eineinhalb Wochen vor dem Ereignis

fragte sich Ben in Corcapolo,

ob ihr Kraftort – die renovierten Steinhäuser und Bungalows hier im Tal – irgendwann Nationalerbe werden würden. Schulklassen, die den Weg runtereiern, um gelangweilt Attrappen ihrer alten Rechner anzustarren. Das waren die Rechner, von denen aus die Welt gerettet wurde, würde die Lehrerin sagen, und die Jugendlichen würden übertrieben gähnen und versuchen, irgendwas kaputt zu machen.

Wenn Ben später ein Interview über diese Zeit gäbe, würde er sagen: »Wir alle sind in den letzten Monaten vor dem Ereignis damals um Jahre gealtert.«

Na ja, Sprache war nicht so seins.

Ben versuchte, die Aufstellungen über die Fehlbuchungen der letzten zwei Jahre geschmackvoll, reißerisch und plakativ darzustellen, um sie an diverse Medien zu leaken.

Und tschüss –

Kurz darauf lag die Meldung der Nachrichtenagentur auf dem inneren Schreibtisch

der Pressemitarbeiterin

Mentale Verfassung: einsam, wütend

Familiärer Zusammenhang: einsam

Politische Ausrichtung: verwirrt

Hobby: gälische Gedichte

Beziehung: Hund tot

in Edinburgh in Schottland. Die Pressemitarbeiterin arbeitete für die durch das Mutterland kontrollierte Edinburgher Tageszeitung. Es gab nur noch englische Eigentümer von schottischen Medien, die außer dem Wetterbericht keine Wahrheiten enthielten. Der Wetterbericht traf nie zu.

Die Pressemitarbeiterin schrieb unter dem Namen »Murray News« einen Blog auf einer Reddit-und-Tor-Seite. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft, seit ihre Freundin und ihr gemeinsames Kind das Land hatten verlassen müssen. Ihre Freundin war Polin und in einer freien Theatergruppe gewesen. Nun lebte die Pressemitarbeiterin ohne Kind und Frau in einer WG mit sechs anderen.

Es war 9 a.m., in der Straße war zum Schutz der Bevölkerung das britische Militär präsent. Weil sie es konnten. Kaum jemand sagte öffentlich etwas gegen die Krone, das ehemalige Königshaus, kaum eines wagte noch, sich an den ökologischen Projekten im Land zu beteiligen oder eine linke Partei zu wählen. Dafür lasen sie seit der Ablehnung der Unabhängigkeit Schottlands durch England ständig neue Horrormeldungen über die linken TerroristInnen, die Kraftwerke sabotierten.

Gerade war bei einem Reaktorbrand des Kernkraftwerkes Torness eine für Menschen unbedenkliche Menge radioaktiver Strahlung abgegeben worden. Noch mal Glück gehabt.

Das Gebiet, in der die noch dampfende Ruine stand, wurde geräumt, also von Menschen, die im Umkreis von 200 Kilometern wohnten, bereinigt, eine Woche lang herrschte Aufregung in der Weltpresse.

Dann brachte eine K-Popband einen neuen Song heraus.

Es herrschte eine neue Art von Unruhe. Die Menschen im Land hatten einander so abgrundtief gehasst, aufgehetzt durch Fernsehprogramme und personalisierte Werbung, dass es bis vor einem Jahr täglich Kämpfe gab. Nationalisten gegen Royalisten, Geschäfte brannten, es gab Schlägereien, Messerstechereien, aber das war seit Monaten vorbei. Es war ein Hass gegen die englandtreuen Clans entstanden, gegen die Großgrundbesitzer, die der Bevölkerung vor Hunderten von Jahren das Land geraubt hatten, gegen die Mohn-Familie, die Woods und die Thomsons, die Gordons und alle Philanthropen des Landes, deren Reichtum obszön war. Immer mehr KleinbürgerInnen hatten verstanden, dass sie nie aus ihrer Armut gelangen würden. Das war nicht vorgesehen. Die Pressemitarbeiterin, die im Inneren der Wohnung, hinter dem Vorhang, der ihr Bett von den anderen abtrennte, immer einen Schal des Murray-Clans trug – das bedeutete eine offiziell verbotene Zurschaustellung nationaler Symbole –,

studierte die Mitteilung der Nachrichtenagentur.

Fast zwei Jahre lang war es zu Tausenden Fehlbuchungen gekommen. Das Vertrauen in die Royal Bank of Scotland, die fast ausschließlich im Besitz Großbritanniens war, war durch den Skandal um manipulierte Libor-Zinssätze und die Verluste der Anleger durch den Zusammenbruch des Computersystems ohnehin nicht das stärkste.

Der Boss der Bank, Fred Goodwin, Banker des Jahres 2003, war zum Ritter geschlagen worden, ehe seine Bank kollabierte. Er war ein solider Brexit-Befürworter gewesen.

Das nur am Rande.

Die Bank war dann vom Volk gerettet worden.

Normal.

Und nun wusste die Pressemitarbeiterin, dass es vielleicht der eine Skandal zu viel wäre, würde sie die monatelangen Fehlbuchungen veröffentlichen. Die Massen könnten

Angst

um ihr Erspartes kriegen.

So lausig die Summen auch sein mochten.

Die Pressemitarbeiterin bereitete einen Text vor. Sie würde ihn als Eilmeldung in die Druckerei liefern. Wo ein Freund von ihr arbeitete,

falls er noch nicht verhaftet worden war.

Wie

die Aktivistin,

Einkommen: unerheblich

Familienzusammenhang: lebt in Wohnwagen-WG (hat gelebt)

Politische Ausrichtung: linksextrem

Alter: 22

Gesundheitszustand: hoffnungslos

die zur gleichen Zeit in ihrer Zelle

in Frankreich saß. Oder kauerte. Oder lag.

Sie lag oder kauerte oder saß in absoluter Dunkelheit, in kompletter Stille, die in ihren Ohren das Rauschen des Blutes wie einen Wasserfall klingen ließ.

Die Aktivistin war in einem linken Organisationsbüro tätig gewesen, sie plante Demonstrationen gegen Kernkraft und Rodungen für den Kohleabbau, und wenn es ihre Zeit erlaubte, war sie vor Ort – während einer Sitzblockade vor einer Bank, die in fossile Brennstoff-Fonds investierte, war sie festgenommen worden. Die Anklage wurde ihr noch auf der Wache vorgelesen. Hausfriedensbruch, Landesverrat, Vorbereitung terroristischer Aktivitäten.

Und nun

war sie in der Dunkelheit. Ohne jedes Zeitgefühl. Die Zelle hatte kein Fenster, sie konnte den Verlauf des Tages nur durch die Essensausgabe bestimmen. Die Nahrung wurde durch eine Klappe in der Tür in die Zelle geschoben, ohne dass sie einen Menschen erkennen konnte. Vielleicht wurde sie von Robotern gefüttert, oder die Welt war untergegangen. Die Aktivistin hatte alle Stadien durchlaufen, die eine Einzel- und größtenteils Dunkelhaft mit einem menschlichen Gehirn veranstalten. Panik, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Depression, um nur ein paar zu nennen. Keiner in der eventuell untergegangenen Welt wusste, wo sie warum saß.

Sie hatte von diesem Gefängnis auch nichts gewusst. »Es gab begeisterte Berichte in den Nachrichten über die klimaneutral 3-D-gedruckte Haftanstalten mit mehr Raum für eine menschenwürdige Unterbringung«, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende des börsennotierten Unternehmens. Applaus, hurra. Die Aktivistin kannte keinen, der je in diesem neuen, gedruckten Gefängnis gewesen wäre. Oder besser – keine, die darüber hätte berichten können, wurde jemals wieder in der sogenannten Freiheit gesehen –

Die Aktivistin befühlte die Kunststoffwände, auf der gegossenen Pritsche lagen eine Decke und ein Kissen, es gab ein Klo und ein Waschbecken. Vielleicht hatte sie beide auch verwechselt.

Und in der Dunkelheit gab es kein Geräusch, kein Klappern, Rasseln, woher auch. Wie auch. Nach den normalen Etappen der Verzweiflung hatte die Aktivistin begonnen, sich um ihren Körper zu sorgen. Sie hatte keine Ahnung, was sie aß, vermutete aber, dass es proteinhaltiger Brei aus Insektenmasse war. Wie viel Kalorien das wohl hatte?

Die Aktivistin war im Krieg gegen ihren Körper, seit die Pubertät eingesetzt hatte. Sie war Feministin und wusste, dass sie sich lieben sollte, aber das war irgendwie nicht gelungen, weil sie zu dick war, um in Size 0 zu passen, und zu dünn, um zu betonen, dass sie ein Opfer von Bodyshaming wäre. Die Aktivistin hatte Bayer jährlich zu ihren 1,75 Milliarden Euro Gewinn, den der Konzern mit Verhütungsmitteln verdiente, unterstützt. Sie hatte dadurch 10 Kilo zugenommen, Depressionen bekommen, zehnmal eine tiefe Venenthrombose überlebt und einen leichten Schlaganfall dito. Dafür war sie sexuell frei gewesen, hatte beim Verkehr nie Orgasmen gehabt und dennoch zwei Abtreibungen. Bevor das verboten worden war.

Und nun, im Dunkel, dachte sie, würde all ihre Körperarbeit zunichtegemacht werden, und wenn sie wieder ans Licht kommen würde, irgendwann, würde sie Jahre brauchen, um wieder in Shape zu kommen.

Aber weiter –

denn

zur gleichen Zeit hatte Maggy in Corcapolo große Kreuzfahrtschiffe in allen Hafenstädten gemietet.

Der Kreuzfahrtindustrie ging es nicht mehr so gut, seit die Menschen es sich nicht mehr leisten konnten, diesem ungebremsten Urlaubsspaß an Bord nachzugehen. Und jene, die noch Urlaube bezahlen könnten, die ProgrammiererInnen und WissenschaftlerInnen, verachteten Kreuzfahrten. Das Übertreten der Hoheitsgewässergrenzen wurde auch immer komplizierter. Na ja,

da, zum Beispiel –

Peter und Ingrid

Tick: vervollständigten die Sätze des anderen

Einkommen: seit der Rente nicht mehr ausufernd

Politische Ausrichtung: Monarchisten

Hobby: Sissi-Filme und Reichsflaggen

Gesundheitszustand: hoffnungslos

aus Österreich, die waren früher begeisterte Kreuzfahrende. Gewesen.

Zusammen mit neunundzwanzig Millionen anderen in jedem Jahr, die sich mal richtig verwöhnen lassen wollten. Im Kreis von Menschen, die sie nach einigen Tagen kannten, in einem Design, das sie ein wenig an die Campingmobile und Spielhallen erinnerte, in denen sie ihre beste Zeit, die Jugend, verlebt hatten. Mit Essen rund um die Uhr, so viel sie wollten. So ein Schiffchenurlaub bedeutete – Überschaubarkeit, Sicherheit, keine fremde Sprache, kein exotisches Essen, keine Ausländer. Also – fast.

Es war ein wenig, wie in einem Bett spazieren gefahren zu werden, mit festen Zeiten fürs Abendbrot an weiß gedeckten Tischen und mit Angestellten, die sie schlecht behandeln konnten für kleines Geld. Es gab Angebote für Homosexuelle, für Pokerspieler, Jugendliche, Tischtennisspieler, zunehmend auch für Gesundheitsbewusste und Schlemmermäulchen. Da waren Schiffe mit Fitnessparcours und Tenniscourts, Themenreisen, Mottospaß für gutes Geld –Transport, Unterkunft, Nahrung, Unterhaltung vor ständig wechselnden Kulissen. Gab es irgendwo auf der Welt Unruhen, was täglich passierte, waren die Schiffe flexibel in der Änderung ihrer Route.

Achttausend Passagiere. Im Falle einer Havarie –

na, wer wird schon immer vom Schlimmsten ausgehen. Peter und Ingrid hatten nie an den Tod auf See gedacht, sie genossen die eingeborenenfreien Grundstücke, die die Reedereien in Ländern mit suboptimalem Pro-Kopf-Einkommen mieteten, um den Passagieren ein Stück authentischen Urlaubsspaß zu gönnen. Wie in der gesamten Tourismusbranche hatten die Märkte das Geschäft auch hier gerecht auf vier Konzerne verteilt –

Die Carnival Corporation, Royal Caribbean Group, Norwegian Cruise Line und MSC Cruises, die Nummer eins machte in einem Jahr 16,49 Milliarden Euro Umsatz, die Kosten für die Infrastruktur, die Gewässerverschmutzung und den CO 2 -Ausstoß wurden an die Allgemeinheit ausgelagert. Nur fair. Die beste Erholung für Peter und Ingrid.

Der totale, absolute Ausschluss von Langeweile.

Aber – seit eineinhalb Jahren bekamen sie all die Berichte im Internet. Die von grauenhaften Seuchen auf Kreuzfahrtschiffen handelten. Von auf hoher See gestrandeten Kreuzfahrtschiffen, in denen den Menschen außer Kannibalismus kein Ausweg blieb.

Grauenhaft. Aber auch

lustig,

denn zur gleichen Zeit hatte Maggy in Corcapolo die Kreuzschifffahrt, die sie zuvor mit Seuchenlegenden und Kannibalismus-Filmen ruiniert hatte, einer neuen Aufgabe zugeführt.

Sie hatte die Brigaden in den Hafenstädten mit gefälschten Papieren versorgt.

Innerhalb von wenigen Tagen waren Zulieferfahrzeuge, Putzkolonnen und HandwerkerInnen aktiv gewesen und hatten die Schiffe mit Solarstrom und Salzwasserfilteranlagen, mit Saatgut, milchgebenden Tieren, Nahrung, Medizin und Instruktionen ausgestattet.

Da warteten sie nun auf ihre neue Bestimmung,

In den europäischen Ländern ohne direkten Seezugang waren Zubringerbusse von Maggy organisiert worden. Wozu nur.

Maggy strich den Punkt: Schiffe – von der inneren Liste.

Es war Nachmittag.

Und –