immer noch ungefähr dreieinhalb Monate vor dem Ereignis

Pjotr in Pallanza zufrieden den Kursverfall der BlackRock-Nachfolger-Firma an der New Yorker Börse verfolgte.

Er hatte in den vergangenen Wochen die Gerüchte der angeblich antifaschistischen kommunistischen Umtriebe des neuen Chefs mit Beweisen, Telefonaten, Videos belegt. Hatte Presseagenturen und Medienhäuser und die

Geheimdienste mit Beweisen beliefert. Und nun musste er nur noch

abwarten –

Dachte

Sebastian

Politische Ausrichtung: links, ökologisch, antifaschistisch

Beruf: Ernährungsberater

Lebensstil: bewusster Verzicht

Gesundheit: Missbrauch körpereigener Hormone durch ständige Erregung über den Zustand der Erde

Sexualität: da lief mal was mit Ulrike

zur selben Zeit in Hamburg.

Seine Bewegung #Erhebteuch schien im Moment daran zu scheitern, dass viele jener Leute, die sich seinem Widerstand anschließen wollten, nicht in der Lage waren, auf der Tastatur einen Hashtag zu erzeugen. Immerhin war die Bewegung landesweit aktiv. Im Internet. Und mit Mahnwachen. #Erhebteuch wollte mit allen legalen Mitteln, denn Legalität war wichtig, um die Demokratie nicht zu gefährden, gegen die massiven Falschinformationen im Netz vorgehen, also gegen die Gamer, diese Netflix-Serie, all das Verschwörungsgeraune, das unter dem Namen »RCE « seit fast zwei Jahren die Bevölkerung spaltete.

Sebastian hatte im Eigenverlag ein Buch herausgebracht, in dem er untersuchte, warum Menschen Verschwörungsmythen eher vertrauten als PolitikerInnen.

Er hatte herausgefunden, dass es am Netz lag. An den Über-Informationen und der Komplexität der Welt. Die war zwar schon immer komplex gewesen, fragmentiert, und es gab so viele unterschiedliche Arten, sie sich begreifbar zu machen, wie es Menschen gab, aber das wusste Sebastian nicht. Er war Ernährungsberater, und das war ein wichtiger Beruf. Ernährung und Nachhaltigkeit waren wie Geschwister, sozusagen, und so beriet er beispielsweise verzweifelte ArchitektInnen, die nicht wussten, wie sie sich der Superfood-Avocado gegenüber zu verhalten hatten. Verbrauchte die Zucht der kleinen Racker, ihr Flug aus fernen Ländern, mehr ihres ökologischen Fußabdruckguthabens, als die gesunde, vegane Ernährung dem Klima schenkte?

Sebastian ging seiner fordernden Tätigkeit auch in Schulen und Kindergärten nach, um Faktencheckkompetenz direkt an den Orten zu vermitteln, wo die Radikalisierung geboren wurde. Er organisierte Mahnwachen vor den Verteilerstellen der RCE -Zeitung und verteidigte im Netz die Regierungen, die EU , die NATO , die KapitalistInnen, weil es um Fairness ging. Um einen Kampf mit gleich langen Waffen sozusagen, und Fairness musste auch dann gelten, wenn es um jene ging, die er eigentlich verachtete – die ImperialistInnen. Man musste sie fair verachten und nicht mit Lügen bekämpfen. Sebastian hatte die kleine Wohnung seiner Eltern geerbt und vermietete sie zu einem, sagen wir, okayen Preis, er hatte zwei Kinder und die würden irgendwann Informatik studieren. Sebastian hatte ein iPhone und den neuen Mac, er fuhr, von den Mieteinnahmen beflügelt, mit seinen Kindern und der Frau in Fahrrad-Ferien, die sich anhand der Streckenführung mit dem Erlernen ökologischer Themen vereinbaren ließen. Sebastian engagierte sich in der Ortsgruppe der Grünen an der Basis. Da waren Menschen wie er, die sagten: »Wir leben in einer der besten Demokratien der Welt.« Zusammen machten sie politische Arbeit. Sie riefen die Bevölkerung zu demokratischen Wahlen auf, sie ermutigten die Massen, ihre Organe zu spenden, die Digitalisierung zu umarmen, mit der die demokratische gewählte Regierung jeden intimen privaten Bereich der Bürgerinnen in chinesische Clouds überführte. Sebastian und seine Leute gingen auf angemeldete Demonstrationen gegen Kinderarbeit, machten erlaubte Sit-ins vor chemischen Fabriken. Und es war ihnen wichtig, immer im Dialog zu bleiben.

Sebastian beobachtet die aktuelle Stimmung mit großer Sorge, die Zusammenrottung der Bildungsfernen, der Vulnerablen, der Leute, die er nur theoretisch kannte. Sebastian und seine MitkämpferInnen der antifaschistischen Aufklärer hatten eine an Todespanik grenzende Angst.

Das dauerte aber,

dachte Leo ein paar Tage später, darauf wartend, dass seine Anwälte in Hawaii erscheinen würden.

Er saß in einem fensterlosen Raum des FBI -Gebäudes auf der Hauptinsel und betrachtete die Unterlagen, zu denen er sich äußern sollte.

Vor drei Stunden war er von seiner Jacht gebeten worden. Eine Aufforderung, der man sich nicht widersetzte, wenn zwei stark Bewaffnete sie aussprachen. Und wenn an einem unauffällig schwarzen Wagen, der vor der Jacht parkte, weitere Beamte warteten.

Hagen war zurückgeblieben und versuchte nun, eine kleine Anwaltsarmee einfliegen zu lassen.

Die Beweislast, das sagte man so, war erdrückend. Es gab Spenden seiner Stiftung an antifaschistische Organisationen, Mailwechsel mit der Regierung Kubas, den Zapatisten, und Pläne für einen kommunistischen Umbau der Regierungen.

Das war

nicht lustig,

der Vorgang würde die Anleger verunsichern.

Leo fragte sich, wie die belastenden Informationen bekannt geworden waren, da er Apple- und Signal-Verschlüsselung vertraute, und vor allem – wie Mails, die er nie geschrieben hatte, in seinen Mailverlauf geraten waren.

Er fragte sich, woher die Überweisungsbelege kamen,

und – WTF das alles sollte.

Leo wollte nach Hause und

hatte keine Ahnung, wo das sein sollte.

»Wo

war sein Daheim?«, fragte sich der Boyband-Boy nach seinem Auftritt im Olympiastadion zur gleichen Zeit in Deutschland. Drei Tage nacheinander war das Stadion ausverkauft. Kollabierende Jugendliche, Schreien, Kreischen, Playback. Nach den Konzerten wurde die Band durch einen Tunnel in einen Van, in ein Hotel, es war jeden Tag ein anderes, transportiert, damit die Fans es nicht fanden. Wenn die Fans es fanden, wurde es ungemütlich. Der Boyband-Boy war seit über einem Jahr nicht mehr auf der Straße gewesen. An keinem Strand, in keiner Kneipe. Er hatte keine Geschlechtspartner gehabt. Woher auch. Wann auch. Er trainierte, absolvierte Pressetermine, probte, war im Gym, in der Maske, machte Werbeaufnahmen für alles, was man verkaufen konnte, und mit ihm bestand die Gruppe aus fünf jugendlichen Menschen, die jede sexuelle Fantasie der sehr jungen Fans abdeckten, ein Junge und ein Transjunge aus Südkorea, die sehr filigran gebaut waren, der Rest blond, dunkelhaarig, lange und kurze Haare, mehr oder weniger Muskeln, da war für jeden Geschmack was dabei. Die Musik war irgendwas. Hauptsächlich egal. Es ging um den bedrohlichen Erstkontakt mit Erotik, um Hormone und Geld. Jedes neue Video der Band hatte an die hundert Millionen Views auf den Plattformen, die man so nutzte, um Videos zu bestaunen. Millionen Downloads auf Spotify, der übliche Quatsch. Die Band gehörte Spotify. Und ein wenig der Produktionsgesellschaft. Die Stimmen und die Musik waren AI -erzeugt, eine Mischung aus den populärsten Boybands aus Korea, Japan und den aktuellen amerikanischen Hits. Wann immer einer der jungen, männlich Gelesenen gescriptete Clips in den sozialen Medien hochlud, auf Konzerte und neue Tracks hinweisend, ging der Beitrag weltweit viral. Es war ihre Zeit. Die Boyband-Boys-Zeit, und warum konnte er sie nur nicht genießen?

Der Boyband-Boy saß einmal in der Woche in einem Untersuchungsraum und berichtete einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin und den Mikrofonen von seiner vergangenen Woche.

Er wusste, was er zu sagen hatte.

»Ich habe in der letzten Woche trainiert, hatte Interviews, in denen ich Spotify als großartigen Partner mehrfach erwähnt habe. Ich habe ihnen für die Chance gedankt und für ihr Mentorship.

Ich habe die Nachrichtensendungen verfolgt und während der Flüge ein wenig Aktienkurse studiert. Ich habe meine Einnahmen in Aktien angelegt, die Börse fasziniert mich. Ich habe ein wenig zu Bildern nackter Frauen onaniert.« Und so weiter. Der Boyband-Boy vermied alle Buzzwords, wie: kritisch, Zweifel, unsicher, Überwachung, Kontrolle, Regierung, Konzerne, Plattform –

er performte das Bild eines gesunden, nicht zu klugen jungen Mannes, der mit seiner kurzen Karriere Frieden geschlossen hatte. An allen Aktivitäten seines Lebens, vom Work-out bis zur Zahnreinigung, ließ er seine Millionen Follower teilhaben.

Es gab keine erfolgreichen KünstlerInnen mehr, die nicht einen oder mehrere Modelverträge mit einem der zwei großen französischen Modekonzerne hatten, die nicht in Realityshows auftraten und nicht mindestens eine Million Follower in den sozialen Medien hatten. Es gab keine Trennung mehr zwischen On- und Offlinekarrieren, es gab keine kritische Haltung mehr, denn die meisten jungen Künstler hatten verstanden, dass es vollkommen sinnlos war, gegen irgendwas zu rebellieren, warum auch. Es ging ihnen gut, wenn sie machten, was alle machten, wenn sie ihre Onlineperformance ausbauten und immer gut gelaunte Interviews gaben, Lebensfreude war der Key.

Natürlich verbunden mit Authentizität.

Alle der angesagten Stars, also Streamingplattform-Stars oder Soap Stars oder Influencer oder Popstars, hatten ein authentisches persönliches Schicksal. Das sie gemeistert hatten. Sie zeigten manchmal Bilder ihrer Jugendakne auf den Plattformen. Um aus der Rolle als Opfer auszubrechen, um dem Markt zu zeigen, wo der Hammer hängt.

Für den Boyband-Boy war ein Profil erstellt worden. Er war der Junge aus armen Verhältnissen, hatte einen Missbrauch durch einen Priester erlebt, war danach depressiv geworden und hatte sich nun aus eigener Kraft neu erfunden.

Der Boyband-Boy hatte den ganzen Scheiß satt.

Es war zu viel zu schnell passiert,

es war

aussichtslos, dachte Don zur gleichen Zeit in Corcapolo.

Es war kurz vor dem Aufstehen, kurz vor der Sonne, die Zeit am Tag, in der die Gedanken ungefiltert durch das halb schlafende Gehirn krochen. Don sah zu Karen, die noch schlief oder so tat. Karen hatte ihre fast weißen Haare letzte Woche komplett abrasiert. Scheißidee, denn nun war ihre weiße Kopfhaut knallrot, weil sie vermutlich eine Sekunde an der Sonne gewesen war. Don zweifelte am Morgen – daran, dass ein paar fast noch pubertierende Jugendliche eine Chance haben würden, die Welt zu retten. Da

täglich überall neue Businessmodelle entstanden, um

irgendeinen Bereich zu überwachen, Informationen und Bilder abzuziehen, auszuwerten, zu speichern. Clearview AI zum Beispiel, das geschmeidige Start-up, hatte gezeigt, wie einfach es ist, aus Geldgier die eigene Spezies zu verraten. Das Pitch des Ladens war vermutlich in einigen Sätzen erledigt gewesen.

Guten Tag, wir stehlen Fotos, also Content aus Menstruations- und Single-Apps, aus Koch- und Wetter-Apps, von allen sozialen Plattformen aus den Weiten des Cyberspaces. Damit kann man dann eine AI trainieren, damit kann man Massen dazu bewegen, irgendetwas zu abonnieren, zu kaufen, gut zu finden oder schlecht, man kann Kameras mit den Bildern füttern.

Danach kann man dann alle Menschen erschießen. Na, wie klingt das?

Clearview-AI wurde von einem belanglosen Programmierer und einem Ex-Berater von Rudy Giuliani, der mit der Haarfarbe, gegründet – und von Peter Thiel, Sie wissen schon: libertäre Inselstaaten.

Wie schön,

dachte Marcel zur gleichen Zeit auf Gozo, die meisten Geschäftsbereiche von Peter Thiels Ex-Imperium gehören jetzt mir.

Marcel stand an seinem Panoramafenster, das Meer glich ihm selbst – unattraktiv und ausgefranst. Scheiß Bild, dachte Marcel und sah an sich hinab, der Luxus, fett zu sein, erregte ihn nicht mehr. In einer Welt, in der es nur noch um die Höhe der abstrakten Milliarden ging, konnte man es sich erlauben, fett zu sein. Der gemeine Mensch wog seine Körner ab, die biologisch irgendwo in den Anden angebaut worden waren, und bei jedem Bissen geschmacklosem Zeugs ging ein erregender Schauer durch seinen übersäuerten Körper. Sich mit ödem Essen auf der Seite der Gewinner zu fühlen, war lustig. Die absoluten Verlierer, die sich keine Körner leisten konnten und den letzten Kick durch ein bisschen Zucker erfuhren, die fetten, adipösen, durch Hormone, Fertignahrung, Zucker und feuchte Wohnungen aus dem Leim gegangenen, dauerentzündeten, wurden entlassen, weil sie nicht dem ästhetischen Standard entsprachen, die Versicherungen wurden ihnen gekündigt wegen mangelnder Disziplin, die Krankenhäuser wiesen sie ab, das konnten sie sich leisten, denn sie waren Aktiengesellschaften,

die Solidargemeinschaft kündigte ihnen die Solidarität, wegen ihres Unsolidarität gewordenen Körperzustandes, mit dem sie die Gemeinschaft belasteten.

Marcel lief in seinem Haus herum. Er hatte keine Ahnung, was er sich bei der Anschaffung gedacht hatte. Weder mochte er den Ort noch das Wetter oder die Menschen hier. Er mochte Menschen generell nicht. Wozu brauchte man sie? Wozu brauchte er das Haus? Nur, um sagen zu können, dass er einen Rückzugsort an einem abstoßenden Ort besaß? Marcel hatte keine Ahnung, was er in einem sogenannten »Rückzug« mit sich anstellen sollte. Marcel hatte Häuser gekauft, Autos, Rennpferde, aber er hasste verdammte Tiere, und

alles, was er erwarb, hatte ihn nur für die kurze Zeit erregt, wenn er davon erzählen konnte. Aber wem nur? Die Leute, mit denen er zu tun hatte, konnte er alle entlassen, oder sie waren ähnlich vermögend wie er. Es erfüllte keinen von ihnen, mit Dingen anzugeben, die sich die anderen auch kaufen konnten, denn der Reiz des Vermögens implizierte Exklusivität.

Marcel dachte manchmal an seine Jugend, also als er sechzehn Jahre alt gewesen war und wie im Fieber. Als er kreativ war und wenn er nicht kreativ war, also keine Skizzen zur Errichtung eines AI -dominierten Imperiums zeichnete, hatte er TED -Talks gesehen oder Ayn Rand gelesen. Er war in sie verliebt gewesen – oder in ihre Idee der Revolution durch kreative junge Menschen. Das Entmachten der untätigen Erben war nach seinem Gusto. Keine Ahnung, woher er diese Redewendung hatte.

Nun.

Heute, 300 Milliarden Dollar später, konnte er abgesehen von Insiderinformationen nichts mehr bei sich behalten und der Ayn-Rand-Crush war ihm peinlich, denn er hatte herausgefunden, dass alle alten Männer sie in ihren Mahagonibibliotheken stehen hatten. In Interviews sagte Marcel oft, er sei durch Karl Marx geprägt, »ich bin Marx’ Novize«, sagte er schmunzelnd.

Seine letzten kleinen Projekte hatten ihn alle gelangweilt. Er hatte eine Firma übernommen, die eine Applikation für Kleinanleger im Aktienmarkt entwickelt hatte. Eine Zocker-App. Über die Plattform hatten sich Anleger und Revoluzzer zum Short-Options-Kauf verabredet, und um Hedgefonds zu sprengen. Was ihnen nicht gelungen war. Denn die App sammelte und verkaufte jede ihrer Transaktionsbewegungen an Großanleger, Broker und Hochfrequenz-Broker. Immer einen Schritt voraus, sozusagen. Es gab, so war sich Marcel sicher, keine Möglichkeit mehr, eine digitale Revolution zu starten. Die digitale Schlacht war gewonnen. Bald würde das gesamte Weltwissen, alle Daten, alle Informationen, Arbeitsschritte, Patente, jeder fucking Bereich, jede Produktion, das Geld, digitalisiert sein. Und Rechenzentren groß wie Länder würden Energie verballern. Die knapp werden würde.

Laut der von ihm befragten AI würde Marcels Lebenszeit ihm noch das Vergnügen von Seen, Flugreisen und Golfturnieren bereitstellen, danach wäre der Planet erledigt.

Was ihm egal war. Er würde keine Kinder haben, er würde nicht weiterleben wollen wie die Freaks, die sich in Eis konservierten oder ihr Gehirn digitalisierten.

Marcel snackte ein wenig zuckerhaltiges Zeug und erteilte Anweisungen, die schon lange nichts mehr mit Kreativität zu tun hatten. Es ging nur noch um Wachstum. Um mehr

Anweisungen, die mit Intrigen, dem Shorten von Firmenaktien und deren Übernahme zu tun hatten. Alles per Kryptofon. Marcel

misstraute dem Internet.

Das war

lustig,

dachte zur gleichen Zeit der Moderator, der gerade vor dem Europaparlament in Brüssel stand, wo er vor den Abgeordneten aufgetreten war. 200.000 Euro Cash vom europäischen Volk gezahlt. Dafür hatte er durch die Veranstaltung: »Europa – Zukunft – Chancen – Visionen« geführt.

Er hatte in all die sich ähnelnden, mittelmäßigen Gesichter geschaut, aus den Hirnen, die dahinter verbaut waren, konnte nichts Hervorragendes kommen.

Außer die Freude an der Institution, die es zu schützen galt, wie alle Institutionen, die erst einmal am eigenen Erhalt und nachgeordnet an irgendwas interessiert waren. Zum Beispiel an der totalen Verwaltung.

Es hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, das komplette Regelwerk durchzuzählen, das hier entstanden war. Ein prächtiger Almanach des Irrsinns.

All diese verzagten grauen Gesichter, die zu hoch sitzenden Hosen, die Ausflüge in die umliegenden Bordelle, die Taschen voller Viagra, was soll das nur für ein Leben sein. Nun –

musste der Moderator schnell in den bereitstehenden Helikopter gleiten, um die Aufnahme zu machen,

die

in Berlin stattfand. Wo sonst. Die Verwaltungshauptstadt. Die wunderschöne pulsierende Metropole, das geistige Zentrum im geistigen Vakuum der unbewohnten Innenstadt.

Freia flog über das neu damals errichtete Schloss, ein Denkmal, Mahnmal, Richtungsweiser, je nach Perspektive. Da, seht nur, so elegant war die Feudalzeit, da gab es eine Ordnung, da wurde euch gesagt, wo euer Platz ist, ihr hattet keine Freiheit, außer ihr wart irre, ansonsten lebte und starb jeder auf dem Platz, den Leute wie wir ihm zuteilwerden ließen.

Heute konnte jeder alles erreichen.

Freia sah nach unten, auf die zugige Innenstadt, Museen, Beton, Asphalt, gebaut und geplant und finanziert und genehmigt von Männern mit der Fantasie, die ganze Welt mit ihrem gigantischen Hintern plattzusitzen. Über die Freiflächen krochen die Verlierer. Die bald ausgestorben sein würden. Zerfressen von Hass und mit löchrigen Lungen, gedemütigt, mit keiner Zukunft.

Freia bekam den Begriff »soziale Marktwirtschaft« – nicht aus dem Kopf.

Sie leistete ihre Bringschuld als Vermögende mit ihrer Stiftung, die sich für benachteiligte Jugendliche einsetzte und die Staatskasse unterstützte, die im Gegenzug gerade den Bildungshaushalt um 533 Millionen Euro gekürzt hatte.

Der Minimallohn betrug 8 bis 9 Euro. Fair genug. Fiel Freia unzusammenhängend ein.

Freias Pilot landete den Helikopter auf dem Dach des Gebäudes, in dem Hagens Anwaltskanzlei befindlich war.

Die Unterschriften, die Freia zu leisten hatte, betrafen die Erbschaft, und da galt es ein wahres Vermögens-Dickicht zu durchpflügen. Das überall seiner Vermehrungsaufgabe nachkam. Auf anonymen Konten in Luxemburg und auf Guernsey, in Delaware und Panama, die mit Scheinfirmen auf Malta und Mauritius verbunden waren, die in Immobilien investierten, teilweise an einen Trust verkauften, dazu wurde das Grantor-Retained-Annuity-Trust-Instrument verwendet, um eine Schenkungssteuer zu vermeiden.

Treuhandkonten unterlagen keiner Kontrollaufsicht. Von diesen Konten floss Geld zurück an Freia, wenn sie ihre Jacht modernisieren wollte oder die Gehälter für das Personal zahlen musste (Mindestlohn).

Leos Geliebter, den sie jetzt treffen würde, arbeitete in der Wealth-Defence-Industry, er war einer der Soldaten im Krieg gegen die Steuern, und ein Meister in der Verschleierung von Freias Vermögensflüssen. Er verdiente im Jahr damit rund 5 Millionen Euro, für die er natürlich keine Steuern zahlte.

Der

Hagen beschäftigte

in seiner Kanzlei in Berlin sehr eloquente Anwälte, die wiederum Kontakte zur Regierung in allen Ländern pflegten, um mit dem richtigen Nachdruck in den Parlamenten Steuersenkungen und Extraparagrafen zu verabschieden und gegen sogenannte Leakingplattformen in aller Schärfe vorzugehen. Mit Erfolg. Die wenigen, die sich noch wagten, irgendwas zu veröffentlichen, was keinen interessierte, wurden von Europol verfolgt. So.

Eine Unterschrift und ein neues Anlagemodell war auf dem Weg in die Gruppen, die es Gesetz werden lassen. Würden.

Hagen hatte neben dem Cum-ex-Trick auch die

Limited-Liability-Companies entwickelt, die ohne Besitzerangaben gegründet werden konnten. Er war schlau genug gewesen, sich das Modell patentieren zu lassen.

Hagen betreute keine KundInnen persönlich, aber – bei Freia machte er eine Ausnahme, denn sie waren ja fast eine Familie. Freia hatte vor Kurzem noch eine Stiftung gegründet. Ein weiterer Nagel in den morschen Knochen der Demokratie, ein weiterer Born der Kapitalerhaltung.

Unter der Überschrift der Forschungs- und Start-up-Förderung wurden erneut Milliarden gewaschen, verschoben, versteckt, in Aktienpaketen angelegt,

über Fake-Firmen und Trusts gewaschen, komplett

legal. Alles seriös auf der Basis von Steuergesetzen, die Hagen erarbeitet hatte.

Ab und zu bekam übrigens wirklich eine Jungunternehmerin Geld,

wie zum Beispiel

Adriana

Hobbys: Windeln waschen

Sexualität: dank Pilleneinnahme seit zwanzig Jahren asexuell

Vermögen: Unterwäsche

Krankheiten: Depression durch Pilleneinnahme, Thrombosen

Gesundheitszustand: hoffnungslos

in Ljubljana. Die noch vor einiger Zeit 10.000 Euro aus der Stiftung für junge UnternehmerInnen erhalten hatte. Und damit neue Produkte für ihr Unternehmen erworben, das im Herzen der neoliberalen Hauptstadt des reizenden Landes positioniert war. Lokales Handwerk war der Markenkern an ihrem Point of Sale.

Aber.

Plötzlich

blieben die TouristInnen aufgrund von Finanzschwäche aus. Das berührte die meisten EinwohnerInnen der IT -Hub-Stadt nicht, aber der Rest –

wich langsam in die Randgebiete aus, und die Läden schlossen, weil die fidelen IT -Hubler nach Amazon-Vorbild eine neue Shoppingplattform programmiert hatten, deren Algorithmen die BewohnerInnen des kleinen Landes besser bedienten als jeder Laden.

Das Café schloss als Erstes. Dann der Bäcker, der Dessous-Shop, das Restaurant. Adriana hielt noch zwei Monate durch, aber es war nicht mehr lustig. Die Straße, die vorher aus einem Plečnik-Werbefilm zu kommen schien, war leer. Und ruhig. Es gab eine Cafékette und einen haptischen Laden des Onlinekaufhauses, aus dem man die Waren entnehmen konnte. Das war chic. Das Theater der Stadt war zu einem Event-Ort umgestaltet worden, in dem SchauspielerInnen und PerformerInnen und KünstlerInnen Werbezeit kaufen konnten, um sich und ihre Arbeit vorzustellen. Und zu verkaufen, sich, ihre Kunst, egal. Für Werbefilme oder Firmenevents oder ihre Bilder für die Empfangshallen von Banken.

Adriana war traurig, aber dachte, das würde schon wieder, und suchte einen Job zur Überbrückung, bis es wieder würde. Sie verschuldete sich nicht, denn dafür sorgte ihre mobile Zahlfunktion, die mit ihrer Identität gekoppelt war. Die erlaubte ihr, nichts außer Reis zu erwerben. Dann halt Reis. Milliarden Asiaten aßen Reis, und wer war sie, dieses edle Nahrungsmittel abzulehnen. Inzwischen hatte eine amerikanische Fast-Food-Kette alle Shops in ihrer alten Straße aufgekauft und zusammengelegt und bot Veggieburger an. Gesund und nachhaltig.

Adriana fand dann einen Job im Lager einer Shoppingplattform. Wenn sie morgens in das Lager kam, musste sie alle persönlichen Gegenstände beim Eingang abliefern, das vom Staat finanzierte Handy, die Tabletten, das Taschentuch. Ihre Wasserflasche durfte passieren. Die gesamte Halle, die Umkleideräume, die Toiletten waren kameraüberwacht.

Auf großen Bildschirmen wurden immer aktuelle Aufnahmen von schlechten MitarbeiterInnen gezeigt. Gähnte jemand? Versuchte er, Kekse zu stehlen? Da wurde auch schon zugegriffen, der Angestellte abgeführt. Adriana trug ein Trackingarmband, das ihre Arbeitsbewegungen einlas, mit Vibrieren warnte, wenn sie unnütze Bewegungen ausführte, einer anderen Kollegin zu nahe kam, Sprachdistanz – nahe. Wenn sie zum Beispiel dreimal einer Kollegin in Sprachdistanz zu nahe kam, wurde sie entlassen.

Adrianas Herzschlag war mit Arbeitsbeginn doppelt so schnell wie gewöhnlich. Sie hatte wie viele eine Windel an und Angst, sie zu wechseln. Die Sekunden würden ihr abgezogen. Nach hundert vergeudeten Sekunden folgte die Entlassung.

Adriana meldete sich wie alle zu freiwilligen Doppelschichten und ab und zu verspürte sie Hass, trotz ihrer dauernden Kopfschmerzen und der Angst und der Panik, und immerhin hatte sie noch eine Wohnung,

Wie kein anderer sorgt der Onlinehändler in diesen harten Zeiten für seine Mitarbeitenden. In den Mittagspausen überraschte der Arbeitgeber die ArbeiterInnen mit einer veganen Mensa mit kostenlosen Wahlgerichten. Auch für das Dienstende wurde mit einer firmeneigenen Pensionskasse vorgesorgt. Auf allen Sendern wurde der Dreck verlesen. Dazu Aufnahmen einer Kantine gezeigt. Nichts stimmte. Es gab weder eine Kantine noch eine Pensionskasse, aber – eine diverse Toilette war vorhanden. Bei Benutzung wurden Strafpunkte auf dem persönlichen Konto vermerkt.

Vor einer Woche hatte eine Einsatztruppe die Tür von Adrianas Wohnung, na ja Wohnung, aufgetreten. Warum? Weil sie es konnten. Sie hätten auch klingeln können, aber wo bleibt da der Spaß. Wozu das harte Training, die martialische Ausrüstung, wenn nicht, um ein paar Idioten zu erschrecken. Auf jeden Fall wurde Adriana auf den Boden geworfen, gefesselt, später verhört und unter Hausarrest gesetzt.

Eine der biometrischen Kameras hatte sie bei terroristischen Aktionen gefilmt. Also einer Demonstration vor einer Bank. Alle Beteuerungen Adrianas, nie an jenem Ort gewesen zu sein, brachten keine Änderung des Urteils. Das Filmmaterial war eindeutig, wenn man die hohe Fehlerquote bei Frauengesichtern oder nicht weißen Gesichtern außer Acht ließ. Ariana verlor ihren Job, bekam eine Fußfessel und schloss sich über die RCE -App einer gewaltbereiten Gruppierung in ihrem Land an. Ist das öde,

dachte

Hagen in Berlin, der Freia zur gleichen Zeit immer noch beriet, damit sie ihr Imperium steuerbefreit an ihre Kinder weitergeben konnte. Die Kinder warteten mit Drogen optimiert in einem Internat auf ihre Zeit als vierte Generation Milliardäre.

Hagen verstand diesen dynastischen Anspruch nicht wirklich. Er hatte mit Unsterblichkeit zu tun, was man nicht verstehen konnte, wenn man das nichtssagende Äußere von Freia betrachtete. Warum nur wollte sie unsterblich sein? Sie war weder brillant, noch verfügte sie über Humor, Schönheit oder ein Talent.

Hagen war nervös. Denn Leo wurde gerade verhört, und er wunderte sich, dass Freia das Thema nicht ansprach. Er betrachtete die Milliardärin, während sie Unterlagen studierte. Was für ein komplett überflüssiger Mensch. Wie er, wie alle, die er kannte.

Hagen wurde unbehaglich. Denn zwei Männer des Ministeriums des Inneren betraten den Raum, sie waren mit einem Amtshilfeantrag aus den USA ausgestattet und baten Freia nicht um Verzeihung – und Hagen zu einer Befragung.

Das Ende

der Reise fand zur gleichen Zeit nahe Berlin auf dem Acker statt.

Der Moderator wurde von einer Person mit Kapuzenjacke zu einem romantischen Fachwerkbauernhof geleitet. Der Hubschrauber entfernte sich, und auf der Wiese vor dem Haus, Fachwerkhaus, Bauerngarten, Apfelbäume, Tiere aus Kunststoff und Menschen. Echt. Morgennebel aus der Morgennebelmaschine.

Eine Kamera- und Tonfrau und eine junge, was war das eigentlich? Der Moderator hasste die neue Zeit, in der jedes jeden Morgen irgendein Geschlecht auswählen konnte. Was kam als Nächstes? Wollten die Leute als Tisch angeredet werden, falls sie sich gerade so fühlten?

Die Wut schien in seinen Ohren zu rauschen.

Der Moderator war verwirrt durch die jungen Menschen, die sexuell so eine unklare Aussage machen. Oder gendermäßig, oder geschlechtlich, er blickte da nicht durch und fühlte sich alt, was, wie erwähnt, zu Hass führte.

Nun wurden Texte verteilt.

Neben dem Moderator standen der berühmteste Fußballtrainer des Landes, die bekannteste Schlagersängerin, ein Hip-Hopper in Gucci-Klamotten, der ehemalige Bundespräsident sowie der höchste Armeebefehlshaber.

So, jetzt proben Sie doch bitte die Ansprache.

Alle probten die Ansprache.

Danach wurde gedreht.

Leise, stimmungsvolle, optimistische Musik. Aufbruch, Optimismus atmend.

Jeder sagte denselben Text. Durch vollendete Schnitttechnik würde das Werk zu einem energiegeladenen Aufruf werden.

»Liebe Bevölkerung, Ausgebeutete, Machtlose, Verkaufte.

Ihr denkt, wir sind die Elite, aber wir sind Kleinbürger wie ihr.

Wir verlieren unsere Einkommen, unsere Wohnungen, unsere Leben. Es wird permanent an unsere Solidarität appelliert. Solidarisch sollen wir einen Teil unseres beschissenen Geldes spenden, damit der Staat mit unserem Steuergeld die Banken retten kann.

Wir können demonstrieren, wir können in Parteien eintreten, was immer heißt: Wir erhalten ein System.

Wir erhalten Gewerkschaftsfunktionäre, Firmen, Aktienfonds, wir erhalten das Bankgeheimnis und«

[Okay, das ist zu kompliziert, evtl. schneiden. Anmerkung Regieassistenz]

»wir bedeuten nichts, wir zählen nicht, wir haben unsere Welt verloren. Darum kämpfen wir jetzt.

Denn es ist unser Leben, es sind unsere Städte, Parks, unsere Körper, unser Geld!

Und das holen wir uns zurück.

Schon bald. Folgt unseren Anweisungen in der RCE -App!«

Danach wurden noch weitere Folgen der Ansprache aufgenommen. Von den Deutschen. Und den Prominenten aller Länder. In Europa,

da hatte doch