immer noch 10 Tage vor dem Ereignis,

als Pjotr nach Corcapolo zurückkehrte und keiner es bemerkte. Das Steinhaus, in dem Pjotr gewohnt hatte, sah aus wie bei seiner Flucht.

Das Bett ungemacht, der Müll stank. Es war stickig und

Pjotr war während der Rückfahrt so nervös gewesen, dass er ein paarmal anhalten musste, um ruhiger zu werden. Er hatte sich vorgestellt, wie alle ihn umringten, Rachel weinte, die anderen auch, und dann würden sie ihm einen Blumenkranz aufsetzen und einen Kuchen hätten sie gebacken.

War nicht.

Auf der Wiese vor dem Haus lagen leere Verpackungen und Flaschen, eine Tischdecke am Boden, Stühle dito. Es sah aus, als hätte hier eine riesige Party stattgefunden. Aber mit Zombies.

Pjotr betrat den Container.

Da waren alle tot. Der Geruch war eine Mischung aus Käse, Schweiß und Zwiebeln. Oder etwas Schlimmerem. Don, Rachel, Karen, die gerade den Start zur TikTok-Kampagne gaben, sahen kurz auf. Pjotrs Anwesenheit schien ihnen keine Mitteilung zu machen.

Nur Rachel schaute ihn eine Sekunde länger an, ihr Mund öffnete sich,

jemand schien zu Hause in ihrem Hirn und es schien, als versuchte sie Pjotrs Anwesenheit in einem der hektisch arbeitenden Areale ihres Gehirns unterzubringen.

Karen sagte, ohne ihn noch mal anzusehen,

»Setz dich, mach die Tür zu – kannst du die Koordinierung der TikTok-Leute übernehmen?«

Pjotr nickte und statt der erwarteten Geigen lief eine Revolutionshymne.

»Und, wie war’s?«, fragte Ben.

»Ich hab eine Pause gebraucht.« Sagte Pjotr.

»Ja, wer nicht«, sagte Ben und wollte sich gerade mit Karen über ein Drohnenproblem unterhalten.

»Habt ihr die BlackRock-Nummer gesehen?« Fragte Pjotr.

BlackRock war ein Buzzword, die Freunde sahen von den Rechnern auf.

Pjotr erzählte, wie er erst die Fährten zu den kommunistischen Umsturzplänen der Unternehmensleitung gelegt hatte. Eine Woche später hatte er die gelöschten Grundbucheinträge, die nur Aktiengesellschaften und juristische Personen betrafen, veröffentlicht und im Netz die Reddit-Zocker und Trolle für den Sturz des Unternehmens begeistert.

Die danach einsetzenden Massen von Leerverkäufen hatten dem Unternehmen fast den Rest gegeben.

Nicht einmal Hedgefonds waren mehr bereit, auf wieder steigende Kurse zu setzen.

Schade –

dachte

Leo, der zur gleichen Zeit mit seiner Fußfessel in seiner Londoner Wohnung saß. Ein reizendes Objekt an der Holland Park Avenue. Mit einer großen Terrasse und Zugang zu einem Privatpark.

Er hatte damals eine Affäre mit einem jungen Mann aus adligem Haus, dessen Familie hier in der Nähe eine Villa hatte. Paul hieß er. Und war seit ein paar Jahren tot.

Leo erinnerte sich an früher. An das Gefühl, dass alles vor ihm lag. Als er noch ein unbedeutender, unter Anklage stehender Hedgefonds-Manager war. Bevor er seine reiche Frau kennenlernte, die jetzt die Scheidung eingereicht hatte.

Hagen hatte sich zurückgezogen. Zu viele wichtige Kunden könnten auf einen angeblichen Kontakt zu einem Kommunisten negativ reagieren.

In Leos Kreisen verzieh man vieles, man ging von einer kriminellen Energie aus und nannte es: Cleverness. Oder Finanzverlagerung, Steuervorteile, Cum-ex. Also einfach: Erfolg haben. Das einzige Vergehen, das zum gesellschaftlichen Tod führte, zum Verlust aller Privilegien, war – So blöd zu sein, dass selbst die Gesetze, an denen man mitgewirkt hatte, einen nicht mehr schützten.

Man machte Geschäfte mit Mördern, Nazis und anderweitig psychisch Auffälligen, aber –

Kommunisten waren das Buzzword des Todes.

Die kommunistische Revolution. Die Enteignung. Die rote Gefahr. Es gab nichts, worin sich alle KapitaleignerInnen so einig waren, wie in ihrer Panik vor allem, was nach Kommunismus klang.

Darum unterstützten sie rechtsnationale Parteien, Wehrsport- und Schlägertruppen, Rockerverbände, darum stellten sie Waffen her, arbeiteten an Gesetzen zur Privatisierung der Streitkräfte, sie gerieten in eine Panik, dachten sie an die agilen Kommunisten, die irgendwann den Massen klarmachen könnten, dass Enteignung ein wirklich sinnvolles Konzept für ca. 90 Prozent der Menschen war.

Leo wusste,

auch wenn er mit einer Bewährungsstrafe aus der Sache herauskäme, bliebe ihm nur ein Leben als Rentner. Ein mittelalter Mann, der sein Leben auf der Parkbank vorüberziehen sehen und Tauben den Kopf abbeißen würde.

Das Einzige, vor dem Leo je Angst gehabt hatte, war, seine Sterblichkeit zu fühlen. Er hatte nie daran gedacht, dass es irgendwann vorbei sein könnte. Er hatte Macht gehabt, ausreichend finanzielle Mittel, Immobilien, Aktien, ein Flugzeug, er hatte die Aufmerksamkeit der richtigen Menschen nicht einmal genossen und

er hatte es doch nicht gespürt, das kurze Leben.

Seit einigen Wochen lag er in der Nacht wach und rechnete.

Noch zehn Jahre blieben ihm, bevor er ein wirklich alter Mensch wäre. Einer ohne Bedeutung, mit diesen Todesflecken im Gesicht, der von jungen Männern überholt wurde auf der Straße. Unsichtbar.

In diesem Moment flog der erste Stein durch das Verandafenster auf sein Chesterfield-Sofa.

Leo sah hinter seinen Samtvorhängen versteckt auf eine Gruppe von Menschen mit Endgeräten. Es waren die Gamer, die seit Wochen durch die Städte zogen und Kapitalisten jagten. Sie waren immer militanter geworden.

Die Leute

in England, denn sie glaubten die Erzählung nicht mehr.

Dass irgendwelche Flüchtlinge oder Muslime, dass Transmenschen oder Frauen schuld waren. Obwohl, warte, na ja, Frauen schon noch, aber sie glaubten die verdammte Erzählung nicht mehr, und dann wird es heikel. Wenn die Menschen das Märchen nicht mehr glauben, das sie seit dem Kindergarten gelehrt bekamen, falls sie sich einen Kindergarten leisten konnten, oder sonst in den acht Jahren Grundschule, die jetzt allen zustanden, die nicht über die Mittel für eine bessere Bildung verfügten. Wobei. Bessere Bildung bedeutete: noch mehr Märchen vom Wettbewerb, von der Leistungsgesellschaft, vom Bruttoinlandsprodukt, dem Arbeitsmarkt, den ArbeitgeberInnen, den ArbeitnehmerInnen, der Eigenverantwortung, der Leistung, die sich lohnt,

aber.

Was soll denn da eigentlich der Lohn sein?

Hier ist kein Lohn, brach es aus einer Frau, die mit anderen GamerInnen

vor dem Königspalast stand. Auch hier flogen die ersten Steine. Auch hier musste kurze Zeit später die Polizei einschreiten. Wie unzutreffend dieses Wort, da ein Schreiten, ein elegantes, mit den martialischen Uniformen sehr unwahrscheinlich ist.

Nun, auch die PolizistInnen waren früher motivierter, BürgerInnen zusammenzuschlagen.

Das lag eventuell an der

Apple TV Set Box, die allen geblieben war, jetzt, da viele nichts mehr besaßen, blieben ihnen doch wenigstens ein Haufen in China oder irgendwo hergestellter Geräte mit vorinstalliertem Verfallsdatum. Sie sparten eher am Essen oder bei der Kleidung, die Menschen, wenn sie sich dafür ein Gerät leisten konnten, das ein Zukunftsversprechen in sich trug. »Kauf das Gerät, es ist glänzend, neu und smart. Also alles, was du nicht bist, mit deinen seltsam riechenden Lebensumständen.« Auf Apple TV konnten sich die Menschen mehrheitlich einigen, und egal welche App sie in ihren Bildschirmen ansteuerten, YouTube oder die lokale Fernsehstation, Netflix oder HBO , erschien doch ein Video, das sie eigentlich nicht hatten sehen wollen. Und das doch – beeindruckend war.

Die bekanntesten Kapitalisten der jeweiligen Länder –

Frau Freia in Deutschland, der König in Spanien,

Bernard Arnault, Françoise Bettencourt-Meyers, Karl Albrecht jr., Giovanni Ferrero, Amancio Ortega –

wurden von einer Gruppe höflicher Maskierter aus ihren Anwesen getragen. Von ihren Jachten, aus den Salons und Parks.

Danach übernahmen die Maskierten, zogen ihre Masken ab, und welche Überraschung – Es waren normale Menschen, ehemalige Bauarbeiter, Lehrerinnen, Krankenpfleger, die gut gelaunt von der neuen Umgebung Besitz nahmen.

Danach wurde der Slogan #RemoteCodeExexcution

eingeblendet.

Und egal, was die Menschen dann sahen, womit sie sich betäubten, die wunderbaren Bilder waren in ihr System eingespeist. So wie das Schläferprogramm, das einige Apple-MitarbeiterInnen bei einem tvOS -Update aufgespielt hatten. Die Geheimdienste nannten es Implant .

Spionagesoftware, die über permanente Backdoors in Router von Juniper und Huawei geschleust wird. Oder in

die Firewalls, oder in Dell-Geräte direkt per Internet oder USB -Stick, oder

das Tool Sparrow II , das sich per Drohnen anwenden lässt. Oder das System Nightstand, mit dem sich aus einer Entfernung von bis zu dreizehn Kilometern ein WLAN -Spähprogramm auf Windows-Rechnern aktivieren lässt. Oder durch präparierte USB -Stecker, manipulierte Monitorkabel oder Tastaturen, die sich ohne Internetverbindung per Radar von außen abhören lassen. Oder durch Festplatten der Hersteller Western Digital, Seagate, Maxtor und Samsung, die mit einem Software-Implant bestückt werden. Zurück zum Thema. Jetzt ist es aber gut.

Die ZuschauerInnen würden das Video einen »weiteren Baustein im Kunstwerk der eigenen Radikalisierung« nennen.

Dazu

gehörte auch das Konzert des Boyband-Boys zur gleichen Zeit

im Dionysostheater in Griechenland.

Der Höhepunkt der Europatournee. Achtzehntausend Jugendliche waren live anwesend, sie filmten den Auftritt und übertrugen ihn in Echtzeit ins Netz. Parallel dazu wurde der Abend professionell von sechs Kameras aufgezeichnet und live in die Millionen Abonnentenkanäle der Band übertragen. An die achthundert Millionen ZuschauerInnen saßen vor ihren Endgeräten und wohnten dem Ereignis bei, dass sie in Euphorie und Anbetung vereinte. Nach dem Konzert, vor der Zugabe, sprach der Boyband-Boy zu seinen Fans. Das war –

nicht vorgesehen.

Das Playback verstummte, seine Bandkollegen waren verwirrt.

»Liebe Fans, da draußen vor der Bühne und an den Geräten. Es ist großartig, dass ihr uns zuhört.«

Sagte der Boyband-Boy und der mitreisende Agent atmete wieder. Eine spontane Danksagung, mochte er denken. Nicht abgesprochen, aber irgendwie noch niedlich.

»Ihr werdet alle verarscht«, redete der Boyband-Boy weiter. Und

der Manager griff an die Stelle, wo er ein Herz vermutete.

»Weder können wir singen, noch sind wir Freunde. Keiner ist euer Freund. Mein Leben ist ein PR -Film, um euch ruhig zu halten, und ihr seid verdammter Content, mit dem ein paar weiße Säcke mit ihren Plattformen reich werden. Ihr werdet nicht reich werden. Ihr werdet noch schlechter leben als eure Eltern. Ihr könnt nichts kaufen, da gibt es nichts mehr, was euch gehören wird. Im besten Fall könnt ihr etwas leihen, was euch weggenommen wird, wenn ihr nicht mehr zahlen könnt. Ihr besitzt keine Musik, keine Filme, ihr habt ein Handyabo und vielleicht schaffen es einige, Schulden zu machen bei einer Bank, die euch eine Wohnung leiht. Ihr werdet keine Familie haben können, außer ihr wollt in einem der Slums wohnen. Ihr werdet nie verreisen können, außer ihr fahrt per Anhalter in die nächste Stadt.

Ihr seid von den reichen Idioten in unserem Land als Ausschuss abgestempelt. Folgt meinen Kanälen, ladet euch RCE auf eure Handys, solange ihr sie noch habt.«

Hektisch wurde in der Technikabteilung des Stadions das Acoustic Hailing and Disruption System, kurz AHAD , zum Einsatz gebracht. Ein Patent von Erfinder Christopher Brown, im Besitz des US -Militärs. Die Schallwellen eines Menschen wurden mit Parabolantennen und Richtmikrofonen aufgefangen, verstärkt und mit 200 Millisekunden Verzögerung zurückgesandt. Die Technik wirkte in hundert Prozent der Einsätze perfekt. Der Sprechende war dermaßen verwirrt, dass es ihm unmöglich war, noch ein Wort zu sagen. Das war weitaus PR -freundlicher, als dem jungen Megastar den Ton im Mikrofon abzuschalten.

Als die Security versuchte, die Bühne zu stürmen, wurde sie wütend mit Stofftieren, Schlüpfern und Energydrink-Dosen beworfen.

Der Boyband-Boy war verschwunden.

Die Bilder, auf denen Security-Mitarbeiter kleine Mädchen zusammenschlugen, kleine Jungen abführten, wurden live übertragen.

Sie taten nur ihren Job,

aber

der Security-Mitarbeiter

Gesundheitsstatus: Reizdarm

Hoffnung: Pension

Aktueller psychischer Zustand: panisch

Hobby: Vögel betrachten

Verwertbarkeit für die Märkte: leider nein

in Griechenland fühlte sich nicht mehr wohl.

Seit er die Filme auf dem RCE -Chat gesehen hatte, richtig ein Fan war er geworden von all den spannenden Nachrichten, fragte er sich, warum er irgendwann zur Polizei gegangen war. Nein, falsch, das wusste er. Alle Berufe, die ihm mit seinen mäßigen Leistungen ansonsten offengestanden wären, hatten mit dem Verpacken und dem Transport von Konsumgütern zu tun.

Also Polizei. Gute Uniform. Feste Strukturen, Waffen, Ordnung, Staatsmacht. Klang gut für ihn. Am Anfang hatte er

Junkies gejagt und Menschen inhaftiert, die aus Verzweiflung und Hass gegen das Leben, das ihnen zugedacht worden war, sogenannte Verbrechen begingen, also Steuerhinterziehung. Kleiner Scherz, sie machten also Trickdiebstähle, Einbrüche und handelten mit Drogen. Der Security-Mitarbeiter hatte viele Einsätze in den Vierteln gehabt, in denen AsylantInnen auf ihre Ausweisung warteten und für griechische Dealer gefälschte Label-Handtaschen verkauften.

Fast 80 Prozent seiner Tätigkeit beinhaltete den Kampf gegen Drogen, DrogenkonsumentInnen, kleine Händler, Hanfanbauende. Auf seiner neuen Lieblingsseite hatte er gelesen, dass der angebliche Kampf gegen die Drogen meist nur eine Rechtfertigung für Gewalt gegen Arme war. Also fast immer auch ein rassistischer Kampf. Die Mafia, die Clans, das organisierte Verbrechen, all diese sorgsam gewählten Begriffe wären bedeutungslos geworden, wären Drogen legalisiert in Apotheken erhältlich gewesen. Saubere Ware, alterslimitiert, Millioneneinnahmen für die Staatskassen, aber wogegen hätte man dann kämpfen sollen.

Seit ein paar Jahren war der Polizist in der Prävention und im Bereich Security bei Konzerten tätig, wie fast alle seiner KollegInnen. Sie nutzten Gotham, die das Netz nach GefährderInnen durchsuchte. Also drogenmissbrauchenden, dealenden Subjekten, die aus Versehen alle immer in Gettos lebten.

Und KommunistInnen. Als der Security-Mitarbeiter seine Mutter vorlud, weil sie in einem Blog über die Chorproben berichtet und ein Video gepostet hatte, in denen die stattlichen Frauen die neue Revolutionshymne sangen, wurde er – unsicher.

Noch unsicherer wurde er nach der Ansprache des obersten Befehlshabers Konstaninos Floros zusammen mit einer Gruppe Prominenter, wie Zach Galifianakis, Vicky Leandros und Sakis Rouvas, die vom kommenden Aufstand sprachen. Und nun, da er mit den Kollegen ein Konzert stürmte, auf dem fast nur Kinder unter sechzehn waren, als er aus Versehen ein ungefähr achtjähriges Mädchen mit dem Knüppel verletzte, wusste er, dass er keine Staatsgewalt mehr sein wollte.

Er sah, wie ein Sänger der Band über einen Nebenausgang verschwand. Er folgte ihm auf die Straße und blickte ihm nach, wie er auf einem Moped hinter einer Person mit einem Kapuzenpulli saß, und verschwand

in

Sicherheit.