dreieinhalb Monate vor dem Ereignis

saß die Direktorin

in ihrem Office, ja ein simples Büro hatte in der Leitungsebene keine, in Zürich.

Sie sah sich in der Fensterscheibe. Wunderbar.

Der Spiegeltest funktionierte. Sie erkannte sich.

Beigefarbener Hosenanzug, Loafers, Bob, Brille – sie würde Menschen wie sich misstrauen. Mit Verkleidungen, die Seriosität vortäuschen sollten.

Die Direktorin hatte in den letzten Monaten zwei Ziele verfolgt – Das erste hatte mit Manipulation, das zweite mit Erpressung zu tun. Nichts, was in ihren Kreisen außergewöhnlich gewesen wäre.

Die Direktorin betreute das Aktienportfolio der Nationalbank. Das heißt, sie investierte selbst geschaffenes Geld in Aktien. Und das tat die Direktorin in großem Stil bei Nestlé, Monsanto, Thyssenkrupp, Heckler & Koch, Amazon, Spotify, Facebook, BlackRock, Palantir. Nur um mal eine Hausnummer durchzugeben, bei denen die Nationalbank fast zur Mehrheitseignerin geworden war. Keines der Unternehmen, der Aufsichtsräte oder gar der Börsenaufsicht, die aus Bankern bestand, fand ein Anzeichen irregulärer Aktivitäten. Es war nur die gute alte Schweizer Nationalbank, ein konservativer Hort der Berechenbarkeit.

Die nächste Aufgabe war zeitraubender und hatte mit Bargeld zu tun.

Das noch in elf Hochsicherheitsnotenbankdruckereien in Europa gedruckt wurde. Bald würden die Münzpressen und Notendruckereien abgewickelt und in den Gebäuden vielleicht Gewürzschnuppermärkte untergebracht.

Es war der Direktorin gelungen, zu dem Leiter der italienischen Druckerei ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Der Drucker war parteilos, das war bei seiner Einstellung vor zwanzig Jahren sehr wichtig gewesen, vergessen hatte man bei der Überprüfung sein Gehirn. Das absolut an kommunistische Ideale glaubte.

Die italienische Druckerei war ein starker Partner der Direktorin. Fünf weitere Chefs von Druckereien, in Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien und Spanien, hatte die Direktorin mithilfe der Informationen, die ihr Ben aus dem Tessin übermittelt hatte, erpresst. Fast immer ging es um Unterschlagungen, in einem Fall (Deutschland) um antifaschistische Tätigkeiten. In Anklagen umgewandelt bedeutete das für die Betroffenen: zehn Jahre in einem privaten Gefängnis.

Das konnte keiner wollen, und so waren in den Druckereien die alten Druckplatten und Spezialdruckfarben der lokalen Währungen der europäischen Länder wieder aus den Lagern geholt worden. Geschmeidiges Baumwollfaserpapier, Wasserzeichen, Sicherheitsfaden, schönes Geld in Lire, Mark und Pesos wurde seit Monaten in Sonderschichten gedruckt und in eleganten weißen Boxen verstaut. Die Direktorin prüfte den Stand der Geldmengen, und bei den Telefonaten, die sie per RCE -App führte, hörte sie, dass sich im kleinen Kreis der vertrauenswürdigen DruckerInnen eine revolutionäre Euphorie eingestellt hatte. Es wurde viel gesungen. Und großartiges Geld entstand.

Um den Transport kümmerte

sich

Maggy wenig später

in Corcapolo.

Sie hatte die Umleitungen von Zügen und Lkws automatisiert und verfolgte ihr Werk. Ein bisschen wie Gott. Nur in jünger.

Gerade trafen Platzpatronen-Lieferungen in Bulgarien, Rumänien, Finnland und Belgien ein. Scharfe Munition wurde in Orte umgeleitet, die noch nie ein Mensch betreten hatte. Nahrungstransporte wurden in den Süden umgeleitet, Fischtrucks strandeten irgendwo im Nichts, und Geld wurde in Europa ausgeliefert und eingelagert. Maggy war im Rausch, nur nicht aufhören, nicht denken, an das Ende zum Beispiel – denn dann

sah sie die Gruppe schweigend an einem Bahnhof stehen, nachdem die Pläne gescheitert waren, sie sah alle verlegen zu Boden blicken, keine würde weinen. Und dann würden sie schweigend nach England fahren und dort ankommen, im Regen, wo niemand auf sie warten würde. Und dann würde alles so weitergehen wie früher. Nur – ohne Hoffnung.

Und daran dachte Maggy in der Nacht und dann musste sie auf die Wiese.

Und meinte dort, die Rundung der Erde zu erkennen und die Sterne. Irgendwelche Organismen irgendwo auf einem anderen Planeten machten vielleicht genau zur selben Zeit eine Revolution.

»Hey, viel Erfolg, KameradInnen«, sagte Maggy,

und war beruhigt. Sie hatte die Lächerlichkeit und die Tragik der sogenannten Lebewesen für ein paar Sekunden begriffen.

»Spaß muss sein«,

sagte Ben zu sich.

Zur gleichen Zeit in Corcapolo.

Er ärgerte MilliardärInnen.

In den Angriff-Logfiles brachte er falsche Endungen, also – Absender unter. Die Deutsche Bank greift Groupe BPCE an, Freia greift Marcel an, Credit Suisse bucht von Goldman Sachs ab. Zehntausende Fehlbuchungen waren inzwischen bemerkt worden, was Ben den hektischer werdenden Mails der Banker entnahm. Jungs, keine Angst. Es wird schon gut. Lasst uns beten.

»Geld. Die Weltreligion« – Ben begann leise zu reden, unklar war, ob er dachte, dass jemand ihm zuhört – »Geld entstand« –

Maggy verließ den Container. Rachel folgte ihr –,

»als Leute begannen,

Goldklumpen in Münzenform zu pressen. Geschaffen war die Kurantmünze. Eine praktische Währung, die man gegen Zeug tauschen konnte. Schnell fanden die Menschen zu ihrer Betrugslust und verringerten den Goldanteil, bis die Händler durch beherztes Zubeißen auf den Schwindel kamen. Der Ursprung der ersten Inflationen.

Und die Scheidemünzen entstanden. Die Herausgeber der Münzen gaben zu, dass bei diesem Zahlungsmittel die Zahl auf der Münze nichts mehr mit dem Metallanteil zu tun hatte, aber sie nannten es: Vereinfachung des Zahlungsverkehrs. Die Münzen waren immer noch schwer, unhandlich, darum erfand man Banknoten. Praktischer: Anstatt Gold und Silber zu transportieren, bekam man nun ein Dokument im Gegenwert von Gold und Silber.

Die Bank of England und die Royal Bank of Scotland, die das Pound

Sterling druckten, begannen bald zu verschweigen, was genau der Gegenwert des Versprechens auf den Zetteln war.

Die Menschen einigten sich auf die Existenz von Gott und den Wert des Geldes, und die Banken erfanden

das Kreditgeld. Das bald nur noch als Glauben funktionierte.

Und dann wurde Geld! ›Fiat Money‹, entkoppelt von Gold und Silber, im Gesetz verankert, Stempel drauf. Das

Papiergeld ließ sich mit Wertpapieren und Vermögensanteilen, Besitzurkunden, Hypotheken für Grundstücke, Aktien für Geschäftsanteile rechtfertigen, die man im Zweifel verkaufen konnte, um dafür – Zettel zu erhalten.

Wer Banknoten bekommt, dessen Forderung ist in jedem Fall erfüllt. Pech des Zettelbesitzers, wenn die Zettel ihren Wert verlieren.

Dann kann man klagen. Wegen Betrugs zum Beispiel. Aber –

gegen wen?

Gegen Banken? Oder gar die Börse? Mit ihrem unschätzbaren Wert für die Gesellschaft. Die Forschung. Die Arbeitsplätze. Das Wachstum. Die Pensionen. An der Börse wächst der Terminhandel – auf Nahrungsmittel. Wenn die Bevölkerungen satt sind – verlieren Lebensmittel ihren Wert. Haben sie Hunger, steigt der Preis. Auf dieser einfachen Erkenntnis basierten Forward-Contracts: Zum Beispiel, dass man auf den Wert von Nahrung wettet, wenn der Winter kommt, oder eine Dürre oder ein Krieg ansteht, und die Menschen Hunger haben –

Dann entstanden Options. Das Recht, zu einem guten Preis zu verkaufen, wenn der Preis eventuell hoch ist – Put-Option –, und das Recht, zu einem guten Preis zu kaufen, wenn der eventuell niedrig ist – Call-Option.

Dann kamen die Futures, das Recht, Call-Options zu einem hohen Preis zu verkaufen, sobald irgendwas Außergewöhnliches eintritt, also man kann auf Wettergebnisse wetten. Es gibt den Nominal-»Wert« von Derivaten, der höher ist als das gesamte Vermögen des Planeten. Und die Börsenvorhersagen, die An- und Verkäufe, werden durch Algorithmen durchgeführt, die durch Glasfaserkabel rasen, Bruchteile von Sekunden entscheiden über Aufstieg und Fall von Unternehmen, wer seine Server und Hochsicherheitskabel näher an der Börse platzieren kann, gewinnt, er siegt mit immer neuen Luftnummern und komplizierten Tricks, die auch Eingeweihte kaum verstehen, über Durst oder Hunger von Menschen, bestimmt den Gewinn von Aktiengesellschaften, die keine Menschen sind, sondern nur juristische Personen. Sie bestimmen über die Renten und ob Menschen ihre Wohnung verlieren, und

allem liegt nichts weiter zugrunde als der Drang, ganz oben zu sein, an der Spitze der Pyramide und dann.O. k. Irgendwas.«

Ben lachte. Er lachte über die Absurdität der Welt, die er meinte, als Einziger durchschaut zu haben.

Erstaunlich, dass sich die Menschen immer weniger auf irgendwelche gemeinsamen Werte einigen können. Viele PolitikerInnen versuchten nicht einmal ihre Gier zu verbergen. Die Unternehmen hielten sich nicht mehr daran, so zu tun, als würde sie außer ihrem Gewinn irgendwas interessieren. Die Männer taten nicht mehr so, als würden sie Frauen respektieren, die Gesellschaften taten nicht mehr so, als wären sie an Schwächeren interessiert. Aber

an das

Finanzsystem glaubten sie. Seit Generationen gelernt, durch permanentes Nudging am Leben gehalten, durch Filme und Bücher und Werbung und soziale Medien, die den Neid fütterten, und durch schnelles intuitives Denken hatten die meisten herausgefunden, dass ans Geld zu glauben sich auszahlte. Wenige Leute nahmen den Weg der Sorgfältigkeit auf sich, der hieß – recherchieren, vergleichen, Fakten prüfen, um zu entdecken, dass das System auf Hypnose beruhte.

Dabei war so wenig nötig, um das gesamte Konstrukt zum Kollabieren zu bringen.

Vielleicht. Im guten Fall.

Während Ben leise den Mund bewegte,

veröffentlichte er die ersten Datensätze auf seinem Blog, verlinkte zu Nachrichtenagenturen und den sozialen Kanälen und Plattformen und dem RCE -Chat, wo sich die Reste bezahlter JournalistInnen ihre Nachrichten holten. Zwei Jahre Fehlbuchungen bei der Deutschen Bank. Das sollte der Todesstoß sein.

Ben sah imaginäre Papiere, die aus dem Deutsche Bank Center am Columbus Circle in New York, was nicht mehr AOL Time Warner Center hieß,

flattern.

Das reichte noch nicht.

Aber –

»Jetzt

haben wir es fast«,

sagte Maggy zur gleichen Zeit

und kaufte Short-Optionen auf Aktien der Deutschen Bank. Sie kaufte sie, wie die meisten SpekulantInnen, über ihre AG in steuerbefreiten Ländern. Gerade schlug ihre Firma im Bundesstaat Nevada zu. Das Modell Nevada war einfach für Firmen, die halblegal wirtschaften wollten. Also ihren stolzen, heimatverbundenen Heimatstandort in Nordrhein-Westfalen oder in der Plattenseeregion hatten. Die Firmen kauften bei der Scheinfirma in Nevada mit ihren Gewinnen so viele Dienstleistungen ein, bis die heimatverbundenen Gewinne sehr gering waren und wenig Steuern in der heimatverbundenen regionalen Lieblingsheimat anfielen, und die Gewinne in Nevada waren aus Versehen steuerfrei.

Manche dieser Steuerparadiese mussten auf Druck von chaotischen demokratischen Regierungen ihre Gesetzeslücken schließen, aber dann gab es schon den nächsten guten Trick, der von IKEA , Google, Starbucks und anderen genutzt wurde. Findige Steueranwälte mit Humor hatten das Double-Irish-with-a-Dutch-Sandwich-Prinzip erfunden. Dahinter steckte ein Konstrukt aus Lizenzen, Tochterfirmen, Tantiemen, scheißegal. Hauptsache: keine Steuern, Hauptsache: Gewinne. Maggy hatte in den letzten zwei Jahren mehr von all diesen auf Gier basierten Tricks gelernt, als es für ihren Glauben an das Gute im Menschen förderlich gewesen wäre. Fast alle, die es zu einem Vermögen über 100 Millionen Dollar Minimum gebracht hatten, verloren den Kontakt zu dem Land, in dem sie reich geworden waren. Sie mochten von der Schönheit der Wälder in Finnland oder den Karpaten schwärmen, sie mochten Geld für eine Musikschule spenden, aber die Gier hatte gewonnen. Ab einem bestimmten Vermögen beruhte das Wachstum des Vermögens immer darauf, andere zu betrügen, auszubeuten, um eine Dynastie zu gründen, um mitzureden. Eine Schwäche in der menschlichen Grundausstattung war es, die Sterblichkeit zu begreifen und verrückte Dinge zu tun, um sie hinauszuzögern oder zu vergessen.

Und

zur selben Zeit hatte sich Rachel in Corcapolo mit eifrigen Code-Würmern in die Grundbuchämter Europas gegraben. Die IT -Systeme der Verwaltungen waren in einem erfreulich desolaten Zustand.

Seit dem großen Angriff durch Schadsoftware, die in Programmen eingeschleust auf ihren Einsatz lauerte, und die sich dann bei Updates in Systeme fraß, wie bei dem Angriff auf Produkte der Firma SolarWinds , die weltweit in Banken und in der sensiblen IT -Verwaltungsstruktur steckten, war

nichts passiert. Wie auch. Bis alle Systeme ausgetauscht worden wären, würden Jahre vergehen. Der traumatische Hack war sehr schnell wieder aus den Nachrichten verschwunden. Das Problem gelöst.

Und nun

suchten die Loader der Freunde nach Grundbesitzeinträgen von juristischen Personen – sprich: Firmen, Aktiengesellschaften, Familien-Offices, Anlagefirmen – und

löschten sie.

Während