ihren Endgeräten beiwohnten, wussten, dass die größte Gefahr von hungernden Menschen ausging. Die waren imstande, in Villenvierteln zu randalieren.

Nichts ekelte Menschen wie Freia mehr als laute Leute.

Sie nahm sich eine kleine Talk-Auszeit, um ihre Nerven zu beruhigen, und

rückte eine Meißner-Schäfergruppe im Salon im Unterdeck der Jacht auf den richtigen Platz. Der neuen Reinigungskraft war ein Fehler unterlaufen. Innere Notiz: rausschmeißen.

Freia hatte diese Angst vor den Massen seit Kindheitstagen. Damals gab es Studentenunruhen, und ihr Vater erzählte ihr von Kommunisten, die Leute wie sie umbrachten. Die Folge war jahrelanges Bettnässen, das ihr Vater dadurch kurierte, dass sie in dem nassen Bettzeug liegen bleiben musste. Ihre Mutter hatte versucht, sie zu beruhigen: »Schau nur, meine Tochter, es gibt keine Kommunisten mehr.«

Das war richtig. Die Kommunistische Partei war in guter Voraussicht der kommenden Unruhen in Deutschland verboten worden.

Im Namen des Volkes. Erstens: Die Kommunistische Partei Deutschlands ist verfassungswidrig. Zweitens: Die Kommunistische Partei Deutschlands wird aufgelöst. Drittens: Es ist verboten, Ersatzorganisationen für die Kommunistische Partei Deutschlands zu schaffen oder bestehende Organisationen als Ersatzorganisationen fortzusetzen.

Aber es hatte nicht geholfen. Freias Angst war geblieben. Und seitdem versuchte sie, nett zu den Massen zu sein, zu den Leuten. Ab und zu besuchte sie körperlich Beeinträchtigte in ihren Unterbringungen – Freia hatte Schlüsselanhänger in Autoform an einige von ihnen verteilt. Später hatte sie sehr lange geduscht, wie nach dem Besuch in einer ihrer Zulieferfirmen, Stichwort: vertikale Integration. Freias Unternehmen war so marktführend, dass sie von den Rohstoffen bis zum Absatz die Preise vorgeben konnten. Und die Löhne. Jeder sollte nach seiner Leistung bezahlt werden, hatte Freia gelernt und war darum vehement gegen sogenannte Mindestlöhne. Wenn die Regierung ihr vorschreiben wollte, was sie ihren Angestellten zu zahlen hatte, dann sollten sie die Fehlbeträge übernehmen. Wenn Arbeitslose mit ihren Dreihundertnochwas nicht zurechtkamen und etwas dazuverdienten, was ihnen von den Dreihundertnochwas abgezogen wurde, dann war das eine Frage der Fairness. Freia hielt bei dem Gedanken kurz inne. Sie hatte keine Ahnung, was man für Dreihundertnochwas kaufen konnte, vermutlich irgendwelche Nahrung. Oder ein Pony.

Freia ließ sich schnell über ihr neuestes soziales Projekt informieren – eine ihrer Stiftungen, die den Namen »Erhard-Wirtschaftsinstitut« trug, wurde eröffnet. Der frühere Bundeskanzler und gute Freund ihres Vaters, Herr Erhard, hatte das Bundeskartellamt gegründet, um den Wettbewerb zu schützen. Der faire Kampf zwischen kleinen Unternehmen. Auf jeden Fall würde durch ihre neue Stiftung wieder eine Privatuniversität ihren Betrieb aufnehmen, in der Unternehmerinnen wie sie den eigenen Nachwuchs ausbilden konnten, Führungspersonen, die die Lehren des Systems vertreten würden – und die Werte. Privat betriebene Ausbildungsstätten, private Museen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Schutzeinheiten, die sich optisch durch nichts von der Staatspolizei unterschieden, private Armeen, Autobahnen, Schulen, Kindergärten. Es gab keinen Bereich des Gesellschaftlichen, der nicht in den Händen ihrer Leute war. Wobei – Freia war zu dem Meeting zurückgekehrt.

Das sogenannte Internet

wurde zur gleichen Zeit in Weiten Teilen Europas abgeschaltet. Kein klassischer Kill Switch, der das gesamte Netz im Sinne der Sicherheit abschaltete, sondern nur das gezielte Vom-Netz-Nehmen einiger DNS -Server . In Europa war das durch den Einsatz von Child-Sexual-Abuse-Anti-Distribution-Filtern möglich.

In England reagierten

nur die Sites, die viele unter dem Internet verstanden, Facebook, TikTok, Mamablog, LinkedIn, Hundehalter-Foren in Europa nicht –

403. Inhalt verboten –

Schade,

dachte der

Techniker

politische Interessen: Fußball

Hobbys: Porridge

Gesundheitsprobleme: Lungenkarzinom

Sexualität: hoffnungslos

Gesundheitszustand: bald keiner mehr

in Schottland. Er arbeitete seit Bau des Kernkraftwerkes Torness 1988 unweit der reizenden Kleinstadt Dunbar hier, und wenn das Werk 2030 abgeschaltet werden sollte, ginge er ohnehin in die Rente, von der er nicht leben konnte. Der Laden gehörte einem französischen Industriekonzern. Früher war es ein schottisches Unternehmen. Der Techniker hatte das nie verstanden.

Warum die Leute in der Umgebung krank wurden, der Profit der Anlage aber zu den Franzosen ging, er hasste England. Das nur am Rande. Er hatte alle Fast-Unglücke, die es gegeben hatte, miterlebt. Das Flugzeug, das fast in den Reaktor gekracht wäre, den Tang, der die Ausgangsleitung ins Meer verstopft hatte, die Quallenplage.

Der Magen des Technikers machte laute Hungergeräusche. Als er heute Morgen sein Porridge zubereiten wollte, war die Packung leer gewesen. Als er in einem Café Porridge essen wollte, war das aufgrund eines Haferflockenengpasses nicht erhältlich. Kein Beinbruch, sollte man meinen, wäre nicht letzte Woche auch das Weißbrot nicht im Regal gewesen, das Bier und der Kaffee. Alles liebe Gewohnheiten der Nahrungsaufnahme des Technikers. Er war ohnehin stark gereizt, denn einmal im Jahr wies er den Betreiber seines Kraftwerkes auf die veralteten Brandschutzklappen hin. Er bekam nie eine Antwort und in diesem Jahr eine Abmahnung wegen Unruhestiftung am Arbeitsplatz. Der Techniker wusste, dass es jeden Tag zu einer Katastrophe kommen konnte. Er wäre mit seiner Familie gerne weggezogen, aber.

Das Geld war knapp, und auf den Straßen standen seit Wochen immer wieder wütende Menschen in langen Schlangen vor den Läden, um Wein, Nudeln, Tomatenmark, Orangen, Bananen, Avocados zu kaufen, all die Superfoods, die es nicht mehr gab. Die es nicht mehr gab, seit die Güterzüge nicht mehr kamen.

Der Techniker machte eine Pause, um zu rauchen und so den Hunger zu vergessen, denn als er vorhin einen Lieferfahrer im Netz bestellen wollte, um in der Mittagspause eine Pizza zu essen, war die Site nicht erreichbar gewesen. Der Techniker machte an jenem Tag Überstunden, weil Personal abgebaut worden war. Er würde das Werk erst gegen 8 Uhr abends verlassen, wenn die Nachtschicht eintraf, falls sie eintreffen würde und nicht auch entlassen worden war.

Der Techniker zog sich zum Rauchen schnell in die Schaltzentrale zurück, die gerade renoviert wurde, Farbeimer, Abdeckplanen, Leitern, ein guter Ort, um Nikotin zu inhalieren.

Während der Techniker rauchte, wollte er eine SMS an seine Frau schreiben. Das ging nicht. Auch die üblichen Chat-Apps – also WhatsApp – funktionierte nicht. Der Techniker wurde ungehalten wie immer, wenn er es mit dem Netz zu tun hatte. Für jeden Mist brauchte man heute das Netz, für Filme, Fotos, Musik, Texte, die Identität, die Tickets, na ja okay, die nicht – wohin hätte man auch reisen können,

und alle paar Monate wurden die Nutzungsbestimmungen geändert, und die Sachen funktionierten nicht mehr, weil das Gerät veraltet war und man nicht mehr auf seine Daten zugreifen konnte, ehe man ein Abo für irgendwas abschloss. Ein Internetabo zum Beispiel. Bei dem er unter einem der Angebote der drei Firmen wählen konnte, die zu zwei weltweiten Konzernen gehörten, die sich gegenseitig aufkaufen würden, um dann nur noch eine Firma zu sein, bei dem man sein Leben in Warteschleifen verbrachte, um einem Bot seine Kündigung vorzutragen, die nie stattfinden würde, weil man immer noch auf einen Rückruf wartete.

Und gibt es mich überhaupt, wenn es das Netz nicht gibt?, fragte sich der Techniker inzwischen vollkommen wütend, er hatte für einen Moment der Klarheit seine Ohnmacht erkannt.

Er warf die Zigarette auf den Boden.

»Mahlzeit«,

sagte zur gleichen Zeit die Geheimdienstmitarbeiterin in Den Haag in einer Konferenz. Sie schwitzte, was ihr eine unbekannte Körperreaktion war. Ihre Idee, die Server abzuschalten, war natürlich eine komplett hilflose Antwort auf die Frage: Wie bekommt man die Kontrolle zurück –

Aber sie hatte sich nicht mehr zu helfen gewusst. Auch nach dem tragischen Unfall des jungen Terroristen Kemal war die Flut an Kommentaren unter den Hashtags #Hungerkatastrophe #Trickledown #Zukunft #Hunger #Essen #Hundemord #Sexverbot #Alkohol #Revolution nicht zu bewältigen gewesen. Die in den RCE -Chat eingeschleusten Mitarbeiter fanden die Quelle der Propaganda nicht. Die Razzien der Europol mithilfe der NATO in europäischen Großstädten hatten außer Verhaftungen von Hackern, die Hackermist machten, nichts gebracht. Die sozialen Medien und Chats europaweit von den Netzen trennen zu lassen – Alarmstufe: Gefahr im Verzug –, war das letzte Mittel, das der überforderten Geheimdienstmitarbeiterin eingefallen war. Leider funktionierte das nur bei zentralen Servern, denn um richtig aufzuräumen, hätte man das Internet mehr oder weniger ganz ausschalten müssen. Und das war keine gute Idee.

Die Angriffe liefen auf den Kanälen der Terroristen weiter. Parallel zu ihrem Meeting mit der IT -Sicherheit trafen die Nachrichten erregter PolitikerInnen, die weder chatten noch sich in den sozialen Medien mitteilen konnten, ein. Konzernchefs beschimpften die Geheimdienste, sie wollten Koks oder Nutten in Telegram ordern.

Die Geheimdienstmitarbeiterin wurde immer wütender, ja man konnte sagen – sie tobte vor Wut. Gestern hatte sie ein Waschbecken in der Toilette zu Boden getreten.

Alles, was sie von sich geglaubt hatte –

brach zusammen.

Das schnelle Internet in Schweden war zur gleichen Zeit

fast weg.

Die schwedischen Staatsschutzbehörden waren wieder besonders eifrig, und hatten nahezu einen Kill Switch betätigt, bei dem ein paar infrastrukturelle Patzer unvermeidlich waren.

Es gab Auffahrunfälle wegen ausgefallener Ampeln. Stecken gebliebene Lifte,

Tramunfälle

und vielleicht wurde ein neuer Krieg für das Gute ausgelöst.

Schwamm drüber.

Aber was war nur mit den groß gewachsenen wohlernährten Menschen passiert, die ihrem Staat so sehr vertraut hatten. Dem sozialen Musterland, in dem selbst die Ärmsten von der Regierung ein Handy mit digitaler Bettel-Bezahl-App übereignet bekamen. Was war passiert mit den Menschen, die bisher so zufrieden waren mit ihrem fortschrittlichen gleichberechtigten Leben. Mit nur hundertfünfzig Vergewaltigungen auf Hunderttausende EinwohnerInnen, mit den überschaubaren Femiziden, hyggeligem Lebensspaß und Wellnesstagen, die man sich mit naturnahen Produkten gönnte. Dann

saßen die SchwedInnen in ihren behaglich hellen Wohnungen, schmierten sich organische Maske ins Gesicht, den Körper in nachhaltiger Baumwolle gewickelt, tranken sie Eisenkrauttee, hämmerten ratlos auf Klangschalen herum und warteten auf ein Gefühl.

Also warum waren alle so schlecht gelaunt, gleichsam – hasserfüllt geworden?

Alles, woran sie immer geglaubt hatten, schien eine Lüge gewesen zu sein. Dass jede hier schaffen kann, in den Genuss einer gut geheizten Wohnung mit Duftkerzen zu kommen, wo er oder sie auf dem IKEA -Sofa lümmeln und über Microsoft, perfekt überwacht, ihre Büroarbeit erledigen konnten, während zwei blonde Kinder mit dem sie überwachenden Spielzeug spielten, daran glaubten die meisten nicht mehr.

In den letzten Monaten hatten sie die Wahrheiten über ihr Land gesehen, Filme aus dem Königshaus, das über den Gesetzen stand, und von jenen, für die keine Regeln galten, die reichen Familien, die Hedgefonds-Manager, die PolitikerInnen, für die galt nicht, dass alle im Land zusammen durch die Krisen gehen mussten. Dass sie Strom und Wasser sparten und froren, wegen der Ökologie, und einmal in der Woche duschten und weniger gesund aßen und nicht mehr Auto fuhren. Das galt doch nicht für die anderen, die sie gesehen hatten, Kaviar essend in Privatjets.

Auch im Musterland des glücklichen fairen Marktwettbewerbes war das Leben der Massen zu einer Dauerkrise geworden. Keine Pausen gab es zwischen den Aufrufen an das Volk,

gemeinsam die Klimakrise zu bewältigen. Und die Wirtschaftskrise. Und die Kriegskrisen.

Zusammenstehen, Einschränkungen akzeptieren, sich zusammenreißen, durchhalten, den Verlust des Einkommens, den Umzug an den Stadtrand, den Umzug in die Kellerwohnungen, das Sterben der Schwachen – hatten sie alles hingenommen, solange sie ein neues Gadget erwerben konnten, doch nun schienen selbst die großartigen Technologien nicht mehr uneingeschränkt funkelnd.

Plötzlich wirkten sie – befremdlich, diese Drohnen in der Wohnung und die Roboter und die Chips unter der Haut, denn –

es gab dieses Menschenrecht auf Leben nicht mehr. Es war einfach aus den Grundgesetzen verschwunden, aus den Menschenrechtserklärungen, das war nichts mehr wert, ihr Leben. Die SchwedInnen gamten gegen die Panik an.

Das RCE -Spiel machte ihnen keine bessere Laune, aber es gab ihnen das Gefühl, durch Information ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen und nicht mehr panisch zu ahnen, dass sie in einen Abgrund getrieben wurden, sondern zu wissen, wer sie da trieb.

Die reichste Familie des Landes zum Beispiel, die Verpackungskönige mit den latent gesundheitsgefährdenden Patentkartons, auf die doch jedes Schulkind stolz gewesen war. Denen viele Straßen und Blocks gehörten, die weltweit siebzig verschiedene Markenfamilien besaßen und über zwölftausend Markeneintragungen, und die so viel gespendet hatten. Irgendwohin.

Die Gamenden erfuhren von Milliarden an Steuern, die von der Familie nicht gezahlt wurden.

Die in die von ihnen gegründete Firma Longbow Finance in der Schweiz geflossen waren. Die Firma machte in Finanzrisikogeschäften und erzeugten: Finanzprodukte. Weil die Dividenden, die jedes Quartal flossen, so unfassbar hoch waren, war die Familie gezwungen, ständig neue Anlagevehikel zu finden. Das sucks.

Apropos –

Im Aufsichtsrat der Longbow Finance saß auch der Vorstand der Julius-Bär-Bank,

und in deren Aufsichtsrat

saß

Claire Giraut, wie die Gamer in Frankreich gerade in ihrem Spiel erfuhren.

Die Biotech-Ingenieurin war Executive Vice President und Chief Financial Officer von bioMérieux, weltweit führend im Bereich der In-vitro-Diagnostik, gewesen. Und bei Ipsen, und so weiter.

Die Frauenquote in Vorständen der DAX -gelisteten Firmen lag bei 13 Prozent. Wird doch.

Der Rest waren Männer, eine aufrechte Gruppe von Firmenchefs, CEO s, Politikern und Milliardären, sämtlich weiß, die durch Aufsichtsräte, Finanzkontrollen, Börsenaufsichten zogen und sich grüßten und kannten, die entschieden, dass Banken jetzt nicht nur bei Minus, sondern auch bei Guthaben auf Konten eine Strafgebühr erheben

konnten.

Die daran mitgewirkt hatten, dass Kleinbürger nichts mehr besitzen konnten, das über Sneakers hinausging, dass sie sich zu zehnt 15 Quadratmeter teilen durften, die Wasserpreise kaum noch zu zahlen waren, die Jobs verschwanden, Menschen mit über fünfzig keinen Job mehr bekamen nach dreißig Jahren in einer Firma, und sie erhielten nicht einmal mehr eine Armbanduhr.

Und

dass noch mehr Kreuzfahrtschiffe für acht- bis zehntausend Passagiere die Aussicht auf irgendeine Zukunft versperren sollten, und dass andauernd irgendetwas mit »global« im Namen zusammenbrach, oder das Autobahnnetz, oder Stromnetz, oder irgendein beschissenes sonstiges Netz.

Die Massen hatten keine Ahnung.

Woher all die Anordnungen kamen, und warum irgendetwas passierte, sie wussten ja nicht einmal,

was Leerverkäufe waren und die Gesetze des Marktes, außer dass diese Gesetze nicht für sie geschrieben waren.

Und nun erfuhren sie, dass sie nicht in einem wunderbaren Kapitalismus lebten, sondern dass das System sich geändert hatte, sie lasen vom Neo-Feudalismus, Feudalismus 2.0, sozusagen, und das hatten sie in der Schule gelernt, was es bedeutete, in einem Feudalsystem zu leben – mit einem Lehnsherrn und dem Zehnten und den ganzen Scheiterhaufen. Na ja, oder so.

Und das war natürlich nicht der Fall, im Moment, da gab es keine Scheiterhaufen, sondern jedes Individuum hatte die Möglichkeit, an demokratischen Prozessen teilzunehmen, z.B. sich zu bilden. Na ja, fast, denn für eine gute Ausbildung brauchte man Geld. Oder ein Stipendium. Das man eventuell von einem Philanthropen erhielt, wenn man hervorragende Leistungen zeigte.

Schwierig, wenn man zu sechst in einer 30-Quadratmeter-Wohnung saß, und nun, da die Massen in Frankreich vor den Supermärkten standen und versuchten, Obst zu kaufen, das es nicht gab – und was es nicht gibt, weckt ja immer eine große Begehrlichkeit –, bekamen sie eine neue Pushnachricht von ihrer App.

In den nächsten Tagen sollte das Bargeld abgeschafft werden.

Das

war hart

zu verdauen,

denn

die Bevölkerung Italiens, die flexiblen Italiener, die dank des Zusammenhalts der Familien an zweiter Stelle bei den Femiziden in Europa standen. Da geht noch mehr –

Die netten Italiener also, die dank ihres Gemeinschaftssinnes durch alle Krisen gekommen waren, hatten die Abschaffung der Lira bis heute nicht verwunden. Was vor allem mit dem unattraktiven, sehr deutschen Wort EURO zu tun hatte, das ihnen klang wie Blitzkrieg. Und nun sollte selbst der Euro verschwinden und durch Nummern und Codes ersetzt werden, denen man vertrauen sollte. Denen sie vertrauen sollten, die eigentlich kaum jemandem vertrauten, schon gar nicht Regierungen. Das revolutionäre und kommunistische Potenzial war hier immer noch besorgniserregend hoch, und nun, dank der Spenden, die über Corcapolo in die Bahamas, über Panama und Holland zu ihnen gelangt waren, waren die kleinen kommunistischen und anarchistischen Zellen wieder wer.

An jenem Tag wurden die ItalienerInnen in der RCE -Zeitung an ein lang zurückliegendes Ereignis erinnert.

Der Bombenanschlag in Bologna. Von dem die Jüngeren nur gehört hatten. Über achtzig Tote, ausgeführt von zwei Faschisten mit Vernetzung zur Mafia und der Naziloge P2, die mit der Vatikanbank vernetzt war.

Der Wikipedia-Eintrag, das großartige neue Lexikon des männlichen Weltwissens, war so oft redigiert worden, dass am Ende nur noch ein leises Raunen übrig geblieben war.

Aber nun stand die Geschichte wieder auf dem Titel der RCE -Zeitung

und erzeugte eine große Wut.

Die auch

in Belgien wuchs, denn an jenem Tag war eine Pressemitteilung in allen Medienredaktionen eingegangen. Die von Gated Communities für Schutzbedürftige berichtete.

Kranke, Alte, arme Menschen, Obdachlose, Arbeitslose, von Kinderarmut Betroffene, also kurz: alle, die nicht aktiv am gesellschaftlichen Leben oder auch am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt waren, sollten in abgetrennte Viertel, die ökonomisch für die Anleger nicht von Interesse waren, umgesiedelt werden, um – so die Mitteilung – sie in den Genuss ärztlicher Leistungen und sozialer Angebote kommen zu lassen. Also eigentlich nichts Neues, denn diese Viertel gab es ja bereits überall in Europas Städten, aber die Menschen, die in den schlechten Quartieren, hatten sich doch dem Markt folgend freiwillig dazu entschieden.

Nun sollten die Maßnahmen staatlich organisiert werden und fast 40 Prozent der belgischen Bevölkerung wären betroffen. Die neue Maßnahme war von der EU beschlossen worden und sollte europaweit gelten.

Die Aufregung in der Bevölkerung war – beachtlich. Spontan versammelten sich BürgerInnen vor dem Parlamentsgebäude, vor der Stadtverwaltung, den Polizeihauptquartieren in den kleineren Städten. Es flogen Steine. Woher kamen jetzt die Steine? Egal. Es gab Schlägereien zwischen BürgerInnen und Polizei.

Und zum Glück gab

es

das Militär

Hobby: Zusammenhalt

Familienstand: Kameradschaft

Psychische Auffälligkeit: neigt zu Gewaltausbrüchen

Finanzieller Status: hervorragend

Gesellschaftlicher Nutzen: Verteidigung

in Europa. Es bestand aus Menschen – und Waffen. Und Maschinen und Codeketten. Der unsicherste Faktor war, wie überall, der menschliche.

Mann, die Leute. Wollen immer etwas, aber was nur?

Manche wollten ihr Land verteidigen, egal gegen wen – und dann stellten sie eventuell fest, dass es nicht um Verteidigung ging, sondern um die Zerschlagung kommunistischer Idiotien, Länder, Rohstoffe, und manchmal konnte man es Kolonialismus nennen.

Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren gut platziert in der Liste der größten Waffenexporteure der Welt. Ein Status, den man wegen der Arbeitsplätze erhalten musste. Also konnte man sagen, dass Bürgerkriege, Drogenkriege, Bandenkriege, Befreiungskriege, Wasserkriege, Wirtschaftskriege, Hauptsache, der Wirtschaft und damit auch der Verteidigung des Friedens dienten.

Wohin genau die Groß- und Kleinwaffen geliefert wurden, unterlag dem Betriebsgeheimnis der Rüstungsindustrien.

Das Militär Europas kämpfte für und mit der NATO im Irak für freien Drogenhandel und in Afghanistan immer mal wieder, sie hatten in Mali gekämpft für – irgendwas. Vielleicht für die Bodenschätze, die anschließend in Mauretanien verschifft wurden, oder für die Demokratie. Oder die Freiheit. Die meisten Länder zwangen ihre jugendlichen Jungs immer noch dazu, einem Verein beizutreten, der unter Einsatz des Lebens das Recht der Waffenindustrie verteidigt, Gewinne in Stiftungen zu verstecken.

Die Menschen, die freiwillig zum Militär gingen, taten es entweder, weil sie keine Lust hatten, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, oder weil sie die Menschen schützen wollten.

Oder weil sie ansonsten keine Chance hatten, ihr Recht auf Arbeit auszuleben.

Alle wussten, dass sie im Ernstfall gegen ihre Nachbarn, Familienmitglieder und Freunde mit Waffengewalt vorgehen mussten.

Fast alle Regierungen drückten sich um die Wahrheit, die bedeutete: Wenn wir im Namen von Demokratie und Sicherheit, dem Bewahren von Werten und der Abwehr vor

Terror

den entsprechenden Befehl erteilen, dann ist es angezeigt, dass du deine Grillabend-Buddys erschießt, weil wir dich sonst vor ein Militärgericht stellen.

Es wurden in Europa ständig irgendwelche Sicherheitsgesetze verabschiedet, die die SoldatInnen auf ihre neue Rolle im Krieg gegen den inländischen Terror vorbereiteten.

»Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Absatz 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen.« Hieß es im deutschen Grundgesetz.

Der Mehrheit der SoldatInnen war unwohl geworden, seit sie ahnten, dass irgendwas falsch lief. Sie alle sahen die Filme und Nachrichten, viele von ihnen lasen die kostenlose Zeitung und spielten das RCE -Game. Vor allem aber merkten sie, wie in ihren Frauen und Schwestern, den Müttern und Tanten, in den Vätern und Großvätern eine Ungehaltenheit gegen das System zu wachsen begann, dem sie dienten.

Und